© Stefano Guindani
Damiano Michieletto
© Dutch National Opera / Ruth Walz
Uraufführung im Rahmen des Opera Forward Festivals 2023.
© Dutch National Opera / Ruth Walz
Uraufführung im Rahmen des Opera Forward Festivals 2023.
© Dutch National Opera / Ruth Walz
Uraufführung im Rahmen des Opera Forward Festivals 2023.

Von Schweinen & Menschen

Theater, so sagt der Regisseur Damiano Michieletto, muss etwas mit der Gesellschaft zu tun haben. Wie im antiken Griechenland, als politische Themen auf der Bühne verhandelt wurden. Dass er mit der Premiere von Alexander Raskatovs Animal Farm im Haus am Ring debütiert, passt da ideal. Denn Animal Farm ist eine Parabel über Mechanismen der Macht – der Geschichte des Kommunismus entlehnt, aber bis heute aktuell. Was Michieletto Kopfzerbrechen machte, wie er die Welt verändern würde und was uns Animal Farm lehrt – das erzählt er in diesem Interview.

Damiano Michieletto im Gespräch mit Oliver Láng.

 

Tickets »Animal Farm«

Wie kam es zum Animal Farm-Projekt? Welcher war der erste Grundgedanke?

Nun, das Projekt Animal Farm entsprang meinem Wunsch, Geschichten zu finden, die sich heute für eine Oper eignen. Das ist ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt! Es geht mir dabei nicht so sehr um die Zukunft der Oper an sich, sondern es soll lediglich ein Versuch sein, etwas zu schaffen, das in der Zukunft vielleicht Teil des Opernerbes wird. Als ich mich an George Orwells Animal Farm erinnerte, merkte ich sofort, dass die Geschichte die richtigen Zutaten für eine Oper enthält: Es kommen Charaktere vor, die sehr klar und genau definiert sind. Es gibt einen Chor. Und durch das Allegorische der Geschichte kann man verschiedene Erzählebenen schaffen und unterschiedliche Publikumsschichten ansprechen: erfahrene Besucher und Besucherinnen, aber auch junge Menschen. Ich dachte: Das ist eine Geschichte, die sehr farbenfroh werden kann und durch die Präsenz der Tiere auch musikalisch eine Herausforderung darstellt. Und Raskatov war vom Projekt sofort begeistert!
 

Aber Animal Farm ist keine für Kinder, oder?

Animal Farm kann auch eine Fabel für Kinder sein, und es gibt ja einen entsprechenden Zeichentrickfilm. Denn natürlich kann man die Geschichte so erzählen: Es war einmal ein Bauernhof, auf dem Tiere lebten, die davon träumten, sich von ihrem Herrn zu befreien. Sie organisierten sich und so weiter und so fort. Aber Animal Farm ist nicht nur das! Selbstverständlich ist die Fabel eine Allegorie, und der Verfasser hat sehr klare und präzise Parallelen zu einer historischen Situation in der Sowjetunion und zu Personen wie Stalin und Trotzki gezogen. Animal Farm ist ein soziales und politisches Gleichnis. Mir gefällt, dass die Geschichte Äsops Fabeln ähnelt, in denen durch die Tiere stets eine moralische, politische oder soziale Botschaft vermittelt wird. Und so ist Animal Farm eine Geschichte, die durch die Tiere über Demokratie, Politik, Gewalt, Schikanen, Ungerechtigkeiten, Totalitarismus, Revolution spricht, das heißt über Themen, die Teil der Menschheit sind und die auch unsere heutige Situation betreffen. Ich jedenfalls wollte immer vermeiden, dass es nur ein Märchen für Kinder wird. Ich wollte, dass die Tiere Sinnbilder sind, auch dramatische und beunruhigende. Denn es geht um Leben und Tod. Es geht um Leid und um einen Wunsch nach Glück.
 

Orwell schrieb seine Erzählung in einer bestimmten Zeit, einer spezifischen Situation, er thematisierte, wie von Ihnen angesprochen, den Kommunismus. Ist Ihrer Meinung nach die Handlung von Animal Farm zeitlos und allgemeingültig? Immer aktuell, auch heute?

