© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Warten auf Ulisse

Karten & Informationen »Il ritorno d’Ulisse in patria«

Kate Lindsey ist an der Wiener Staatsoper ein häufiger Gast: in Mozart-Rollen, in Strauss-Partien, als Siébel in Faust und im Monteverdi- Zyklus. Man erinnert sich an ihre grandiose Personenstudie des Nerone in L’incoronazione di Poppea, sie verkörperte in Orfeo gleich drei allegorische Figuren – und sie wird nun die verlassene Penelope in der Ulisse-Premiere geben. All dies mit einer faszinierenden Vielseitigkeit, Vielschichtigkeit und bannender Bühnenpräsenz. Über die Herausforderung, Monteverdi zu singen und Penelopes Nöte sprach sie in einem Interview kurz vor der Premiere.


Wie fand Ihre Annäherung an Monteverdi statt? War der erste Kontakt die L’incoronazione di Poppea-Produktion in Salzburg 2018 – jene Inszenierung, die in Kooperation mit der Staatsoper entstand?

KATE LINDSEY: Ja, das war tatsächlich der erste Monteverdi, bei dem ich auf einer Bühne gestanden bin. Das Interessante war für mich dabei, wie sehr ich ihn anfangs unterschätzt hatte. Denn als ich zum ersten Mal in die Partitur blickte, dachte ich nur: »Das ist ja ganz einfache Musik!« Also etwa in Hinblick auf die Harmonik. Doch als ich zu arbeiten anfing, wurde mir die Dimension der Herausforderung bewusst. Denn alles geht vom Text aus, und man muss zunächst ein Gefühl für den richtigen Fluss bekommen. Und obwohl ich studierte, studierte und stu- dierte, hatte ich lange Zeit nicht das Gefühl, den Text ausreichend gut zu kennen.


Wenn die Basis der Text ist: bedeutet das prima le parole statt prima la musica – also das Primat des Textes?

KATE LINDSEY: Bei Monteverdi treibt der Text die Musik an und die Deklamation gibt die Richtung vor. Text und Musik gehen freilich Hand in Hand, wobei die Musik die Energie und die Aussage des Textes unterstützen muss. Zwischendurch finden wir immer wieder kleine musikalische Momente, kleine Ariosi, doch dann geht es gleich wieder zurück zum Text. Als Sängerin muss ich mich viel mehr auf die Intentionen des Textes konzentrieren als bei vielen anderen Komponisten.


Sie sind Teil des Monteverdi-Ensembles der Wiener Staatsoper: schließlich singen Sie in unserem kompletten Monteverdi-Zyklus. Wenn Sie im Jahresabstand auf diesen Komponisten zurückzukommen: können Sie aus der Erfahrung der vergangenen Produktionen schöpfen?

KATE LINDSEY: Jedes Mal, wenn ich zu Monteverdi zurückkehre, weiß ich, was mich erwartet. Zum Beispiel, dass ich viele, viele Monate im Voraus – wie angesprochen – den Text studieren muss. Es handelt sich um kein Repertoire, das man singen kann, wenn man Musik und Text nicht wirklich tief im Körper, in seinen Muskeln hat. Jedes Mal denke ich: Mein Gott, das ist schwieriger zu singen als Mozart, schwieriger als Strauss! Paradoxerweise, denn die musikalische Konstruktion ist einfacher. Es geht also nicht um die richtigen Noten! Aber die Sängerinnen und Sänger sind viel mehr auf sich allein ge- stellt, es gibt keine Klangwelle, die einen trägt. Natürlich, auch bei Strauss ist der Lernprozess lang. Aber wenn es sitzt, nimmt die Musik einen mit. Hier hängt vieles stärker von uns Sängerinnen und Sängern ab.


Wenn Sie Ulisse mit Orfeo, der letztjährigen Monteverdi-Produktion vergleichen: worin sehen Sie die musikalischen Unterschiede?

KATE LINDSEY: Unter anderem empfinde ich Ulisse im Tonfall stärker auf den Text ausgerichtet. Auch in dem Sinn, dass es weniger längere Melodien gibt, es ist wie eine Rückkehr zu einer Art Dialog zwischen Menschen. In Orfeo hatten wir mehr Tanzmusik, mehr Chor, mehr reine Orchesterstellen. Das spürt man auf der Bühne sofort, weil man sich jetzt fragt: Wo sind eigentlich die anderen? (lacht) Ich persönlich empfinde Ulisse als die größte Herausforderung aus dem Zyklus, weil es so viele Schichten der Geschichte zu erleben gibt, so viele Wünsche und Konflikte jeder Figur zu entschlüsseln. Die Möglichkeiten der Interpretation sind vielfältigst.


