© Thomas Aurin

VERWEIGERUNG DER ÜBEREINSTIMMUNG

Ann-Christine Mecke

Frank Castorf darf als der einflussreichste Regisseur der letzten Dekaden bezeichnet werden. Nicht nur sein Umgang mit Texten, die Spiel- und Sprechweisen seiner Schauspielerinnen und Schauspieler sowie die überbordenden Strukturen seiner Inszenierungen haben das Theater weltweit verändert, sondern auch die ebenso monumentale wie sperrige Ästhetik der Bühnenräume und Kostüme, die besonders stilprägend von Bert Neumann († 2015) gestaltet wurden. Auch über die Inszenierungen hinaus war die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz unter der Leitung von Frank Castorf und Bert Neumann ein herausforderndes Vorbild für Theaterinstitutionen: Sie war ein kulturelles Zentrum ohne Genregrenzen, das auch als Nachtclub, Notunterkunft für Obdachlose oder politisches Diskussionszentrum dienen konnte.

Castorf begann 1978 als Regisseur an verschiedenen DDR-Stadttheatern. 1988 inszenierte er zum ersten Mal an der Volksbühne, ab 1989 auch an westdeutschen Theatern. 1992 wurde er Intendant der Volksbühne – und blieb bis 2016. Seitdem arbeitet Castorf wieder als freier Regisseur an verschiedenen Institutionen, wie er es immer auch parallel zu seiner Volksbühnenintendanz getan hat. Insgesamt hat er weit über 100 Inszenierungen geschaffen.

Eine Aussage zieht sich durch alle Interviews und alle künstlerischen Arbeiten Castorfs: Übereinstimmung ist ihm verhasst. Damit ist einerseits der falsche gesellschaftliche Konsens gemeint – das Negieren von unterschiedlichen Interessen und Machtgefallen zugunsten einer verlogenen Harmonie. Immer wieder provoziert Castorf den gesellschaftlichen Konsens nicht nur durch seine Kunst, sondern auch durch herausfordernde Äußerungen und Haltungen in Interviews. Gleichzeitig ist Castorfs Übereinstimmungsvermeidung auch ein Kennzeichen seiner Kunst: »Es ist mir wichtig, eine These zu setzen und sie vehement zu negieren, ohne danach sofort zur Synthese durchzudrucken, sondern sie eher offenzulassen. Ich bin für die Irritation, das mephistophelische Prinzip der Verneinung, ohne zu sagen für wen, warum und wieso, ich mochte diesen Schwebezustand zwischen ja und nein, nicht wissend, wohin sich in diesem Augenblick etwas mit einer Antwort entwickelt.« Brüche, Aus-der-Rolle-fallen, Kommentare über den gesprochenen Text, Kalauer, Ironie und Distanz zum Gespielten sind Mittel, die Übereinstimmung auf der Bühne zu verweigern.

Castorfs Aufführungen haben oft einen collagenhaften Charakter: Verschiedene Elemente wie Text, Gestik, Musik, Video, Bühne und Kostüm ergänzen sich in teils widersprüchlicher Weise und fordern die Interpretation immer wieder neu heraus. Technische Medien, insbesondere Video, spielen in Castorfs Kunst schon seit den 80er-Jahren eine wichtige Rolle. Sie stellen Bezuge zur mediengefilterten Gegenwartserfahrung her, konterkarieren das Bühnengeschehen oder assoziieren Bildwelten. Die Verwendung von Live-Video wurde ab 1999 zu einem charakteristischen Element vieler Castorf-Inszenierungen. Angeregt wurde diese Entwicklung ebenfalls von Bert Neumann, der erstmals geschlossene Räume als Bühnenräume entwarf, die nur mit Hilfe von Videokameras einsehbar waren. Die Kameraleute sind dabei in der Regel nicht versteckt, sondern sichtbare Partner auf der Bühne.

Allen technischen Mitteln zum Trotz lebt Castorfs Theater vor allem von den Darstellerinnen und Darstellern, die körperlich aufs Äußerste gefordert und oftmals zur Improvisation aufgefordert sind. Elemente ihrer »privaten« Persönlichkeit, »natürliche« Reaktionen wie Erschöpfung, Schmerz, Überraschung und Überforderung werden zum Bestandteil der Aufführung. Wie lasst sich ein solches Theater auf die Oper übertragen? Lassen sich körperliche Extremzustande mit Sängerinnen und Sängern realisieren, wenn im Operngesang Perfektion und feinste musikalische Kontrolle gefordert ist, und die Notentexte wenig Gelegenheit für Improvisation bieten? Wie kann die Gleichzeitigkeit einer These und ihrer Negation im Gesang umgesetzt werden, obwohl die klassische Gesangsästhetik kein »ironisches« Singen vorsieht?

