Vermenschlichung als Ziel

An der Wiener Staatsoper sang die Französin Béatrice Uria-Monzon bisher Carmen und Eboli (in der französischen Fassung). In zweiterer Partie, allerdings auf Italienisch, kehrt sie im Februar an das Haus zurück.

Wenn Sie sich einer Rolle nähern: Erfolgt das zunächst einmal eher aufgrund der musikalischen Attraktivität der Partie oder eher weil Ihnen der Rollencharakter spannend erscheint?

Béatrice Uria-Monzon: Grundsätzlich glaube ich, dass eine ernsthafte musikalische Annäherung niemals ohne eine psychologische Auseinandersetzung erfolgen kann. Und natürlich umgekehrt. Eines ohne das andere ist einfach nicht zu machen. Natürlich gibt es aber Rollen, die mehr oder weniger interessant als andere sind: sowohl aus musikalischer, als auch aus psychologischer Sicht gesehen.

Ändert sich im Laufe der Zeit Ihre Sicht auf einen Rollencharakter?

Béatrice Uria-Monzon: Durchaus! So kann sich die Einschätzung eines Charakters nicht nur einmal, sondern auch öfter ändern, und das aus unterschiedlichen Gründen. Die Zusammenarbeit mit Regisseuren, mit Sänger-Kollegen, mit Dirigenten lösen regelmäßig – und vollkommen naheliegend – Änderungen der persönlichen Sicht auf einen Bühnencharakter aus: anders wäre es ja auch nicht möglich. Dazu kommt auch noch, dass ich mich als Sängerin verändere, reifer werde und daher Figuren besser verstehe. Und als Drittes: Meine Stimme entwickelt sich weiter, was wiederum zu einer Verschiebung einzelner Aspekte in der Rollengestaltung führt.

Welche Art eines Bühnencharakters interessiert sie mehr: Ein vielschichtiger, lebensnaher oder ein modellhafter?

Béatrice Uria-Monzon: Im Allgemeinen finde ich es immer wieder aufregend, einen Charakter zu befreien, der regelmäßig in eine Schublade gesteckt wird. Mit anderen Worten: Ein Klischee zu brechen. Da wäre etwa Carmen als oberflächliche Verführerin; Tosca und ihre Eifersucht; Ebolis Grausamkeit und ihre schlechten Charaktereigenschaften. Ich denke, in solchen Fällen kann man viel tiefer in der Psychologie des Charakters graben und so eine viel interessantere Dimension erhalten. In Hinblick auf unsere Vorstellungen, wie wir denken, dass ein Charakter gegeben werden „muss“, weckt die Tatsache mein Interesse, wie viele unterschiedliche Bedeutungen ein einziger Satz haben kann – der diese Vorstellungen in Frage stellt. Ich schätze es, die Schwäche eines Charakters zu entdecken und zu enthüllen sowie Brüche, die jenseits der Stereotype liegen, zu zeigen. Abgesehen davon versuche ich stets, die Charaktere, die ich singe, zu „vermenschlichen“.

Versuchen Sie auf der Bühne tatsächlich der dargestellte Charakter zu sein, oder ist es bewusst Kunst, eine Art „als ob“? 

Béatrice Uria-Monzon: Natürlich versuche ich, die Person zu sein, in sie hineinzuwachsen, sie in mir zu finden, zu zeigen, wie ich sie verstehe. Also: Sie ganz in meine Haltung, meine Blicke, mein Handeln zu bringen, eben: diese Person wirklich zu sein!

Nach einer Aufführung. Dominiert eher das Gefühl: „Ja, ich hab’s geschafft!“ oder: „Schade, schon zu Ende“?

Béatrice Uria-Monzon: Vor allem, wenn man eine Rolle zum ersten Mal singt, ist man schon froh, es geschafft zu haben! Nach fünf Stunden Trojaner, mit beiden Frauenrollen Didon und Cassandre, bin ich am Schluss erleichtert. Nach einer Stunde Blaubarts Burg hingegen verlasse ich die Bühne fast mit Bedauern, dass es schon zu Ende ist. Auch nachdem ich nach zwei Jahren fast täglicher Arbeit an der Partie zum ersten Mal Tosca gesungen hatte (eine Rolle, von der übrigens viele dachten, sie wäre zu fern von meinem üblichen Repertoire!), war ich nach der Vorstellung natürlich entsprechend glücklich, dass es gelungen ist.

Fällt Ihnen der stimmliche Wechsel von Carmen zu Eboli zu Tosca usw. leicht?

Béatrice Uria-Monzon: Diese Entwicklung im Repertoire geht nicht ohne enorme stimmliche Arbeit. In gewisser Weise ist diese Rollenauswahl vom Körper, von der Stimme vorgezeichnet. Aber ich habe ja nicht von einem Tag auf den anderen von Carmen zu Tosca gewechselt ...

