© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

VON DER LIEBE TOD

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Der von Lorenzo Viotti dirigierte und von Calixto Bieito inszenierte Musiktheaterabend verbindet zwei Schlüsselwerke Gustav Mahlers: Die frühe Kantate des 19jährigen Das klagende Lied (1879/80) mit den späten Kindertotenliedern aus der ersten Hälfte seines letzten Lebensjahrzehnts (1901/04). »Auch wenn mir im allerersten Moment noch nicht klar war, wie diese Kombination als Einheit auf der Bühne funktionieren würde,« so Lorenzo Viotti in der Rückschau, »war die Erarbeitung eines neuen Werkes – und Von der Liebe Tod ist letztlich etwas komplett Neues – zu reizvoll und verführerisch, auch weil es soviel spannender, unmittelbarer, an Überraschungsmomenten reicher, sicher auch risikobehafteter ist, als die Neuproduktion eines Klassikers des Opernrepertoires.« Schließlich seien es gerade solche künstlerischen Auseinandersetzungen, die das Theater jung hielten. Mahler betrachtete das Klagende Lied als sein eigentliches, vollgültiges »Opus 1«, in das auch eine Reihe nie realisierter Opernpläne aufging. Seiner Chronistin Natalie Bauer-Lechner vertraute der Komponist 1893 an: »Ich kann Dir sagen, ich bin paff über dieses Werk, seitdem ich es wieder unter den Händen habe. Wenn ich bedenke, dass das ein 20-jähriger Mensch geschrieben, kann ich es nicht begreifen – so eigenartig und gewaltig ist es! [...] Ich zähle es als 1. Werk, in dem ich mich als »Mahler« gefunden habe.«

Jeder Hörer von Das klagende Lied wird dieses Erstaunen des Schöpfers teilen, das ihn ergriff, als er die unaufgeführt liegengebliebene Partitur nach 13 Jahren wieder vornahm.

Gleich nach ihrer durchaus mühevollen Vollendung im November 1880 – »ein wahres Schmerzenskind, an dem ich schon über ein Jahr arbeite« bekennt der 19jährige – hatte der frischgebackene Absolvent des Wiener Konservatoriums alles Erdenkliche unternommen, um sein »Märchenspiel« zu lancieren: Er hatte es beim Wiener Beethovenwettbewerb eingereicht, sich um eine Aufführung im Rahmen des Deutschen Tonkünstlerfestes in Weimar bemüht und einen Verleger gesucht – einerseits. Andererseits kann es ihn nicht wirklich überrascht haben, dass das Stück den Kompositionspreis nicht erhielt, ihm die Partitur aus Weimar – von Franz Liszt mit einem schmallippigen Kommentar versehen – retourniert wurde und kein Verleger ein unnötiges Risiko eingehen wollte. Mahler muss klar gewesen sein, dass allein schon der gigantische Apparat, den die Partitur verlangt, von der Zunft als anmaßend, wenn nicht als Zeichen von Größenwahn betrachtet würde: Neben einem opulent besetzten Hauptorchester disponiert er ein 20-köpfiges Fernorchester, dazu gemischten Chor, ein Gesangssolistenquartett, Knabensopran und Knabenalt. Späteren Revisionen fielen unter anderem das Fernorchester, der 1. Satz sowie die immens anspruchsvollen Knabenstimmen aus rein pragmatischen Gründen zum Opfer, weshalb in der Staatsoper im Wesentlichen die Urfassung erklingt (unter Berücksichtigung einiger weniger, bei Mahlers Neubegegnung mit eigenen Werken ja stets üblichen Retuschen). Aber diese Anmaßung betraf nicht nur die äußeren Koordinaten und Dimensionen. Die musikalische Dramaturgie des »Märchenspiels« ließ alle gewohnten Formate hinter sich. Mahler hat als sein eigener Textdichter das in den Sammlungen der Brüder Grimm und Ludwig Bechstein tradierte Märchen vom singenden Knochen in eine dreiteilige Ballade verwandelt:

I. WALDMÄRCHEN

Eine stolze Königin macht ihre Hingabe von dem Fund einer roten Blume abhängig. Zwei Brüder machen sich im Wald auf die Suche. Der jüngere ist bald erfolgreich. Er steckt sich die Blume an den Hut und legt sich unter eine Weide. Der ältere findet den Schlafenden und erschlägt ihn.

II. DER SPIELMANN

Ein Spielmann findet am Fuß der Weide einen Knochen, aus dem er sich eine Flöte schnitzt. Als er sie an die Lippen setzt, singt sie ein klagendes Lied: »Um ein schönfarbig Blümelein hat mich mein Bruder erschlagen.« Der Spielmann lässt das Lied in der Welt erklingen.

III. HOCHZEITSSTÜCK

Im Schloss feiert man die Hochzeit der Königin mit dem vermeintlichen Entdecker der Blume. Nur der König selbst scheint keinen Anteil zu nehmen. Da tritt der Spielmann auf und lässt die Knochenflöte erklingen. Als der König das Instrument an seine Lippen reißt, richtet es seine Anklage direkt an ihn. Die Königin sinkt zu Boden, die Hochzeitsgäste fliehen, das Schloss stürzt ein.