Genau das ist die Wirkungskraft von Animal Farm! Nämlich die Tatsache, dass die Geschichte – wie bei allen Klassikern – über die geschichtlichen Verhältnisse der Entstehungszeit hinausreicht. Orwell machte konkrete Anspielungen auf die Sowjetunion, aber er erzählt auch von Mechanismen, die gesellschaftlichen Prozessen zugrunde liegen. So meinte er, dass die wichtigste Passage diejenige sei, in der es den Schweinen zu rechtfertigen gelingt, warum gerade sie die Milch bekommen müssen. Die Milch: Das ist in Animal Farm das Wertvollste, etwas, das alle gerne hätten. Die Schweine, die gerade erst die Macht ergriffen haben, überzeugen die anderen durch eine Lüge und durch die Verbreitung von Schrecken. Sie sagen etwa: Wir müssen Milch trinken, weil wir eine große Verantwortung tragen! Und ihr müsst für uns sorgen, weil sonst Mr. Jones zurückkehren könnte. Also: Drohung, Angst. Wenn du nicht dieses tust, kann jenes passieren. Dieses Regieren durch die Verbreitung von Schrecken ist ein Mechanismus, der in unserer Gesellschaft häufig zu finden ist. Auch zur Rechtfertigung von Ungerechtigkeiten. Man sieht also, wie die Geschichte über die historische Zeit, in der sie geschrieben wurde, hinausreicht.
 

Wie viel Realismus braucht diese Geschichte, wie viel verträgt die Fabel?

Fabeln müssen nicht realistisch sein. In Animal Farm kommen Schweine vor, die sprechen können und die sich mit Ziegen, Hühnern und Kühen zusammentun, um zu revoltieren. Die Fantasie gestattet es einem, freier zu erzählen – gerade, weil man weiß, dass es sich um Fiktion handelt. Es ist die Kraft der Maske: Wenn eine Schauspielerin eine solche aufsetzt, wird diese ihre Persönlichkeit nicht auslöschen, sondern sie macht sie explosiv, universell, sie lässt sie über die Sprache, die sie gerade spricht, hinauswachsen. Also: Eine Geschichte mit Tiermasken zu erzählen, beflügelt die Fantasie. Für mich ist das interessant, weil ich dadurch die Freiheit gewinne, Konventionen hinter mir zu lassen und mich von einem Realismus zu verabschieden.
 

Was aber sieht man auf der Bühne? Menschen oder Tiere?

Auf der Bühne sieht man Tiere, die am Ende zu Menschen werden. Dies war auch die Metapher von Orwell: Animal Farm endet mit einer kurzen Bemerkung, die besagt, dass man am Schluss keinen Unterschied mehr zwischen Schweinen und Menschen erkennt. Die Schweine, die einen Aufstand machen und sich so weit wie möglich von dem, was der Mensch darstellt, unterscheiden wollten, nehmen am Ende alle seine Merkmale und Eigenschaften an. So, als ob sie wieder von vorne anfangen würden. Sie werden zu jenem Feind, den sie am Anfang besiegen wollten.
 

Und was lernen wir daraus?

Animal Farm lehrt uns vor allem, dass die Oper eine Zukunft hat. Das ist meiner Meinung nach das Wichtigste: Es ist schön, etwas auszuprobieren, neue Libretti zu schreiben; es ist schön, mit einem Musiker zusammenzuarbeiten und eine Sprache zu finden, die für das Publikum aufregend ist. Eine Sprache, die nicht künstlich wirkt. Denn manchmal erlebe ich schmerzhaft bei zeitgenössischer Oper, dass es mir nicht gelingt, an ihr teilzuhaben: wenn ich etwa eine Sprache höre, die abgehoben agiert. Ich glaube, dass wir aus dieser Oper, aus Raskatovs Musik, aus diesem Projekt lernen können, mehr Vertrauen in die Oper zu haben. Lernen können, dass nicht wir das Musiktheater erfunden haben und es nicht mit uns sterben wird. Das ist für mich das Schönste! Und zusätzlich können wir etwas über gesellschaftliche Dynamiken lernen, die wir in gewisser Weise leider auch heute erleben und die Teil der Macht sind: Denn Macht hat stets das Bedürfnis, Regeln zu ihrer Rechtfertigung zu finden. Und Machthaber wollen alles tun, um sie nicht zu verlieren – auch auf ungerechte Weise, gewaltsam, antidemokratisch. Ich denke, dass diese Geschichte heute durch ihre starke Botschaft von Demokratie und Freiheit des Einzelnen begeistern kann.
 