Vielleicht hat es mit diesen besonderen Herausforderungen zu tun, dass Frank Castorf erst relativ spät zum Musiktheater fand. Und die erste Musiktheaterproduktion – Johann Strauß‘ Die Fledermaus am Hamburger Schauspielhaus 1997 – war bezeichnenderweise ganz den Techniken seiner Schauspielinszenierungen verschrieben. Die erste durchkomponierte Oper (Giuseppe Verdis Otello 1998 in Basel) war zwar ein Erfolg, doch dauerte es zehn Jahre, bis sich Castorf erneut einer musikalisch unbearbeiteten Oper zuwandte, Wolfgang Rihms Jakob Lenz bei den Wiener Festwochen.

Drei Jahre später gaben die Bayreuther Festspiele die Sensation bekannt: Den Ring des Nibelungen im Jahr des 200. Geburtstags von Richard Wagner sollte Frank Castorf inszenieren. Eine von beiden Seiten mutige Entscheidung, wenn man die geringe Opernerfahrung des Regisseurs, die schwierigen Produktionsbedingungen in Bayreuth sowie die enormen Erwartungen an ein solches Vorhaben berücksichtigt. Auch war die Vorbereitungszeit ausgesprochen kurz – Frank Castorf wurde erst nach Absage von Wim Wenders angefragt. Umso erstaunlicher ist das Ergebnis.

Für diese Produktion fand sich das Team zusammen, das auch alle folgenden Opernprojekte (und auch die eine oder andere Schauspielinszenierung) gemeinsam realisierte: Neben Frank Castorf Aleksandar Denić als Bühnenbildner (beide hatten bereits 2013 zusammengearbeitet) und Adriana Braga Peretzki als Kostümbildnerin, die seit 2007 regelmäßig mit Frank Castorf gearbeitet hatte. Oft ist auch Lothar Baumgarte als Lichtdesigner beteiligt. Bei der Arbeit an Wagners Opernzyklus etablierte dieses Team einen Grundaufbau, der nicht nur für die vier Ring-Teile funktionierte, sondern sich als flexibel genug für andere Werke erwies und die von Castorf stets gesuchte Collagenform und inneren Widerspruche bereits in sich enthielt: Auf einer Drehbühne erlaubt ein monumentales, assoziations- und detailreiches Bühnenbild wechselnde Schauplatze ohne Umbauten. Aleksandar Denić, der lange als Set Designer für Film und Fernsehen gearbeitet hat, kombiniert dafür realistische Elemente verschiedener Herkunft zu surrealistischen Welten. Zwei Kameraleute auf der Bühne fangen Bilder an nicht einsehbaren Orten des Bühnenbilds sowie Nahaufnahmen der Sängerinnen und Sänger ein, die live abgemischt und mit vorproduziertem Videomaterial ergänzt werden. Das Video ist auf ein oder zwei im Bühnenbild integrierten Projektionsflachen zu sehen und erzählt die Bühnenhandlung weiter, denkt voraus oder setzt ihr etwas entgegen. Die opulenten, mit Elementen verschiedener Kulturen und Zeiten spielenden Kostüme Braga Peretzkis evozieren weitere Assoziationsräume.

Castorfs kontrovers aufgenommene Ring-Inszenierung war bis 2017, Die Walküre bis 2018, zu sehen. Noch während ihrer Laufzeit folgte Charles Gounods Faust für die Staatsoper Stuttgart – die Inszenierung, die heute an der Wiener Staatsoper zu erleben ist. Das Bayreuther Regie-Team arbeitete auch hier zusammen, wechselte allerdings die Videomannschaft. Tobias Dusche, Daniel Keller und Martin Andersson erarbeiteten für Faust eine noch reichere und komplexere Videoebene.

Seit dieser insgesamt begeistert aufgenommenen Arbeit inszenierte Frank Castorf mit seinem festen Ausstattungsteam (aber wechselnden Videoteams) fast im Jahresabstand an verschiedenen Opernhäusern: 2018 Aus einem Totenhaus von Leoš Janaček an der Bayerischen Staatsoper, 2019 Verdis La forza del destino an der Deutschen Oper Berlin, 2020 das Pasticcio molto agitato an der Hamburgischen Staatsoper (ein Ersatzprojekt für den der Pandemie zum Opfer gefallenen Boris Godunow) sowie Die Vögel von Walter Braunfels erneut an der Bayerischen Staatsoper.

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Eine ausführlichere Version dieses Artikels finden Sie im Programmheft zu Faust.