Mit dieser altertümelnden Balladendichtung scheint Mahler anzuknüpfen an ein in der Musizier- und Konzertpraxis seiner Zeit etabliertes Sujet: Das Märchen vom klagenden, bzw. »begrabenen« Lied, das die Seele eines Ermordeten in Knochen-, Tier- oder Pflanzengestalt anstimmt und seinen Mörder damit entlarvt. Es wurde mehrfach als Melodram, also als Rezitation mit Klavier- oder Orchesterbegleitung, sowie als Kantate vertont. Kein Geringerer als Schumann hatte 1852 die das gleiche Motiv variierende Ballade Vom Pagen und der Königstochter als großes Konzertstück für Chor, Soli und Orchester gesetzt. Doch Mahlers »Revolte wider die bürgerliche Musik«, von der Adorno sprach, katapultiert sich heraus aus den Darstellungs- und Rezeptions-Verabredungen seiner Epoche. Anders als bei seinen Vorgängern und Zeitgenossen gibt es keine gesicherte Erzähler- und Rezipienten-Position mehr. In Schumanns Chorballade gibt es ganz klar durchgeführte Figuren, die Altistin fungiert als Erzählerin, Sopran und Tenor verkörpern das Liebespaar, der Bariton ist der König, es gibt einen Meermann und eine Meereskönigin usw. Der Hörer kann sich in jener komfortablen Distanz einrichten, aus der man in einem bürgerlichen Interieur einen Öldruck betrachten mag.

Bei Mahler werden wir hineingerissen in einen musikalischen Mahlstrom, der die Geschichte weniger zu erzählen als zu halluzinieren scheint. Die Musik selbst ist es, die den Albtraum eines katastrophischen Geschehens träumt. Sie berichtet nicht, sondern in ihr ereignet sich die Katastrophe unmittelbar. Dabei wird der Text der Ballade auf die Stimmen des aus Sopran, Alt, Tenor und Bariton gebildeten Vokalquartetts und des Chores verteilt, doch ohne, dass diese sich zu Rollenträgern oder einer Erzählergestalt verfestigen würden. Es ist, als würde das gewaltige Orchester, das ihre Stimmen nach oben spült, sie auch wieder verschlucken. Einzig das Lied des singenden Knochens ist an die beiden Kinderstimmen gebunden, wobei ihre Aufspaltung auch hier jede eindeutige Identifizierung unmöglich macht. Und immer wieder organisiert Mahler zeitliche Verwerfungen und Verschiebungen des traumhaft in die Schwebe gehoben Geschehens: so etwa das zentrale Ereignis des Brudermords, das buchstäblich nicht mehr zu lokalisieren ist – kurz bevor er sich ereignet beschwört die Sopranistin zunächst den Gesang von Nachtigall und Rotkehlchen, dann wird das Bild des drohend geschwungenen Schwertes von einem musikalischen Idyll überblendet, in dem das traumverklärte Lächeln des Mordopfers besungen wird. Hector Berlioz hatte bereits in den 30er und 40er Jahren des 19. Jh. mit spektakulären Fernorchester- Effekten experimentiert, als einer der ersten und kühnsten hatte er »le point de départ des sons«, also »den Ausgangspunkt der Klänge« ins kompositorische Kalkül mit einbezogen: »Indem man den Zuhörer in größerer oder geringerer Distanz zu den Ausführenden platziert und die Instrumentengruppen auch untereinander voneinander entfernt, erhält man Modifikationen des musikalischen Effekts, die noch nicht genügend Beachtung gefunden haben.« Berlioz stellte sich ganz bewusst in die Tradition des »Plein Air«, der Freilichtspektakel und Umzüge der französischen Revolution. Mahler hat genau diesen Aspekt radikalisiert, zugunsten seiner Definition von »Polyphonie«. Mit Polyphonie meinte Mahler jenen Hang zum chaotisch Tönenden, zur regellosen, zufälligen Gleichzeitigkeit der »Welt«, – zum »weltlich Getümmel« – dessen Echo seine Musik auffangen will. Natalie Bauer-Lechner berichtet: »Als wir nun sonntags darauf mit Mahler denselben Weg gingen und bei dem Feste auf dem Kreuzberg ein noch ärgerer Hexensabbath los war, da sich mit unzähligen Werkeln von Ringelspielen und Schaukeln, Schießbuden und Kasperlntheatern auch Militärmusik und ein Männergesang dort etabliert hatten, die alle auf derselben Waldwiese ohne Rücksicht aufeinander ein unglaubliches Musikzieren vollführten, da rief Mahler: »Hört ihr’s? Das ist Polyphonie und da hab ich sie her! Schon in der ersten Kindheit hat mich das so eigen bewegt und sich mir eingeprägt. Denn es ist gleich viel, ob es in solchem Lärme, oder im 1000fältigen Vogelgesang, oder im Heulen des Sturmes oder im Knistern des Feuers ertönt. Gerade so, von ganz verschiedenen Seiten her müssen die Töne kommen und so völlig unterschieden sein in Rhythmik und Melodik – alles andere ist bloß Vielstimmigkeit und verkappte Homophonie.« An einer Stelle im 2. Satz/Der Spielmann, darauf macht Lorenzo Viotti aufmerksam, und zwar bei der Warnung des Chores an den Spielmann, das Spiel auf der Knochenflöte besser unversucht zu lassen, »trifft zur gleichen Zeit das C-Dur des Fernorchester, das (rhythmisch anders geartete) Ces-Dur des Grabenorchesters und der von den Kontrabässen gespielte Orgelpunkt in F aufeinander – wieder zusätzlich verdichtet durch den Chor. Der harmonische Mut Mahlers, diese Dissonanzballungen könnten zunächst einen Druckfehler vermuten lassen!«

