Von Seelen und Melodien
KS Natalie Dessay gehört international zu den ganz großen Publikumslieblingen und ihre Auftritte an der Wiener Staatsoper zählen zu den Sternstunden des Hauses – ganz gleich, ob sie Premieren oder „normale“ Repertoireaufführungen veredelte. Nun gibt sie im Haus am Ring in der Reihe der Solistenkonzerte erstmals einen Liederabend.
Sehr geehrte Frau Kammersängerin, sehen Sie sich, wenn Sie als Liedinterpretin vor das Publikum treten, als Erzählerin, als Seelenwelten erschließende Tiefenpsychologin, als Reiseführerin durch musikalische Welten…
KS Natalie Dessay: Ich denke, ich bin eine Erzählerin. Aber anders als in der Oper handelt es sich in einem Liederabend nicht um große dramatische Gemälde, die man vor den Zuschauern ausbreitet, sondern um kleine Geschichten, die man jedem einzelnen Hörer auf ganz persönliche Weise gewissermaßen ins Ohr raunt und in denen die Bedeutung des Wortes eine zentrale Funktion einnimmt. Mir schwebt ein schönes Bild vor: Ich sitze in einem vertrauten Kreis, rund um mich eine sehr kleine Gruppe von Personen, denen ich kostbare Dichtungen ans Herz lege. Und dieser intime Charakter ist vollkommen unabhängig von der Größe des Saales, da ich mich dem Publikum auf eigentümliche Art nahe fühle.
Handelt es sich im aktuellen Fall um eine Aneinanderreihung von in sich geschlossenen kleinen Geschichten oder spannen Sie auch einen, den Abend zusammenklammernden, Gesamtbogen?
KS Natalie Dessay: In der Tat habe ich mit dem Pianisten Philippe Cassard dieses Konzert unter ein generelles Thema gestellt, eine Grundatmosphäre als Basis genommen: „Lonely souls and loving hearts“. Wir sind im Vorfeld zahllose Lieder durchgegangen und konnten uns dann schließlich für den ersten Teil auf zwölf wunderschöne Lieder – vier von Schubert und acht von Hugo Wolf – einigen, die das gewählte Motto intensiv widerspiegeln.
Warum gerade Schubert und Wolf?
KS Natalie Dessay: Ich habe meine Auseinandersetzung mit Schubert vor kurzem mit einer CD-Einspielung vertieft – daran wollte ich das Konzert-Publikum teilhaben lassen. Und die Erkundung des Kosmos der Wolf-Lieder ist mir einfach unendlich wichtig.
Und was war konkret ausschlaggebend für diese Auswahl bzw. Zusammenstellung?
KS Natalie Dessay: Es handelt sich, wie gesagt, um einen sehr langwierigen aber auch sehr komplexen Vorgang: Mein erster Ansatzpunkt ist immer die Dichtung. Wenn mir der Text nicht zusagt, so kommt das Lied nicht in die engere Auswahl. Das heißt aber umgekehrt nicht, dass die Kompositions-Qualität lediglich sekundär wäre. Im Gegenteil. Nur nutzt mir, aufgrund der engen Verwobenheit von Wort und Ton die gesamte Schönheit einer Melodie, die Wirkungsmächtigkeit der Musik nichts, wenn ich mit der Dichtung nicht viel anfangen kann. Davon abgesehen ziehe ich durchkomponierte Lieder der Strophenform vor. Ich mag es, wenn der Aufbau einen Beginn, ein Mittelstück und einen Schluss aufweist und wenn es entweder um eine klar strukturierte Geschichte geht oder eine bestimmte Person erzählt, was sie erlebt hat, was ihr zugestoßen ist. Reine Naturschilderungen zum Beispiel sind hingegen nicht meine Sache. Die Aufeinanderfolge der so ausgesuchten Lieder selbst folgt dann allerdings weniger einem inhaltlich-logischen Aufbau als einem musikalischen. Wir orientieren uns zum Beispiel an den Tonarten oder an den emotionalen Farben der einzelnen Lieder, die gut zusammenpassen sollten.
Wie sieht es mit dem zweiten Teil aus? Welche Überlegungen haben zu dieser Programmgestaltung geführt?
KS Natalie Dessay: Wir wollten Brücken bauen: Eine zwischen der Oper und dem Lied, eine weitere zwischen der Vokalmusik und der Instrumentalmusik – wir wollen die Melodie als Bindeglied zwischen diesen Gattungen herausarbeiten: Der Ausschnitt aus der Oper Sonnambula verwandelt sich zum Beispiel, mit Klavier begleitet, von einer Arie in ein Lied. Oder: Es hilft, um Chopin gut und umfassend zu begreifen, sich zuvor mit Bellini auseinandergesetzt zu haben. So kam es übrigens auch zu den rein pianistischen Teilen.
Sie haben gesagt, dass Sie den Liederabend gemeinsam mit dem Pianisten unter ein Motto gestellt haben. Demnach umfasst die Zusammenarbeit nicht nur das rein Interpretatorische, sondern auch das Programmatische.
KS Natalie Dessay: Auf jeden Fall. Wir sind mittlerweile gut befreundet und aufeinander eingespielt und stehen daher in einem fruchtbaren künstlerischen Dialog, der die Suche nach passenden Stücke, den konkreten Aufbau ebenso umfasst wie die intensive Probenarbeit und das Konzertieren selbst. Im Grunde sind die Grenzen zwischen diesen einzelnen Parametern ohnehin fließend.
Was, wenn sich Ihnen bei einem Lied interpretatorisch mehrere Wege eröffnen, die aber nicht kombinierbar sind. Wonach wird dann entschieden?
KS Natalie Dessay: Unsere Interpretationen entstehen immer während des Probenprozesses. Und gerade weil es Unterschiedliches zu erfühlen, zu überdenken, zu entscheiden gilt und entsprechend Zeit notwendig ist, liebe ich es VIEL und LANGE zu proben. Manchmal verständigen wir uns zum Beispiel bei einem bestimmten Lied auf ein Grundtempo, um dann nach einer Weile festzustellen, dass es zu schnell oder zu langsam ist. Durch die lange Auseinandersetzung lerne ich die einzelnen Stücke besser kennen, gewinne andere Perspektiven oder Empfindungszugänge und das hilft schlussendlich bei solchen Fragestellungen, die Sie gerade aufgeworfen haben.
Sie lassen die Interpretation reifen, ehe Sie aufs Podium treten.
KS Natalie Dessay: Genau so!
Nichtsdestotrotz kann es vorkommen, dass Sie während eines Konzertes plötzlich eine Inspiration haben, die etwas vollständig Neues zu Tage fördert?
KS Natalie Dessay: Natürlich, bedingt durch die Präsenz des Publikums, die besondere Atmosphäre bei einem Auftritt, die Anspannung und durch hundert andere Aspekte mehr, eröffnen sich einem mit einem Mal hochaufregende, unbeschrittene Wege – und dann denke ich mir jedes Mal: „Ach Gott, warum habe ich das nicht schon früher bemerkt und gemacht?“
Und dann notieren Sie sich diese Erkenntnis nach dem Konzert schnell in die Noten, um es nicht zu vergessen?
KS Natalie Dessay: Nein, das mache ich nicht. Das Er- und Geprobte ist mir durch die intensive Auseinandersetzung sowieso in Fleisch und Blut übergegangen und die eben beschriebenen, durch das inspirative Moment unerwartet gefundenen Details merke ich mir auf Grund ihrer Besonderheit.
Das Gespräch führte Andreas Láng
Solistenkonzert Natalie Dessay | Philippe Cassard
7. Mai 2019 | 20:00