© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
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VON KURTÁG ZU MONTEVERDI

Im Oktober dieses Jahres erfuhr György Kurtágs Beckett-Vertonung Fin de partie an der Wiener Staatsoper ihre österreichische Erstaufführung. Es gelang die Erweiterung des Repertoires um eine der wesentlichen zeitgenössischen Opernpartituren. Aber dieses Ereignis ist auch deshalb wichtig, weil Becketts kanonischer Text, der in Kurtágs Oper eine so eindringliche musikalische Gestaltung erfährt, eine der Voraussetzungen aller ernstzunehmenden Theaterarbeit heute darstellt. Und zwar nicht erst, wo sich diese einer zeitgenössischen Partitur stellt, sondern ganz ebenso, wenn sie sich mit der Realisation historisch tradierter Werke befasst.

Im Rahmen der Einführungsmatinee zu Fin de partie nahm Staatsoperndirektor Bogdan Roščić auf Theodor W. Adornos berühmten Versuch, das Endspiel zu verstehen Bezug. Er zitierte daraus: »Die Interpretation des Endspiels kann darum nicht der Schimäre nachjagen, seinen Sinn philosophisch vermittelt auszusprechen. Es verstehen kann nichts anderes heißen, als seine Unverständlichkeit verstehen, konkret den Sinnzusammenhang dessen nachzukonstruieren, dass es keinen hat.«

Nicht anders und nicht präziser lässt sich die Aufgabe beschreiben, die heutigen Theaterschaffenden bei der Annäherung an Werke der Vergangenheit gestellt ist. 

Becketts Schreiben hat alle vermeintlich unverlierbare Sinnproduktion auch und gerade in Werken der Vergangenheit des Scheins überführt: Kunst heute verfügt über keine Botschaften mehr. Wie alle künstlerische Praxis, der es gelingt, ihrer eigenen Gegenwart gerecht zu werden, hat Becketts Schreiben rückwirkend die Wahrnehmung aller vorangegangenen Kunst verwandelt, oder richtiger: Diese selbst ist es, die sich in ihren innersten Zellen neu konfiguriert. Können Kunstwerke seit Beckett nicht mehr als Träger eines zeit- und geschichtsenthobenen, gar philosophisch formulierbaren Sinnes betrachtet werden, so ist die alleraufmerksamste Betrachtung und Analyse dieser Werke um so dringlicher geboten.

Die »Konstruktion des Sinnlosen«, die Adorno angesichts von Becketts Endspiel einforderte, verpflichtet die Interpreten zur wachen Ertastung ihrer historisch zutage getretenen Abbruchkanten und Risse, ihrer Leerstellen und Widersprüche. Nicht um die Vergegenwärtigung eines vermeintlich zuhandenen Sinnes dieser Werke kann es heute auf dem Theater gehen, sondern um die Vergegenwärtigung ihres präzise herauszuarbeitenden Nicht-Sinns. Ein solcher Zugang ist der einzige, der vor dekorativer und konzeptueller Beliebigkeit im Umgang mit diesen Kunstwerken zu schützen und ihnen den Status von Kunst im emphatischen Sinne zurückzuerobern vermag.

Und so darf es auch nicht überraschen, dass György Kurtág sich auf Vorgänger seines kompositorischen Schaffens beruft und berufen darf, von denen ihn Jahrhunderte trennen. Neben Modest Mussorgski oder Claude Debussy nennt er immer wieder einen Namen: Claudio Monteverdi, dessen Lebensdaten von 1567 bis 1643 reichen und der mit seinem Schaffen das erste halbe Jahrhundert Operngeschichte überspannt und definiert. »Monteverdis Anliegen«, so hat es Nikolaus Harnoncourt einmal formuliert, »ist die optimale Wirkung des Wortes, die Musik darf niemals davon ablenken, niemals Selbstzweck sein, sie muss, deutend und mitreißend, die Wortbedeutung untermalen und verstärken...«; somit sei, so Harnoncourt, der Ritorno d’Ulisse in patria im Prinzip als ein einziges großes Rezitativ aufzufassen, gegliedert von den Zwischenspielen des Orchesters.

Das ist eine durchaus einseitige Zuspitzung: Monteverdi wäre nicht der große Komponist, der er ist, schüfe er nicht bezwingende musikalische Strukturen und Architekturen. Ganz ebenso wie Kurtág ist ihm in seiner Odysseus-Oper das Wunder gelungen, aus der Musikalisierung zahlloser sprachlicher Einzelgesten einen großformatigen Zusammenhang zu stiften.

ZERBRECHLICHE HELDEN

Seiner Oper hat Monteverdi einen Prolog vorangestellt. Dieser formuliert eine ganz eigene Perspektive auf das überlieferte antike Heldenepos. Er lenkt nämlich den Fokus auf die menschliche Zerbrechlichkeit. Deren Verkörperung wird in ihrem Ausgeliefertsein an die Gewalten der Zeit, des Zufalls und der Liebe gezeigt. Dieser Prolog ist ein deutlicher Fingerzeig darauf, dass uns, auch wenn der Oper das homerische Epos zugrunde liegt, keine lineare Nacherzählung erwartet.

