Was ist ein Mezzosopran?
Auf den ersten Blick sieht es ganz einfach aus. Die Einteilung der Damenstimmen erfolgt nach dem Lehrbuch in drei Hauptgruppen, also Sopran, Mezzosopran und Alt. Dazu etliche Differenzierungen wie Koloratursopran (besonders hoch) und Kontraalt (besonders tief), aber im Großen und Ganzen: alles klar! Doch, und wie könnte es nach einer solchen Einleitung auch anders sein, in der Praxis ist alles viel komplizierter. Denn: Was ist ein »echter« Mezzo? Wo fängt er an – und wo hört er auf? Entlang des März-Spielplans und seiner Sängerinnen begeben wir uns auf die Suche.
Ein Mezzosopran, in wortwörtlicher Übersetzung ein »halber Sopran«, liegt, so die gängige Lehre, etwas tiefer als ein Sopran. Wobei… Auch eine Mezzosopranistin kann soprangleiche (Spitzen-)Töne oder auch so manche Sopranpartie singen, die Übergänge zwischen den Fächern sind fließend – auch zum darunterliegenden Alt. Vor allem aber: Die Sopran-Mezzo-Unterscheidung in der uns bekannten Form existierte lange Zeit nicht, viele Komponisten wie Mozart sprachen nur von Sopranen, und auch Richard Wagner bezeichnete etwa seine Fricka im Rheingold (heute für uns eine »klassische« Mezzosopranrolle) als Sopran. Vielleicht ist es doch gar nicht so sehr eine Frage der Höhe?
Versuchen wir zunächst eine medizinische Annäherung an das Thema. Kann man – mit richtiger Ausbildung – an den Stimmbändern erkennen, ob man eine Sängerin vor sich hat? Womöglich gar das jeweilige Stimmfach ersehen? Die Antwort von Dr. Reinhard Kürsten, dem bekannten Wiener HNO-Facharzt und gefragten Spezialisten, ist so kurz wie ernüchternd: nein. Weder Beruf noch Stimmfach sind ersichtlich, Form und Beschaffenheit der Stimmbänder verraten nichts über die tatsächliche Singstimme. »Manche glauben, je kürzer das Stimmband, desto höher die Stimme – wie bei einer Gitarrensaite. Aber so ist es nicht! Ich kann leider nach einer Untersuchung nicht sagen: Sie sind ein dramatischer Mezzo und Sie ein lyrischer Sopran. Das muss man für sich herausfinden.« Um das persönliche Finden und In-sich-Hineinhören geht es also. Dazu das Ensemblemitglied Daria Sushkova, die im März die Olga in Tschaikowskis Eugen Onegin singt: »Es kommt auf das Timbre der Stimme, den Charakter und den Komfort des Klangs an, Sänger sollten immer auf die Natürlichkeit und Freiheit des Klangs achten, in welchem Bereich und in welchen Rollen sich die Stimme lebendiger öffnet.«
Wie aber kam es tatsächlich zur Trennung beziehungsweise zum Mezzo-Fach? Fragen wir den Musikhistoriker Arnold Jacobshagen: »Die Verwendung der Bezeichnung Mezzosopran ist in der Praxis und in der Theorie nicht einheitlich. Sie kommt schon in Texten aus dem frühen 17. Jahrhundert vor, spielte aber in der Opernpraxis lange Zeit keine Rolle. Mozart und auch noch Rossini und Donizetti schrieben ihre Opernrollen für einzelne Sängerinnen, nicht für abstrakte Stimmfächer.« Es ging also um die individuelle Stimme! Oder, wie es der Sänger und Opernstudio-Leiter Michael Kraus formuliert: »Die Komponisten waren Schneider. Sie fragten: Wen habe ich in meiner Besetzung – und schrieben dann genau für diese einzelne Stimme.« Und Kraus verweist gleich auf ein historisches Beispiel: »Caterina Cavalieri war Mozarts Konstanze in der Uraufführung von der Entführung und er verpasste ihr das hohe D. Sechs Jahre später sang sie die Donna Elvira in der Wiener Erstaufführung von Don Giovanni. Damals allerdings hatte sie bereits Höhe verloren, und so notierte Mozart in die für sie geschriebene Arie »Mi tradì« als höchste Note ein B.« Sopran? Mezzo? In der Praxis geht beides!
