© Peter Mayr
Roms Glockenklang – live von der Hinterbühne der Wiener Staatsoper

VON GLOCKEN UND KANONEN

Auch große Geister sind vor Irrtümern nicht gefeit. Bekannt ist die Geschichte, dass Gustav Mahler spöttisch lachend eine Vorstellung von Puccinis Tosca verließ, weil ihm Handlung, aber auch Musiksprache zu derb erschienen. Womit er übrigens nicht alleine war, auch Großkritiker wie Julius Korngold sprachen nach der Wiener Erstaufführung 1903 von »Folterkammermusik« oder Schlimmerem. Wie schrieb Mahler an seine Frau Alma? »Im ersten Akt Aufzug des Papstes mit fortwährendem Glockengebimmel … im 3. Akt wird wieder mit der Aussicht von einer Citadelle auf ganz Rom riesig gebimbambummelt, wieder eine ganz andere Partie Glocken. Man braucht ja wohl nicht zu sagen, dass das Ganze wieder ein Meistermachwerk ist.«

Das »Gebimbambummeln« freilich hat es durchaus in sich. Denn: Wie Mahler aus seinem eigenen Schaffen wusste, ist es gar nicht so einfach, Glockengeläut in einem Saal erklingen zu lassen. Warum? Aus vielen Gründen. Erstens, weil die herkömmliche (Kirchen-)Glocke, wenn sie einen entsprechend tiefen Ton bieten soll, die Dimensionen eines Konzert- oder Theaterbaus sprengt. Mit diesem Problem sah sich übrigens schon Richard Wagner in seinem Parsifal konfrontiert und bis heute zerbrechen sich Musikerinnen und Akustiker den Kopf, wie man ein ordentliches Gebimbambummel ins Theater bekommt. Michael Kahlig, Mitglied des Bühnenorchesters, das für diese Tosca-Klänge zuständig ist, umreißt das Problem: »Je tiefer ein Glockenton klingen soll, desto größer muss die Glocke sein. Aber wo soll man sie aufhängen? Wo sie lagern? Vor allem, wenn man mehrere braucht. Eine auf das Kontra-E gestimmte Glocke zum Beispiel, die Puccini vorschreibt – er orientierte sich dabei an einer Glocke des Petersdoms –, hat eine Dimension, die in keinen Theaterbau passt. Wir fragen uns heute, wie man das Problem bei der Tosca-Uraufführung gelöst hat? Heute kann man sich vielleicht mit elektronischen Klängen helfen, aber damals?« Wie also? »Wahrscheinlich wurde nach oben oktaviert, anders ist es nicht vorstellbar. Womöglich meinte Puccini einfach: So tief wie nur möglich.«

Eine heutige Möglichkeit ist also: Elektro-Akustik. Man nimmt Glocken an anderen Orten, vorzugsweise in Kirchen, auf und spielt sie über das Lautsprechersystem des Opernhauses ein, nachdem man gegebenenfalls den Klang am Computer bearbeitet hat. Die andere Möglichkeit: Röhrenglocken. »Diese sind auf bestimmte Tonhöhen gestimmt und im Idealfall klingen sie tatsächlich wie Kirchenglocken«, meint Kahlig. »Zwar stößt man auch hier irgendwann an Längengrenzen, denn umso tiefer desto länger, aber zumeist bekommt man es hin.« Wobei die Staatsopern-Röhrenglocken, die für das Publikum unsichtbar im Halbdunkel der Seitenbühne gespielt werden, ein Geheimnis bergen: »Wir besitzen Instrumente, die vor vielen Jahrzehnten angeschafft wurden und so gut sind, dass sie nach wie vor im Einsatz bleiben. Niemand weiß, aus welcher Legierung sie eigentlich bestehen, aber kein heute gebautes Instrument kommt ihnen klanglich nahe. Sie werden demnach gehütet wie ein Schatz.«

Welche der beiden Möglichkeiten an der Wiener Staatsoper bei der Tosca zum Einsatz kommt, hängt auch vom Dirigenten ab, der seine Wünsche und Vorlieben durchsetzen kann. Für gewöhnlich erklingt eine Mischung aus Elektronik und Röhrenglocken, gespielt von insgesamt drei Bühnenmusikern. Glockenhöhepunkt ist dabei sicherlich der Beginn des dritten Aktes, von Giacomo Puccini atmosphärisch kunstvoll komponiert. Da wird das morgendliche Kirchengeläut des erwachenden Roms intoniert, ein Chor vieler Kirchen und Glocken. »Man fürchtet förmlich, dass gesprochen oder gesungen werde, so fein, so zart ist der Schleier behutsam abgestimmter Klänge«, schrieb Die Zeit anlässlich der Wiener Erstaufführung. Puccini, so die Legende, soll eigens nach Rom gefahren sein, um sich den authentischen Klang von der Stadt abzuhorchen. »Die Herausforderung ist«, beschreibt Kahlig das musikalische Leben hinter der Bühne, »dass die Röhrenglocken eine solche Lautstärke entwickeln, dass wir das Orchester gar nicht mehr hören. Wir sind dann auf uns selbst gestellt und wissen eigentlich nicht mehr, ob wir mit den anderenInstrumenten noch zusammenspielen.« Der Blick ist in solchen Fällen auf den Bühnenmusik-Dirigenten gerichtet, der den Überblick zu wahren hat.

Doch das Bühnenmusik-Schlagwerk bei Tosca setzt noch weitere hörbare Akzente. Auch der Kanonenschuss, der im 1. Akt von der Flucht Angelottis kündet, kommt von den Musikern. Natürlich ist auch hier ein spezielles Instrument im Einsatz, eines, das der Einfachheit halber »die Kanone« genannt wird. »Eine Extraanfertigung«, erklärt Kahlig. Und wie könnte es anders sein: »Auch sehr alt und in dieser Form heute nicht mehr erhältlich.« Es handelt sich um eine überdimensionale Trommel, die mit einem dicken Büffelfell bespannt ist und einen lauten, sonoren, weichen Klang erzeugt. »Eine Pauke würde man als Pauke wahrnehmen. Viel zu hoch, mit einem definierten Ton. Niemand dächte an einen Kanonenschuss. Bei diesem Instrument aber hört man keinen eigentlichen Ton, sondern einen runden, satten Laut. Eben: eine Kanone aus der Ferne.« Notiz am Rande: Weil das Instrument so wummrig und fern klingt, kommt »die Kanone« auch zu anderen Gelegenheiten zum Einsatz, bei einem Donnergrollen etwa. Je nach Geschmack des Dirigenten.

Über den akustischen Blindflug im Glockengetümmel sprachen wir schon. Nun aber die naheliegende Frage nach der Angst des Kanonenschützen vor dem einzigen, sehr gut hörbaren und exponierten Schuss. Kribbelt es einem im Bauch, wenn man weiß, dass jetzt ein ganzes Haus auf den präzisen Kanonenton wartet? Kahlig: »Manchmal ist es einfacher, einen Abend durchzuspielen, als eine einzige Chance zu haben. Wenn ich beim Kanonenschuss zu früh oder spät komme, kann ich es nicht mehr gutmachen oder ausgleichen. Es ist also nichts weniger als ein solistischer Einsatz.« Also: Nervös? »Nach all den Jahren nicht mehr wirklich nervös, aber eine Anspannung fühlt doch jeder von uns. Was aber auch gut ist, denn so bleibt die Konzentration auf einem hohen Niveau.«