Was bedeutet Freiheit heute?
Kirill Serebrennikov debütierte als Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner an der Wiener Staatsoper 2021 mit Wagners Parsifal. War er damals noch der Willkür des russischen Regimes ausgeliefert, das ihm mit fadenscheinigen Begründungen die Ausreise verweigerte, ihn mit Gefängnishaft bedrohte und ihm nur die Arbeit per Videoliveschalte gestattete, so gelang es ihm in der Zwischenzeit – kurz nach der vollumfänglichen Eskalation des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine – Russland zu verlassen und in Westeuropa zahlreiche Regiearbeiten in Film, Schauspiel und Oper zu realisieren. Zuletzt brachte er bei der Ruhrtriennale LEGENDE zur Uraufführung, nach Motiven aus der Welt des georgischen Filmregisseurs Sergey Paradjanov. Nun ist er seit Mitte August in Wien vor Ort, um Verdis Don Carlo zu inszenieren. Produktionsdramaturg Sergio Morabito hat Serebrennikovs Gedanken zu dessen Annäherung an die Partitur hier aufgezeichnet.
Verdi macht es der Regie nicht leicht. Seine Opern szenisch sinnvoll zu interpretieren, ist schwer, und die Gefahr, dass man sich dabei in eine konzeptuelle Sackgasse manövriert, groß. Ein so verdichtetes, hinreißend durchstrukturiertes Meisterwerk wie Don Carlo ist fast so etwas wie ein Selbstläufer, der sich gegen eine ganze Reihe heutiger Regietechniken sperrt. Ich stand und stehe als Regisseur also vor einer großen Herausforderung. Folgende Überlegung wurde zum Schlüssel für mein Konzept. Das Stück ist ein »Familiengemälde in einem fürstlichen Hause«, wie Schiller selbst sein Drama einmal bezeichnet hat. Wir sollten uns also der historischen und sozialen Verortung seiner Geschichte und seiner Charaktere stellen. Aber ich musste meinen eigenen künstlerischen Zugang dazu finden, damit diese Oper zu wirklichem Theater und nicht zu einem »Konzert im Kostüm« wird – wie man szenisch statische und schauspielerisch nicht durchdrungene Opernaufführungen auch nennt. Ich musste also die Kostüme selbst theatralisieren.
»Wir haben unsere Kostümrepliken Zerstörungs- und Erosionsprozessen unterzogen, so, als hätten sie tatsächlich fünfhundert Jahre überstehen müssen.«
Wir haben uns dazu entschieden, die Kostüme der historischen Akteure in einem aufwendigen Prozess zu rekonstruieren. Die offizielle Garderobe der historischen Vorbilder der im Stück auftretenden Figuren – Philipp II. von Spanien, sein Sohn Don Carlos, Elisabeth, die französische Prinzessin, die mit Carlos verlobt war, die aber dann sein verwitweter Vater für sich beansprucht hat, und Philipps Geliebte, die Fürstin Eboli, sowie der geheimnisvolle Mönch, hinter dem Carlos’ Großvater Karl V. vermutet wird – ist auf einigen zeitgenössischen Ganzkörperporträts des 16. Jahrhunderts dokumentiert. Und natürlich sind diese Porträts und ihre Darstellungen in erster Linie Machtdiskurse. An ihrer Kostbarkeit und nicht zuletzt an der Zeit, die sowohl die Herstellung als auch das Anlegen dieser äußerst aufwendigen Hofkleidung in Anspruch nehmen, lässt sich die Macht ihres Trägers oder ihrer Trägerin ablesen. Alles kreist um den Träger oder die Trägerin des Kostüms und damit um die Macht. Aber zugleich wird der Bewegungsradius der Träger rigoros eingeschränkt. Auch und gerade für die Mächtigen wird das Kostüm zum Gefängnis des Körpers, der darin diszipliniert und dem abgezirkelten Hofzeremoniell unterworfen wird. Die historische Garderobe ist also direkt mit der Frage nach Macht und Freiheit verknüpft, und damit den zentralen Themen dieser Oper.
Gemeinsam mit der Kostümbildnerin Galya Solodovnikova haben wir ein großes Rechercheprojekt gestartet, in dem wir viele Quellen zur historischen Kostümkunde des 16. Jahrhunderts studiert haben, bevor die eigentliche Herstellung dieser »Museumsstücke« in Zusammenarbeit mit den wunderbaren Werkstätten der Wiener Staatsoper ein weiteres volles Jahr in Anspruch nahm. Eine Herausforderung bestand darin, nicht nur die Außenansicht der Vorlagen zu reproduzieren, sondern die Kostüme tatsächlich von innen her aufzubauen und auch dabei absolute historische Treue zu wahren, von der Unterwäsche, der Unterkleidung, den Unterbauten der Reifröcke und Strümpfe, bis hin zu allen Accessoires, den Bändern, Handschuhen, Perlen-, Feder- und sonstigen Applikationen, den Schmuckstücken, Orden, Waffen und natürlich auch dem Schuhwerk. Dabei haben wir auch mit nahezu ausgestorbenen Web-, Näh-, Stick-, Veredelungs- und Färbetechniken experimentiert.
