Wagner und die Conditio Humana

Der englische Tenor Christopher Ventris ist dem Wiener Publikum in vielen Rollen seines Faches in bester Erinnerung, nicht zuletzt als Parsifal, den er hier seit 2003 bereits elf Mal verkörpert hat. In eben dieser Rolle kehrte er bei der aktuellen Neuproduktion zurück ans Haus am Ring. Anlässlich seiner – nach Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny und Chowanschtschina – dritten Staatsopernpremiere gab er Andreas Láng das folgende Interview.

Gehören Sie zu jenen Sängern, die im darzustellenden Charakter lediglich eine Rolle sehen oder zu jenen, die in ihrem eigenen Inneren nach Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten suchen? Anders gefragt: Ist es für Sie im aktuellen Fall von Bedeutung, selbst parsifaleske Eigenschaften zu besitzen?

Christopher Ventris: Auch wenn man natürlich kein Mörder sein muss, um einen Mörder glaubhaft auf die Bühne zu stellen, schadet es ganz grundsätzlich nicht, wenn man in sich selbst Qualitäten findet, die zu einer Rolle passen, die man darstellen möchte. Das Schöne an Parsifal beispielsweise ist, dass er im Laufe der Handlung eine große Entwicklung durchmacht, also als junger Tor beginnt und als gealterter, mit Weisheit und Wissen erfüllter Gralskönig endet. Und so einen oder einen vergleichbaren Prozess – lassen wir das Detail des Gralskönigtums beiseite – sehen wir bei anderen und in Ansätzen auch bei uns selbst immer wieder. Die meisten von uns wollen ja, aus unterschiedlichen Gründen natürlich, Erfahrungen sammeln, einen Entwicklungsschritt nach oben machen, sei es im Beruf oder im privaten Umfeld – und diesbezüglich kann man sich als Parsifal-Interpret vom echten Leben tatsächlich inspirieren lassen. Nichtsdestotrotz hoffe ich umgekehrt, allen Rollen die ich singe, meinen eigenen Stempel aufzudrücken, meine eigene Persönlichkeit durchschimmern zu lassen.

Inwieweit merken Sie, ob sich Ihre Rollengestaltung über die Jahre verändert – den Parsifal verkörpern Sie beispielsweise mittlerweile allein an der Wiener Staatsoper bereits in einer dritten Produktion?

Christopher Ventris: Nun, Parsifal ist eine komplexe Gestalt und jeder Regisseur betont eine neue Facette, eine neue Farbe dieser Persönlichkeit. Auch die Interaktion mit stets wechselnden Kollegen bewirkt, dass unentwegt neue Charakterschichten aufgedeckt werden. Das ist ja das Tolle an meinem Beruf, diese ständige, sehr oft ungeplante und intuitive, situationsgebundene Veränderung in der Interpretation. Nach jeder Probe notiere ich in meinem jeweiligen Klavierauszug wesentliche neue Eckpunkte, Ideen, Vorgaben – sowohl in szenischer als auch in musikalischer Hinsicht. Was hat Dirigent X gemeint? Was wurde bei dieser Probe gegenüber der letzten geändert? Ich bin ständig am Korrigieren und wenn ich eine Rolle auffrische, sind diese Notizen oft sehr hilfreich. Um also konkret auf Ihre Frage zurückzukommen: Eine Interpretation unterliegt im Laufe einer Karriere einer kontinuierlichen Veränderung, die ich zum Teil auch in meinem Klavierauszug abgebildet sehe.

Die Tessitura des Parsifal gilt gemeinhin als eher angenehm …

Christopher Ventris: In der Tat, der Großteil liegt in der oberen Mittellage, was der Textverständlichkeit sehr entgegenkommt, schließlich geht es bei Wagner nicht um vokale Gymnastik, sondern um Information, die das Publikum mitbekommen soll. Die Ausbrüche in die hohen Regionen sind hingegen, zumindest beim Parsifal, immer gekoppelt mit einem besonderen emotionalen Ausdruck.

Apropos Textverständlichkeit: Was halten Sie als englischer Sänger von der Sprache Richard Wagners in seinen Opernlibretti?

Christopher Ventris: (lacht) Für mich ist schon das „normale“ Deutsch nicht so einfach zu memorieren. Aber ich denke, der durchschittliche Österreicher oder Deutsche wird die Sprache Wagners gelegentlich auch zumindest als ungewohnt empfinden. Demungeachtet liegt in den Wagnerschen Texten eine ganz eigene Poesie, die mit der Musik enggeführt einen Teil des Zaubers ausmacht, den seine Werke auf uns ausüben.

Wie gesamtkunstwerklich führen Sie Ihr Leben? Der verstorbene Dirigent Marcello Viotti hatte beispielsweise immer einen Gedichtband am Nachttisch …

Christopher Ventris: So eine Stadt wie Wien ist natürlich nicht nur für Touristen interessant, sondern gerade auch für uns Künstler. Jede besondere Architektur, jeder Museumsbesuch, aber auch ein gepflegter Park hinterlassen Eindrücke, die sich bewusst oder unbewusst in unserer Arbeit auswirken werden. Solche Kulturgroßstädte sind von Haus aus Inspirationsquellen. Darüber hinaus höre ich, egal wo ich mich aufhalte, immer sehr viel Musik, nicht unbedingt Oper, eher Orchesterwerke und auch meine eigenen Rollen, vor allem, wenn es sich um neue handelt, gehen mir nicht so schnell aus dem Kopf.