Wer ist nun die Hauptfigur in Animal Farm? Die Machthaber? Das Volk?

Ich würde sagen, die Hauptfigur ist in Wirklichkeit The Animal Farm, das heißt, diese Gruppe von Tieren. Somit zum Beispiel der Chor, der an den Ereignissen auf der Bühne zu 90 Prozent beteiligt ist. Das ist für eine Oper ziemlich ungewöhnlich! Aber natürlich auch Napoleon. Er ist das Schwein, das zum Anführer der Gruppe wird, er ist es, der am Anfang etwas im Schatten steht, sich nicht oft blicken lässt, dann die Macht ergreift und zum Diktator wird. Er ist die metaphorische Darstellung Stalins, auf den Orwell anspielte, und er lässt als Erster langsam die Maske fallen und nimmt als Erster allmählich menschliche Züge an.
 

Ist Animal Farm nur eine politische und gesellschaftliche Abrechnung, eine Dystopie? Oder gibt es auch Momente der Utopie, der Hoffnung?

Mir gefällt sehr, dass Animal Farm mit einem Traum beginnt. Es gibt eine Figur, Old Major, die meint: Ich hatte einen Traum. Und wir kennen viele Geschichten, die mit einem solchen beginnen. Der Traum ist bereits die Projektion von etwas Unwirklichem, von etwas, das es nicht gibt und das somit utopisch ist. Ich träume von einer Welt, in der es Ungerechtigkeiten nicht mehr gibt, ich träume von einer Welt, in der… Auch Martin Luther King begann seine berühmte Rede mit I Have a Dream, wie um zu sagen: Ich träume von etwas, das es nicht gibt. Diese Figur am Anfang gibt den Anstoß zu der Geschichte, wenn es sie nicht gäbe, käme das Ganze gar nicht in Gang. Aber Old Major hat nur eine Szene, dann stirbt er. Wir möchten ihn fragen: War es nur ein Traum oder hast du wirklich geglaubt, dass er wahr werden kann? War es nur ein schöner Gedanke oder etwas, für das es sich zu sterben lohnt? Ich habe keine Antwort darauf, denn häufig können Träume zu Albträumen werden, etwas, das mit Erstrebenswertem beginnt, wird schrecklich und verursacht Schrecken, Gewalt, Missbrauch. Wenn Orwell auf Stalin anspielt, denkt er natürlich an die Gulags, an die Verfolgungen, an die Ermordungen, an alle die Menschen, die im Namen eines revolutionären Ideals von Gleichheit geschändet wurden. In Wirklichkeit wurden die schlimmsten, die schrecklichsten Dinge begangen! Das, was ein Traum war, wurde zum Albtraum. Dies gehört zur Komplexität der Fabel.
 

Damiano Michieletto als Regisseur: Wie würde er die Welt verändern?

Das weiß ich wirklich nicht... Wie ich die Welt verändern würde? Politisch… Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass ich etwas verändern kann. Ich habe keine politische Macht. Ich denke, das Wichtigste, das ich als Regisseur mit meinem Team tun kann, ist zu versuchen, etwas Aufregendes für das Publikum zu schaffen. Das ist eine Möglichkeit, etwas zu verändern. Nicht die Welt. Aber Emotionen zu schenken und etwas dafür zu tun, dass die Menschen ins Theater gehen und dass die Bühne zu einem Ort des Lebens wird. Auch in einer Welt, die zunehmend von Technologie bestimmt und durch Technologie gefiltert wird. Ich kann versuchen, die Bühne zu etwas zu machen, das auch riskant ist, zu etwas, das unbequem und überraschend ist.
 

Und wie politisch ist das Theater? Nicht nur Ihres, sondern als Institution ganz allgemein?

Nun ja, das Theater ist in dem Sinne politisch, als es die Polis betrifft, die Bürgerschaft, die Gemeinschaft. Schon durch die Tatsache, dass man an einem Ereignis teilnimmt. Wenn ich nun an die Zukunft der Oper denke, glaube ich, dass gesellschaftliche und politische Themen am interessantesten sind. Gerade die Oper hat die Möglichkeit – auch für die Vielzahl von Personen, die an einer Aufführung mitwirken –, ein Spiegel der Gesellschaft zu sein, und sie kann einen kritischen Blick auf die Gesellschaft werfen. Mein Traum ist, dass es uns wie am Ende des 16. Jahrhunderts, als man die Oper erfand, gelingt, eine Sprache zu finden, die Wort und Musik ideal vereint. Und mir würde es gefallen, wenn wir zu einem gesellschaftlich wie politisch fokussierteren Blick fänden – wie im antiken Griechenland. Schließlich begeistern mich Geschichten, die die Welt, in der wir leben, betreffen.
 