Doch hatte die Trennung in Mezzosopran/Sopran auch mit der Verfestigung eines Opern-Repertoire-Gedankens zu tun? Je standardisierter der internationale Spielplan, desto klarer die Fächer? Ja, meint Jacobshagen. »Tatsächlich war die Etablierung eines festen Repertoires von häufig gespielten Opern entscheidend. In Italien setzt das bei Rossini ein, und man könnte den Barbier von Sevilla als die erste Repertoireoper bezeichnen. In dem Maße, wie sich ein internationales Standardrepertoire entwickelte, wurde es im Laufe des 19. Jahrhunderts notwendig, einheitliche Bezeichnungen zu verwenden.« Wobei die genauen Definitionen und Zuordnungen weder ganz starr noch stets treffend sind, sondern oftmals nur eine Richtung weisen. Okka von der Damerau, die im März die Ježibaba in Rusalka singen wird, wird auf ihrer Webseite als Mezzo ausgewiesen, verfügt aber über das Glück einer sehr langen Stimme, also einer, die große Tiefe wie auch fulminante Höhen bietet. Ungewöhnlich, wie sie selbst meint, und ein Geschenk. Gleichzeitig aber auch eine Herausforderung, denn gerade mit einer aus dem üblich Gewohnten fallenden Stimme müssten viele erst lernen umzugehen. Ob Erda und die Walküren-Brünnhilde: beides singt Damerau. »Das funktioniert, weil ich eine gute, natürlich zugängliche Tiefe habe. Immer wieder höre ich, dass Kollegen sagen: Wenn du so viel in die Höhe singst, wirst du dir die Tiefe ruinieren. Aber ich habe sie einfach und sie bereitet mir keine Mühe.« Also kein entweder – oder! Mehr noch: Für Damerau geht es gerade um die Variationen, um die Offenheit und Weite. »Ich denke nicht in Fächern, sondern versuche, meine Stimme maximal flexibel zu halten. Sowohl, was ihren Umfang anbelangt als auch, was die Beweglichkeit betrifft. Eine schlanke Führung und dramatische Kraft: es braucht beides.«
Ein Blick in die Operngeschichte zeigt, dass erst nach und nach ein strenges Fachdenken aufkam. Eine Maria Jeritza sang ganz natürlich Micaëla und Carmen, Salome und Octavian, eine Lilli Lehmann Königin der Nacht und Carmen. Dem wirkte allerdings nach und nach ein stetig um sich greifender Organisationswille entgegen: »Das System der Gesangsfächer wurde im späten 19. Jahrhundert immer weiter ausdifferenziert, weil man nicht nur Stimmlagen, sondern auch dramatische Rollenfächer genau klassifizieren wollte. Rudolf Kloibers Handbuch der Oper (1951) unterscheidet 25 Stimmfächer, davon allein neun für Sopran und Mezzosopran«, meint Jacobshagen. Wobei: »Jede Sängerin kennt natürlich ihre eigene Stimme am besten, und die großen Primadonnen konnten sich ihre Rollen aussuchen. Maria Callas hatte einen Stimmumfang von drei Oktaven und hätte im Grunde alle Sopran-, Mezzo- und Altpartien singen können. Auf der Bühne hat sie nur Sopranrollen verkörpert, Carmen und sogar Altarien aus Orfeo ed Euridice und Samson et Dalila kamen nur im Studio oder Konzert hinzu.«
Und natürlich gibt es auch wesentliche Unterschiede im Mezzofach, insbesondere, was die Komponisten betrifft. Giuseppe Verdi etwa, so erzählt Damerau, hat ausgesprochen kenntnisreich für Sängerinnen geschrieben. »Er ist einfach gut für meine Stimme, daher singe ich seine Rollen auch so gerne.« Wobei es selbstverständlich auch hier um das Wie geht: »Selbst wenn es exponierte Töne gibt – man sollte alles aus dem Belcanto herauskommend singen. Diese alte italienische Schule ist ebenso meine Idee vom Wagner-Gesang, zumindest als Ausgangspunkt.« Ganz ähnlich beschreibt es Sushkova, die Unterschiede zwischen dem slawischen und dem italienischen bzw. deutschen Mezzofach ortet: »Die Verschiedenhaftigkeit liegt in der Ausbildung der Stimme und in den Besonderheiten der Sprachkultur. Aber wir alle streben nach einem Referenzklang, nach Belcanto.«
Die Trennung der Fächer war auch mit einem verstärkten Typendenken verbunden, ebenso wie den Stimmfarben mehr und mehr Charaktereigenschaften zugeordnet wurden. »Man dachte immer stärker auch in Rollentypen!«, meint Jacobshagen. »Dabei muss man für das 19. Jahrhundert auch das Verschwinden der Kastraten im Hinterkopf behalten. Anstelle der Kastraten sangen nun Frauen in Mezzosopran- oder Altlage den ›Musico‹, das heißt Helden- und zugleich Hosenrollen, etwa Rossinis Tancredi oder den Romeo in Bellinis I Capuleti e i Montecchi. Die hohe weibliche Stimme wurde zugleich auch mit Reinheit und Jungfräulichkeit assoziiert, die Mezzolage im Laufe der Zeit eher mit Rivalität, Anzüglichkeit, auch Fremdheit (etwa bei Carmen). Cenerentola ist ein Sonderfall, denn Rossini schrieb die Partie (genau wie die Rosina im Barbier) für Geltrude Righetti-Giorgi, die eine enorme Tiefe besaß.«