Aus Ebolis Sicht: Wie schwach wirkt Carlo? Wie stark Posa?

Béatrice Uria-Monzon: Zunächst: Ich sehe Eboli als liebende Frau, ehrlich in ihrer Liebe, von der sie aber weiß, dass sie unmöglich ist. Und wie manch verletzte Frau kann sie in ihrer Rache sehr gefährlich werden. Aber sie verdient ein gewisses Maß an Mitgefühl … Bei Carlo weiß man, dass er schwerwiegende gesundheitliche Probleme hatte: einer blutsverwandten Ehe entsprungen, epileptisch, hässlich, missgebildet, grausam und behindert – so konnte er nie der Sohn sein, den sich König Philipp II. erhoffte. Verdi hat die Behinderungen in der Oper sehr stark abgeschwächt, aber ihn dennoch als einen schwachen Charakter gezeigt, der Schwierigkeiten hat, Entscheidungen zu treffen. Posa und Carlo verbindet eine unerschütterliche Freundschaft, bestimmt von der Zuneigung Posas zu Carlo und seiner Bewunderung für den König; Posa ist sicherlich der Erbe, den Philipp sich gewünscht hätte. Es ist selten, dass Verdi die Baritonlage für einen großherzigen und fast naiven Charakter einsetzt, nicht für einen Verräter, wie er es sonst stets zu tun pflegte.

Was zeichnet eigentlich eine Verdi’sche Stimme aus?

Béatrice Uria-Monzon: Es ist gar nicht einfach, eine Verdi-Stimme zu definieren. Er hat einen großen Beitrag zur Entwicklung des Gesangs im 19. Jahrhundert geleistet: Anfangs fügte er sich noch den damaligen Regeln, doch setzte er nach und nach die eigenen durch. Diese boten bzw. erforderten eine andere stimmliche „Macht“, ein neues Sich-zur-Schau-Stellen, den Mut zum Ausdruck, die vollkommene Kontrolle über das Legato. Aber Verdi stellt auch stilistische Anforderungen: eigentlich möchte er den Gesang mit der dramatischen Handlung vereinen, und zu diesem Zweck verlangt er von den Sängern eine neue stimmliche Ausstrahlung, die Voix sombrée sowie eine forciertere Artikulation.

Wenn Sie nun als Sängerin auf der Bühne stehen: Wie weit vergessen Sie die Welt außerhalb?

Béatrice Uria-Monzon: In gewisser Weise passiert mir das durchaus. Denn auf der Bühne will ich vollständig auf die Musik, die Regie, die Bühnenfigur und die Partner konzentriert sein. Dabei ist es unabdingbar, gewisse Schutzmechanismen aufzubauen, um nicht von irgendwelchen persönlichen Momenten zu sehr berührt oder durcheinandergebracht zu werden, die mich dann auf der Bühne irritieren oder beeinträchtigen.

Das Gespräch führte Oliver Láng

Übertragung aus dem Französischen: Bettina Porpáczy-Neubert


Vorstellungen mit Béatrice Uria Monzon: Don Carlo (ital) am 22., 25. Februar und 1. März 2015. Rolle: Eboli.

BÉATRICE URIA-MONZON stammt aus Agen (Frankreich) und studierte Kunstgeschichte und Gesang. Den großen Durchbruch als Sängerin feierte sie 1993 als Carmen an der Pariser Bastille Opéra. Ihre Karriere führt sie regelmäßig an so wichtige Bühnen wie die New Yorker Metropolitan Opera, die Mailänder Scala, an die Bayerische Staatsoper, an das Teatro Colón in Buenos Aires, ans Liceu in Barcelona, das Teatro Real in Madrid, an die Arena di Verona, nach Houston, Turin, Orange, Rom, Lyon, Straßburg. Erfolge feierte Béatrice Uria-Monzon unter anderem mit Partien wie Eboli (Don Carlos), Charlotte (Werther), Hérodiade, Giulietta (Les Contes d’Hoffmann), Ve­nus (Tannhäuser), Amneris (Aida), Santuzza (Cavalleria rusticana), Marina (Boris Godunow), Adalgisa (Nabucco), Dulcinée (Don Quichotte), Judith (A kékszakallú herceg vára). Béatrice Uria-Monzon ist auch auf den internationalen Konzertpodien zu Hause, wo sie mit Liedern von Berlioz, Ravel, Duparc, Fauré, De Falla sowie mit Kirchmusikwerken von Pergolesi, Mozart, Ros­sini, Verdi und Fauré. An der Wiener Staatsoper debütierte Béatrice Uria-Monzon im Jahre 1998 als Carmen und sang auch noch Eboli (Don Carlos franz.).