Es ist das erste Mal, dass ich in der Oper mit Rekonstruktionen historischer Kostüme arbeite. Diese historische Referenz stellt aber nur eine von mehreren Ebenen meiner Inszenierung dar. Denn wir präsentieren diese Kostüme in einem zeitgenössischen Kontext. Einer meiner stärksten Eindrücke bei einer Reise durch Japan war der Besuch des berühmten KCI, des »Kyoto Costume Institute«, in dem über 13.000 Original-Objekte aus allen Epochen und Kulturen aufbewahrt werden. Ich erhielt auf meine Bitte eine Führung durch den nach außen unauffällig wirkenden Gebäudekomplex. Im Inneren der Lager-, Forschungs-, Restaurierungs- und Ausstellungsräume fühlte ich mich dann aber wie ins 23. Jahrhundert katapultiert: Die Arbeit dort findet an Hightech-Computerarbeitsplätzen statt, die mit avantgardistischen Lichtarmaturen ausgestattet sind; die Oberfläche der Wände ist gegen UV-Strahlung, Staub, Feuchtigkeit und alle anderen schädlichen Umwelteinflüsse versiegelt; all das, um das Fragilste überhaupt, nämlich die hoch empfindlichen Fasern und Texturen zu schützen, die zum Teil auch in temperierten Kühlfächern gelagert werden müssen. Die archivierten Textilien dürfen nur nach Anlegen weißer Handschuhe berührt werden, die ebenfalls Sonderanfertigungen darstellen. Und dennoch: Man empfindet die Gefährdung der Objekte geradezu körperlich, gerade, weil hier alles Menschenmögliche getan wird, um gegen ihren Zerfall anzuarbeiten.
Diese Erfahrung hat mir eine weitere Dimension von Verdis Oper erschlossen: Das Wissen um die Vergänglichkeit des Menschen, seiner Leidenschaften, seiner Anstrengungen und seiner Taten, den Fluss der Zeit, der merklich oder unmerklich alles von Menschen Gemachte auslöscht und zerstört. Don Carlo beginnt ja mit einem Memento mori, mit den Stimmen psalmodierender Mönche. Sie singen, dass vom einstigen Weltenherrscher Karl V. nicht mehr übriggeblieben ist als »stummer Staub«. Und am Ende der Oper erscheint der geheimnisvolle Mönch wieder, um anzukündigen, dass sich die »Kriege des Herzens« nur im Himmel, also in der Ewigkeit beruhigen werden.
Neben diesen beiden Dimensionen – die in ihren Überresten präsente Zeit des
16. Jahrhunderts und unserer heutigen Gegenwart – gibt es eine dritte Ebene, eine Zwischenzone gewissermaßen, in der sich Vergangenheit und Gegenwart vermischen und in der die Sängerinnen und Sänger aus ihrer heutigen Kleidung in schwarze, umrisshaft bleibende Prototypen oder Musterfertigungen der Kostüme ihrer historischen Avatare schlüpfen und deren Drama neu durchleben.
Nur einer der von Schiller erfundenen Charaktere hat kein historisches Vorbild: Carlos’ Freund Rodrigo, der Marquis von Posa, ist eine Gestalt der Aufklärung, ein moderner Mensch, wenn wir so wollen. Als Öko-Aktivist verkörpert er auch bei uns eine revolutionäre Fragestellung, nämlich die nach der dysfunktionalen Überproduktion und dem Überkonsum von Textilien und Bekleidung unter den Bedingungen der kapitalistischen Massenkultur und -gesellschaft heute. Er konfrontiert uns mit den katastrophalen Arbeitsbedingungen der Herstellung von Bekleidung in Taiwan, Pakistan, China oder Indien und mit den nicht weniger katastrophalen Folgen der sogenannten Entsorgung von Textilmüll, die etwa in Lateinamerika zur Aufschichtung von Müllgebirgen und zur Verwüstung ganzer Landstriche führt. Posa stellt die Frage nach Freiheit und nach einer menschenwürdigen Gesellschaftsform heute, um sie an uns, die Zuschauerinnen und Zuschauer, weiterzugeben.
»Diese Oper ist eine der schönsten Partituren, die in der Menschheitsgeschichte komponiert wurden.«