Gibt es für Sie den eindrucksvollsten Moment der Oper?

In Animal Farm gibt es einen Moment, der mir anfangs Kopfzerbrechen bereitet hat: Eine Szene, die der Komponist Raskatov eingefügt hat und die nicht Teil von Orwells Geschichte ist. Raskatov hat eine Figur namens Pigetta erfunden, eine Sängerin, der von Squealer – einem Schwein, das an Napoleons Seite steht (auf Deutsch wurde der Name als »Schwatzwutz« übersetzt) – der Hof gemacht wird. Diese Szene ist ein Zitat. Es ist, als würden wir in die Oper gehen und dort diese Sängerin erleben, der von einem Verehrer Blumen geschenkt werden. Sie denkt, dass sie die Blumen aufgrund ihrer Schönheit, aufgrund ihrer Berühmtheit bekommt. Der Verehrer aber sagt: Nein, dies sind die Blumen für dein Grab. Raskatov hat dieses Zitat, das von einer tatsächlich existierenden Person aus der Sowjetunion stammt, für die Oper verwendet. Es gibt also eine Verbindung zwischen dieser Szene und der Geschichte der Sowjetunion, die ich auf surreale, aber auch dramatische Weise gedreht habe. Daraus ist eine der emblematischsten Szenen der Oper geworden.
 

Zuletzt: Können Sie aus Ihrer Sicht Raskatovs Musik beschreiben?

Mir gefällt ungemein, dass Raskatov ein Komponist ist, der den Dialog mit dem Publikum sucht und nicht auf Distanz geht. Er stellt sich den Zuhörerinnen und Zuhörern. Und sagt: Ich möchte eine Musik schreiben, die eine direkte, populäre, unmittelbare Verbindung zum Publikum hat. Weiters verspüre ich in seiner musikalischen Welt das Echo von Schostakowitsch. Raskatov vermischt Genres, spielt mit stimmlichen Ex­tremen. Mit anderen Worten: Er gefällt mir, weil er seine Sprache nicht auf eine Orchesterübung oder eine Technikübung reduziert, sondern die Geschichte vor sich sieht. Er selbst hat ja auch viel am Libretto gearbeitet, um es besser ans Theater anzupassen. Und er hat ein großes theatralisches Gespür. Seine Musik, die Art und Weise, in der er Figuren erschafft, ist sehr theaterbezogen. Abgesehen davon war es sehr einfach, mit seiner Musik zu arbeiten, weil sie zahllose Möglichkeiten entbietet, um Figuren und eine Welt zu erschaffen. Seine Musik ist sehr reichhaltig, mitreißend. Und das ist meiner Meinung nach für das Publikum sehr, sehr schön!
 


Damiano Michieletto

Der Regisseur Damiano Michieletto studierte Opern- und Theaterregie sowie Literaturwissenschaft in Mailand und in Venedig, seiner Geburtsstadt. Mit der Inszenierung von Jaromír Weinbergers Schwanda, der Dudelsackpfeifer beim Wexford Festival 2003 gewann er einen Irish Times/ESB Theatre Award. Seine Karriere brachte ihn an alle wichtigen Orte des Musiktheaters, unter anderem zum Rossini Opera Festival in Pesaro, zu den Salzburger Festspielen, nach Glyndebourne, zum Maggio Musicale, an das Royal Opera House, Covent Garden in London, an die Mailänder Scala, an das Teatro La Fenice in Venedig, nach Berlin, Neapel, München, Paris, Rom, Tokio, Dresden, Barcelona, Madrid und Wien. Michielettos Inszenierungen umfassen Werke der gesamten Operngeschichte, unter anderem Opern von Mozart, Puccini, Verdi, Donizetti, Rossini, Strauss und Britten. Zu seinen Arbeiten zählen auch eine Verfilmung von Puccinis Gianni Schicchi. In Amsterdam zeichnete er für die Uraufführung von Alexander Raskatovs Animal Farm verantwortlich – die Ko-Produktion ist gleichzeitig auch sein Debüt an der Wiener Staatsoper.