© Sara Schoengen

Von Mozart zu Florestan

Glaubt er, dass ich an seine elende Fiedel denke, wenn der Geist zu mir spricht?“, so soll Beethoven den Geiger Schuppanzigh der Legende nach angefahren haben, als dieser sich über technische Schwierigkeiten einer Komposition beschwerte. Hat Beethoven zumindest an die Stimmbänder seiner Sänger gedacht?

Benjamin Bruns: Ich glaube nicht, dass ihn so etwas interessiert hat. Er ist ganz grundsätzlich – auch in seinen anderen Vokalkompositionen – vom dramatischen Moment ausgegangen und hat diesen in Musik umgesetzt. Ob das für eine menschliche Stimme gesund oder gut darstellbar ist, war für ihn wohl Nebensache. Abgesehen davon, und ich glaube, dass man das sagen darf, hat Beethoven einfach nicht sehr viel von der Gesangsstimme verstanden. Manches ist in seinem Gesamtwerk nicht kantabel – aber das ist etwas, was man einfach so hinnehmen muss.

Nun hatte Beethoven vor "Fidelio" nur ein einziges Opernfragment geschrieben. Er war also nicht das, was man einen routinierten Musikdramatiker nennt.

Benjamin Bruns: Und das merkt man natürlich auch. Aber im Falle von Florestan in der ersten Version muss ich sagen, dass er überhaupt keine großen Herausforderungen an einen Tenor stellt, und ich denke, dass mir da alle Kollegen zustimmen werden. Dieser Florestan liegt deutlich tiefer als in der letzten Fidelio-Fassung – und es fehlt die Stretta am Ende der Arie. Und bekanntlich hat es diese Stretta ja in sich. Weil ich vorhin über die Kantabilität gesprochen habe – in dieser Fassung der Florestan-Arie ist Beethoven nichts vorzuwerfen, da ist nicht eine unsangbare Note.

Sie sprachen vorhin von Beethoven als Vokalkomponisten. Den Liederzyklus "An die ferne Geliebte" haben Sie eingespielt, die Messen sangen Sie schon vielfach.

Benjamin Bruns: An die ferne Geliebte ist großartig und herausfordernd, die Missa solemnis ein Mammutstück mit Fallstricken, Christus am Ölberge schließlich das Schwierigste – und eines meiner Lieblingsstücke. Nehmen wir als Beispiel den Liederzyklus: Beim ersten Aufschlagen der Noten denkt man sich: „Wer soll denn das singen?“ Ich habe den Weg gewählt, dass ich zunächst das Stimmtechnische ausgeblendet habe und mich nur fragte, was eigentlich vor mir liegt? Und da merkte ich, dass alles, was Beethoven schrieb, einen Sinn hat – solange man sich wirklich an Beethoven hält. Es gibt ja viele Traditionen, die sich in der Aufführungsgeschichte herausgebildet haben und immer weitergegeben werden, obwohl sie nichts damit zu tun haben, was Beethoven eigentlich meinte. Hält man sich aber an die Dynamik und die Agogik, die Beethoven will, dann bekommt alles einen neuen und richtigen Sinn. Falsch ist es also, wenn man die Ferne Geliebte aus dem Geiste der Schumann’schen Dichterliebe singt. Oder den Fidelio wie den Freischütz. Man darf zum Beispiel Tempoänderungen nur dort machen, wo sie wirklich auch stehen. Dann aber abrupt! Wenn Beethoven vor einem Tempowechsel ein Ritardando gewollt hätte, dann hätte er es hingeschrieben. Hier ist Vertrauen gefordert: Beethoven hat für seine Zeit sehr viele Vortragsbezeichnungen notiert – man muss nicht noch weitere hinzufügen. Was da steht, muss genug sein. Man fügt einer Mozart-Sonate ja auch nichts hinzu.

Traditionen bedingen aber auch Hörgewohnheiten. Wie kommt man gegen diese an?

Benjamin Bruns: Hörgewohnheiten und Erwartungshaltungen sind so eine Sache. Wenn man zum Beispiel untersucht, wie das französische Opernrepertoire bis in die 1950er- und 1960er-Jahre gesungen wurde, dann hört man einen gänzlich anderen Stil bzw. Stimmtypus: leichte, hohe, lyrische Tenöre. Irgendwann kamen dann schwerere Stimmen und heute wünscht sich das Publikum genau solche – einfach, weil es sie gewohnt ist. Nun denke ich, dass es das Recht des Publikums ist, Vorlieben zu  haben und es auch keinen Sinn hat, da radikal gegenzusteuern – wir machen Theater schließlich nicht für uns, sondern für das Publikum. Andererseits kann man den Zuhörern zeigen, dass es auch andere Möglichkeiten gibt.

Also eine Pluralität der Stile.

Benjamin Bruns: Absolut. Ich finde ja, dass man Bach mit einem historisch informierten Ensemble, aber ebenso mit heutigem Instrumentarium spielen kann. Das befruchtet sich gegenseitig. Ich bin entschieden gegen ein Schubladendenken. Kein Entweder-Oder!

Ihr Florestan-Ahnvater, Carl Demmer, sang neben der "Fidelio"-Uraufführung 1805 praktisch zeitgleich den Mozart’schen "Titus". Aus diesem stilistischen Blickwinkel muss man den Florestan also anlegen?

Benjamin Bruns: Ja, von der musikalischen Anlage aus gesehen, auch in der Ausarbeitung der Orchesterbegleitung, ist vieles vom 1805er- Fidelio sehr klassisch-mozartisch. Insofern kann man sich ihm gesanglich direkt von Mozart aus nähern. Der Florestan von 1805 gleicht einer Mozart-Rolle; der Florestan von 1814 ist da schon aus einem anderen Holz.

Das ist ihr erster Florestan in der 1. Fassung, den Florestan von 1814 sangen Sie ebenfalls noch nicht?

Benjamin Bruns: Nein, schon deshalb nicht, weil ich der Meinung bin, dass das eine Partie ist, die man nicht singen soll solange man noch unter 40 ist. Es hat natürlich seinen großen Vorteil: Ich habe so keine „andere“ Fassung im Ohr und muss nicht extra umlernen.

Vor Kurzem sangen Sie Ihren ersten Lohengrin, insofern ist der Florestan keine neue stimmliche Etappe für Sie?

Benjamin Bruns: Ich bin ohnehin gegen dieses System der strikt getrennten Fächer. In den Augen mancher hat man als Mozart-Sänger abgedankt, sobald man seinen ersten Wagner gesungen hat. Ich sehe das nicht so, das geht doch wunderbar nebeneinander! Und es hält die Stimme jung. Für viele große Sänger der Vergangenheit war eine solche Parallelität eine Selbstverständlichkeit…

Florestan bleibt auf der Bühne nicht viel Zeit für eine Entwicklung. Konstruieren Sie sich eine zusätzliche Ebene, indem Sie zur Anreicherung des Charakters eine unerzählte Vorgeschichte entwerfen?

Benjamin Bruns: Da geht jeder Sänger anders an die Sache heran. Ich bin jemand, der das eher aus dem Moment heraus entwickelt. Ich spekuliere also nicht lange, was Florestan gemacht haben könnte und warum er im Kerker sitzt. Tatsache ist: Er ist gefangen. Und: Es ist Unrecht. Diese beiden Punkte sind ausschlaggebend und lassen ausreichend Raum für eine Figurenentwicklung.

Das Gespräch führte Oliver Láng

Fidelio Urfassung (Leonore) | Ludwig van Beethoven
Premiere: 1. Februar 2020
Reprisen: 5., 8., 11.,14. Februar 2020

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