Vielmehr arbeiten Monteverdi und sein hervorragender Textdichter Giacomo Badoaro in ihrer Theatralisierung der Gesänge XIII bis XXIII der Odyssee die schmerzhaften Risse und Brüche und unausgesprochenen Widersprüche in der vermeintlichen Kontinuität des Geschehens heraus. Die Wiener Inszenierung von Jossi Wieler, Sergio Morabito und Anna Viebrock setzt in Monteverdis Oper – in engster Tuchfühlung mit dem Wortlaut der Dichtung und der Struktur ihrer Vertonung – eine subkutane Dynamik der Entmythologisierung frei. Die den Figuren rezeptionsgeschichtlich zugesprochene Heroik wird dabei mit einem Fragezeichen versehen, im Versuch, ihnen ihre fragile menschliche Würde zurückzugewinnen.

Der quecksilbrige Georg Nigl in der Rolle des Titelhelden spielt einen wirklich Gealterten, eine ungerechte, teilweise bösartige, in ihren Widersprüchen nicht unkomische Figur. Wir verfolgen den Geschichten-Erfinder und Identitäten-Schwindler in seiner Sprunghaftigkeit mal als vom Tode umflorten Greis, mal als lüsternen Pantalone, als Schelm und Landstreicher, Hochstapler und Lügenbaron. Dabei ist dem Irrfahrer selbst seine Identität nicht weniger maskenhaft-ungewiss geworden als den von ihm Getäuschten und Betrogenen. Hinter den Masken liegt eine existentielle Erschöpfung und die Überforderung durch Minervas maßlosen Racheplan.

Denn es ist die Göttin, die Ulisse zum unfreiwilligen Exekutor seines eigenen Mythos macht. Bei Monteverdi haben die olympischen Götter ihre angestammte Macht verloren und trachten danach, diese zurückzuerzwingen.

Ulisse wird für dieses Vorhaben gefügig gemacht und missbraucht – ausgerechnet Ulisse, der als junger Mensch ein Aufklärer und Rebell gewesen war, der die Grenzen im Denken und die Grenzen der Heimat überschritten und sich in unbekannte Welten hinausgewagt hatte. Monteverdi zeigt, dass und wie es den Göttern gelingt, diese Entwicklung rückgängig zu machen und die Menschen erneut ihrer Macht zu unterwerfen.

Penelope ist keine Ikone fragloser ehelicher Treue und Selbstzurücknahme, sondern eine durch den Liebesverrat Ulisses traumatisierte Frau. Ihre Zurückweisung der sie erotisch bedrängenden Freier geschieht in der Oper weniger aus Treue zu Ulisse oder weil sie unempfindlich wäre für deren Werbung, sondern aufgrund ihrer Verwundung durch die Liebe zu ihm, aus panischer Angst, in ihrer Liebe wieder verletzt, wieder enttäuscht, wieder betrogen zu werden; auch dies eine deutliche Verschiebung, welche die Autoren der Oper in der motivierenden Deutung ihres Verhaltens vornahmen.

Ebenso entscheidend aber ist, dass Penelope in der Wiener Lesart ihrer Figur ab einem bestimmten Moment ihre Selbstbestimmung und das Heft des Handelns zurückgewinnt. Als sie nämlich ihren zurückgekehrten Mann hinter seiner Vermummung als alter Bettler beim allerersten Anblick erkennt – ohne es sich anmerken zu lassen. So wird die Bogenprobe der Freier zum Spiel, das sie inszeniert, und in dem er mitwirkt, ohne zu verstehen, was wirklich geschieht. Die blutige Eskalation dieses Spieles aber hat Penelope nicht voraussehen können: das Massaker an den Freiern. Die von ihr gestellte Aufgabe bestand darin, die Sehne auf den Bogen aufzuspannen, und nicht darin, Menschen umzubringen.

So wird Penelope Zeugin von Ulisses kriegerischer Verrohung. Es geschieht nach der Abschlachtung der Freier durch Ulisse, dass Penelope sich erstmals im Stück als Witwe bezeichnet – nachdem sie zuvor die Annahme eines möglichen Todes ihres verschollenen Gatten stets von sich gewiesen hatte. Ihr unfassbar langes Zögern, in dem Heimgekehrten ihren nach dem Trojanischen Krieg verschollenen Mann anzuerkennen, wird in der Wiener Aufführung überaus schlüssig: Jener Ulisses, der sie vor zwanzig Jahren verließ, ist nicht der, der nach zehn Jahren Krieg und zehn Jahren Irrfahrt zu ihr zurückfindet.

Erst ganz zuletzt meint sie in dem Fremden doch noch einen Funken jenes Menschen glimmen zu spüren, den sie einst geliebt und geheiratet hatte. Monteverdis Unheld bezeichnet sich an dieser Stelle als »Überrest der Asche, Abfall des Sterbens«. Es ist einer von vielen Beckett-nahen Momenten dieser Oper aus dem Jahre 1643, die in dieser Wiener Aufführung aus dem Jahre 2023 zu erleben sind.