Eine, die schon sehr früh »ihr« Fach entdeckte, war Alma Neuhaus, ein Mitglied des Opernstudios der Wiener Staatsoper. Schon mit 18 wurde ihr klar, dass sie sich als Mezzosopran fühlt: »Ich habe einfach auf meine Stimme gehört und darauf geachtet, welches Repertoire sich richtig anfühlt, welche Arien passen. Es ging mir darum, meiner Stimme zu folgen. Und ich hatte das Glück, dass mir mein Lehrer während des Studiums geholfen hat, meinen Weg zu erkennen.« Nun kann aber gerade die Rosina in Der Barbier für Kinder, die sie im März singt, von Sopranen und Mezzosopranen interpretiert werden. Was macht den Unterschied? Neuhaus: »Es ist eine Frage des Geschmacks! Ein Sopran kann höhere Koloraturen einsetzen, ein Mezzo gibt der Figur andere Farben – und damit einen anderen Charakter. Es geht also um die Frage, auf welche Art und Weise Rosina ihre Stärken ausspielt und wie die Figur gezeichnet sein soll.« Mit anderen Worten: Keine Frage des Ob, sondern des Wie! Ebenso verhält es sich mit der Zerlina in Don Giovanni, eine Partie, die ebenso von Mezzos und Sopranen gesungen werden kann. »Ich bin mit Sopranistinnen wie Reri Grist und Jeannette Pilou in dieser Rolle aufgewachsen«, meint Kraus. »Und als ich die Mezzosopranistin Teresa Berganza erstmals als Zerlina hörte, war es für mich wie eine Fehlbesetzung. Heute hingegen sagt hierzulande jeder: ein Mezzo!« Es ist also immer auch eine Frage der Hörgewohnheit. Sagt auch Alma Neuhaus, die im Februar die Zerlina beim Staatsopern-Gastspiel in Paris sang: »Für mich war Zerlina immer eine Sopranrolle. Bis ich nach Wien kam und sie hier als Mezzo hörte. Derselbe Fall wie die Rosina: Es ist wunderbar, dass sie sowohl–als auch besetzt werden kann. Denn so hat jede die Chance, die Geschichte über ihre Stimme auf andere Weise zu erzählen und einen jeweils unterschiedlichen Charakter zu formen.« Es geht also, und das bestätigt auch Cecilia Bartoli in einem Interview, besonders auch um eine Schattierung. Denn: »Der Mezzosopran ist eine Farbe, eine Farbe zwischen dem Stimmfach eines Soprans und dem eines Alts, so wie ja auch der Bariton eine Stimme zwischen Tenor und Bass ist.«
Doch kann man innerhalb des Mezzofaches seine Stimme einfach so mehr in lyrische oder dramatische Bereiche steuern? Sushkova: »Ich glaube, dass die Natur bereits alles für uns bestimmt hat. Unsere Aufgabe ist es, unsere Stimme richtig zu entwickeln. Und diese Entwicklung hängt davon ab, wie sehr wir sie kennen. Ich glaube, je wohler man sich in einer Partie fühlt, desto besser und richtiger ist sie! Wie man so sagt: Man kann die Natur nicht betrügen.«
Doch woran erkennt man, dass man betrogen und dann doch eine Grenze überschritten hat? Wo wird es stimmlich heikel? Damerau: »Man braucht immer Leute, die einem Feedback geben. Pianistinnen oder Lehrer, je nachdem. Und mit der Erfahrung erkennt man seine Grenzen. Es darf aber niemals so weit gehen, dass man beim Singen heiser wird!« Auf Dauer »gegen« seine Stimme zu singen kann jedenfalls Folgen haben. Und noch einmal der Arzt Reinhard Kürsten: »Wenn Sie kurzfristig etwas singen, das Ihnen ›nicht in den Kehlkopf passt‹, werden Sie müde, es tut weh und Sie werden heiser. Machen Sie das permanent, dann geht aufgrund der Überforderung Ihr gesamtes Stimmsystem kaputt. Reden können Sie dann schon noch, aber nicht mehr – gut und schön – singen.« Auch ein laufendes Übertrainieren funktioniert nicht, mehr noch: es schadet. »Eine Sängerin, die für die Kraftkammer Anabolika nahm, hat sich damit ihre Stimme ruiniert. Es gibt also weder ein legales noch illegales Doping für die Stimme. Sondern es ist eine Frage von Technik, richtigem Training und Regeneration«, so Kürsten. Michael Kraus stimmt dem zu, formuliert es praxisnah und pointiert: »Wenn man das Richtige tut, merkt man es. Wenn man aber ein Leben lang auf Zehenspitzen geht, verbaut man sich die Füße.«