Das Pandämonium, das Mahlers Fernorchesters dann im 3. Satz/dem Hochzeitsstück entfesselt, ist beispiellos. Es wird zum Teil einer Entgrenzungsstrategie, die das von den anderen Stoffbearbeitungen zum schauerlich-besinnlichen Genrebild verniedlichte Märchen zu einem Gleichnis des Weltlaufs werden lässt. Das Diktum des späten Mahler: »Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen«, gilt ohne Einschränkung bereits für dieses Werk. Und die Welt, die Mahler im Klagenden Lied erstmals aufbaut, ist eine toxische. Seine Partitur arbeitet mit Naturklängen und -Motiven der romantischen Tradition, doch anders als in der Wagner’schen Kosmogonie, wo sie einen in sich ruhenden Urzustand symbolisieren, sind sie von Anfang an verfremdet und verseucht. Die harmonische Beklemmung der Anfangstakte führt im Laufe einer 60minütigen Jagd in den Abgrund zu frenetischen Steigerungen, um sich erst ganz am Ende schockhaft zu lösen, beim Zusammenbruch der todverfallenen, auf Kälte, Mord und Lüge errichteten Welt.

Die Einheit des Mahler’schen Ingeniums, dem es im emphatischen Sinne immer »ums Ganze« geht und das im apokryphen »Opus 1« des Klagenden Lieds schon ganz gegenwärtig ist, hat es dem Leading Team um Calixto Bieito und Lorenzo Viotti als möglich und richtig erscheinen lassen, es mit den reifen Kindertotenliedern zu einem Musiktheaterabend zu verbinden. Noch einmal sei Lorenzo Viotti zitiert: »Wenn das Klagende Lied mit einem letzten, an Mahlers 6. Symphonie gemahnenden gewaltigen Akkord in dreifachem Forte endet, gleichsam als ob die Guillotine herunter- gesaust wäre, bedarf es geradezu dieser überlangen, gespannten Stille des emotionalen Niemandslandes zwischen den beiden Stücken und der darauffolgenden einsamen Oboe, die ihre Stimme erhebt und das intime erste Kindertotenlied (»Nun will die Sonn’ so hell aufgeh’n!«) einleitet. Etwas Furchtbares ist geschehen, was das Scheinen der Sonne für immer verändert hat. Das Gewaltige musste einer unsagbaren Verlorenheit Platz machen. Grandios!«

Als Regisseur hat Bieito stets die kreatürliche Leiblichkeit des Menschen, ihre Heimatlosigkeit, ihre Gefährdung und Gefährlichkeit, als Zielpunkt angesteuert. Es kann nicht überraschen, dass er neben seiner Opern- und Theaterarbeit auch mit szenisch-theatralen Umsetzungen ursprünglich nicht für die Bühne gedachter, oft geistlich inspirierter Werke experimentiert: Neben der Verdi’schen Messa da Requiem, Bachs Johannes-Passion oder Monteverdis Marienvesper hat vor allem auch seine Inszenierung von Brittens War Requiem Aufsehen erregt. Der Regisseur liest aus Mahlers Partituren seine eigenen ungeschützten Fragen an einen apokalyptischen Weltlauf heraus. Dabei war ihm James Bridles vieldiskutiertes Buch New Dark Age – Der Sieg der Technologie und das Ende der Zukunft ein wichtiger Bezugspunkt: Bühnenbildnerin Rebecca Ringst hat räumliche und bildnerische Metaphern für den digitalen Big-Data-Overkill gestaltet, auf den unsere Zivilisation zutaumelt. Bieitos an der Seite des Dirigenten Lorenzo Viotti erarbeiteter Mahler-Abend an der Staatsoper verspricht eine bewegende Neuentdeckung Mahlers, des »fremden Vertrauten« oder auch »unbekannten Bekannten«, wie er genannt worden ist.
 

VON DER LIEBE TOD
Das klagende Lied. Kindertotenlieder. 6./8./11./16.Mai2023
Musikalische Leitung Lorenzo Viotti
Inszenierung Calixto Bieito
Bühne Rebecca Ringst
Kostüme Ingo Krügler
Licht Michael Bauer
Mit Vera-Lotte Boecker – Ileana Tonca / Tanja Ariane Baumgartner / Daniel Jenz / Florian Boesch

Text Sergio Morabito