Ihr Schlaf ist davon nicht gestört?

Christopher Ventris: Manchmal summe und singe ich noch am Abend im Bett weiter, das ist nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen, denn es zeigt, dass sich das Gelernte gesetzt hat, dass ich es zu eigen gemacht habe. Letztlich kann ich, wenn es sein muss, dann doch abschalten.

Darf man die philosophischen Überlegungen Wagners beim Parsifal ad acta legen und die Rolle mit eigenen Intentionen und Anschauungen füllen?

Christopher Ventris: Nicht nur im Parsifal, auch in seinen anderen großen Opern behandelt Wagner sehr viele Kapitel des menschlichen Zusammenlebens: Liebe, Zurückweisung, das Unbewusste, Erkenntnis, Mitleid – wesentliche Aspekte der conditio humana. Und hier sind wir wieder bei unserer ersten Frage: Die meisten Interpreten haben bei all diesen Punkten eigene Erfahrungen, die sie in die Gestaltung einfließen lassen. Andererseits ist zum Beispiel die Religion eine persönliche Angelegenheit, und ein Interpret muss in dieser Frage nicht zwingend mit Wagner übereinstimmen. Auch die meisten Regis- seure werden diese und ähnliche Gebiete nicht zwanghaft überbewerten, schließlich geht es nicht darum, Wagners Gedankenwelt missionsartig zu verbreiten, sondern um Musiktheater.

Wie oft gehen Sie beim Rollenstudium über Ihren Part hinaus und beschäftigen sich mit der gesamten Partitur, mit dem großen Ganzen der jeweiligen Oper?

Christopher Ventris: Gerade in den Werken Richard Wagners kommt dem Zuhören eine besondere Bedeutung zu. Diese langen Monologe eines Gurnemanz, Wotan oder Marke sind an bestimmte Personen der Handlung adressiert, die ihnen lauschen. Wenn ich derjenige auf der Bühne bin, der „angesprochen“ ist, versuche ich den Inhalt des Gesagten oder besser des Gesungenen stets so aufzunehmen, als ob ich es zum ersten Mal hören würde. Denn nur dann kann meine Reaktion, meine Mimik natürlich und glaubwürdig ausfallen und sich entsprechend dem Publikum mitteilen. Ähnliches gilt für das Rollenstudium: Ich muss wissen, warum ein Komponist beispielsweise etwas im Orchester so und nicht anders geschrieben hat, ich muss die Zusammenhänge verstehen, muss das kompositorische Koordinatensystem durchschauen, um musikalisch adäquat agieren zu können.

Wie sieht es vor der Vorstellung aus, zu welchem Typ gehören Sie: Werden Sie müde wie ein Otto Schenk, leiden Sie unter Lampenfieber, scharren Sie schon gewissermaßen mit den Hufen wie ein Pferd vor dem Rennen?

Christopher Ventris: Wenn ich mich stimmlich gesund fühle, bevorzuge ich einen entspannten Vormittag und einen gemütlichen Nachmittag ehe ich das Opernhaus betrete. Dann schalte ich auf höchste Konzentration um, wobei ich bewusst erst am Abend, eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn meine Stimme aufwärme und nicht schon Stunden vorher, schließlich möchte ich am Ende der Vorstellung noch frisch klingen, und bis zu diesem Ende gilt es gerade in den Wagner-Opern eine lange Strecke zurückzulegen.

Welcher Teil der Oper Parsifal fasziniert Sie am meisten?

Christopher Ventris: Als Sänger und Schauspieler wohl der zweite Akt, den ich neben dem zweiten Jenufa-Akt als einen der besten Akte der gesamten Opernliteratur bezeichnen würde. Und wenn man dann noch, wie bei der aktuellen Produktion, eine hervorragende Kundry als Gegenüber hat, geht gewissermaßen die Post ab. Gerade deshalb ist der Akt emotional auch recht herausfordernd – man muss die Balance bewahren zwischen dem Dramatischen und der vokalen Vorsicht, man darf sich nie übermannen lassen und übersingen, sollte also eine innere Ruhe bewahren, ohne die emotionale Kurve allzu amplitudenarm ausfallen zu lassen.

Und wie sieht es bezüglich der liebsten Rolle im Parsifal aus? Ist es Ihre eigene?

Christopher Ventris: Wagner hat Amfortas zwei wunderbare Szenen geschenkt, wobei ich das Glück habe, bei einer auf der Bühne sein zu dürfen. Aber auch Kundry und Gurnemanz dürfen eine überragende Musik ihr eigen nennen. Nein, ich möchte hier keine Entscheidung treffen wollen...


Parsifal | Richard Wagner
2., 6., 9., 13., 16. April
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