Wenn wir uns Penelope zuwenden: Wer ist sie? In der Oper ist sie im Vergleich zum Mythos ja enorm aufgewertet.

KATE LINDSEY: Genau das ist die Frage, die mir monatelang durch den Kopf gegangen ist. Wer ist sie? Und was geschieht mit ihr, jetzt – und was passierte in den letzten 20 Jahren? Vielleicht bin ich zu zynisch, aber ich bin mir unsicher, was das Bild der ewig treuen Frau angeht, die 20 Jahre lang nur wartet. Das war vielleicht mehr das Ideal im Rahmen des Mythos. Aber die Sache ist an sich komplizierter: Denn Penelope ist in ihren Wahlmöglichkeiten nicht sehr frei. Denn selbst wenn ihr alle sagen, dass Ulisse tot ist und sie sich einen anderen nehmen soll: was, wenn er doch zurückkehrt? Das wäre katastrophal und würde vielleicht einen neuen Krieg auslösen. Sicher hat sie manches von seinen Abenteuern gehört. Aber kann sie es glauben? Ich weiß es nicht. Sie ist sich nicht klar, wem sie noch vertrauen kann. In der Inszenierung haben wir Penelopes Webstuhl, an dem sie immer arbeitet, und ich merkte während der Proben an: Ich fühle mich so gefangen in diesem Ding! Es ist wie ein Käfig! Aber genau das soll es sein! Der Webstuhl steht für Sicherheit, aber auch für ein Gefangen-Sein. Penelope wurde in einen Zustand der Lähmung versetzt. Sie empfindet Liebe und Zärtlichkeit für die Erinnerungen, die sie an Ulisse hat. Aber sie ist auch wütend... Und wenn er zurückkehrt, wird es kein einfaches: »Oh, wie schön, du bist zurück!«


Könnte Sie sich in jemand anderen verlieben? Oder ist der Schmerz über den so lange abwesenden Ulisse so groß, dass sie mit der Liebe abgeschlossen hat?

KATE LINDSEY: Ich glaube, ein Teil von ihr würde gerne glauben, dass sie es könnte, und dass sie die Nähe zu jemand anderem spüren wollte. Aber: Es würde sich leer anfühlen. Wobei sich sicherlich etwas in ihr nach einer Art von Verbindung und Vertrauen sehnt. – Nach Vertrauen wahrscheinlich mehr, als nach allem anderen. Doch alle jene, die ihr nun nahe sein wollen, interessiert nur die Macht, nicht die Liebe. Und das weiß Penelope. Und darum kommt sie nicht auf die Idee, wirk- lich irgendwo anders Liebe zu suchen.


Wie wird die Geschichte weitergehen? Gibt es am Ende ein Happy End?

KATE LINDSEY: Musikalisch ist es interessant, dass am Ende zuerst eine Person, dann die andere Person singt, und erst auf den letzten Seiten der Partitur finden sie allmählich zusammen. Es geht eher darum, zu akzeptieren, dass Ulisse und Penelope nicht mehr dieselben Leute wie vor 20 Jahren sind. Vielleicht geben sie der Sache genug Vertrauen, um es noch einmal zu versuchen. Leider hat Monteverdi keine Fortsetzung geschrieben.


Was erzählt uns die Musik über Penelope? Was können wir lernen?

KATE LINDSEY: Sehr vieles! Nur ein Beispiel: In Monteverdis Zeit spielte die Wahl einer Tonart eine große Rolle, um etwa darauf hinzuweisen, wie es einer Figur geht, was sie fühlt. Penelopes erste Szene beginnt im sehr dunklen c-Moll. Man spürt sofort die Qualen, das Leiden der Figur, die Konflikte. Mit dieser Farbe beginnt Penelopes Geschichte. Allein diese erste Szene zeigt schon alles...


IL RITORNO D’ULISSE IN PATRIA
2. (Premiere) / 4. / 8. / 11. / 14. April 2023
Musikalische Leitung Pablo Heras-Casado
Inszenierung Jossi Wieler & Sergio Morabito
Bühne & Kostüme Anna Viebrock
Ko-Bühnenbildner Torsten Köpf
Licht Reinhard Traub
Video Tobias Dusche
Mit u.a. Georg Nigl / Kate Lindsey / Josh Lovell / Isabel Signoret /
Andrea Mastroni / Hiroshi Amako / Jörg Schneider / Helene Schneiderman /
Daria Sushkova / Katleho Mokhoabane / Anna Bondarenko / Robert Bartneck /
Daniel Jenz / Alma Neuhaus / Miriam Kutrowatz
Concentus Musicus Wien