Verdi, was sonst?
Nervenstärke ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen Dirigenten. So perfekt kann eine Aufführung, auch eine Premiere, nicht vorbereitet sein, dass man nicht immer auf Eventualitäten gefasst sein muss. Wie im Dezember 2014 beim neuen Rigoletto an der Wiener Staatsoper. Da versagte in der Premiere plötzlich dem Darsteller der Titelfigur die Stimme, er musste rasch durch einen anderen ersetzt werden. Der Dirigent war gefordert seine ganze Autorität einzusetzen, um die Aufführung entsprechend über die Runden zu bringen. Und das gelang: Mit souveränem Überblick rettete Myung-Whun Chungs diesen denkwürdigen Abend im Haus am Ring.
Er war für diese Aufgabe erst kurzfristig eingesprungen, nachdem der ursprünglich vorgesehene Dirigent diese Aufführungsserie zurückgelegt hatte. Das Haus kannte der 1953 in Seoul geborene Dirigent bereits. Im Mai 2011 hatte er mit Simon Boccanegra debütiert, 2014 drei La traviata-Vorstellungen geleitet. Deswegen nahm er dieses Engagement auch gerne an, noch dazu, wo es sich um eine Oper von Verdi handelte, Myung-Whun Chungs erklärter Lieblingskomponist.
Überhaupt Italien! Dreieinhalb Jahrzehnte ist es her, dass er erstmals mit seiner Frau dieses Land besuchte. Es war Liebe auf den ersten Blick, nicht nur des exzellenten Essens wegen. Längst haben Chung und seine Familie – einer der drei Söhne beabsichtigt ebenfalls eine musikalische Laufbahn einzuschlagen – ihren Wohnsitz in Italien.
Ob bei dieser Entscheidung auch Myung-Whun Chungs frühere Biographie eine Rolle gespielt hat? Der große italienische Dirigent Carlo Maria Giulini war jedenfalls einer seiner prägenden Lehrmeister. Ihm assistierte er ab 1978 während dessen Zeit als Musikdirektor des Los Angeles Philharmonic Orchestra, zu dessen Associate Conductor man den aufstrebenden Koreaner bald bestellte.
Hier setzte Myung-Whun Chung die ersten professionellen Schritte seiner dritten Musikerkarriere. Denn begonnen hat er seine Musikerlaufbahn als Pianist. Bereits mit sieben trat er als Solist bei Konzerten mit dem philharmonischen Orchester seiner Heimatstadt Seoul auf. Nachdem seine Familie in die Vereinigten Staaten ausgewandert war, setzte er an der renommierten Mannes School of Music in New York seine Ausbildung fort, belegte neben Klavier auch Orchesterleitung, hatte damals auch schon eine Dirigentenlaufbahn im Blick. Für Klavier hatte er eine besondere Lehrerin, Maria Curzio, die letzte Schülerin des legendären Artur Schnabel, der nicht zuletzt dafür berühmt ist, dass er als erster – und dies maßstabsetzend – sämtliche Beethoven-Klaviersonaten im Studio aufgenommen hat.
1974 erreichte Myung-Whung Chung beim wichtigen Moskauer Tschaikowski-Klavierwettbewerb hinter Andrei Gawrilow den zweiten Platz. Bald wurde er für Konzerte nach New York, London oder Berlin gebucht. Einer Solistenkarriere stand nichts im Weg. Oder doch? Sollte er sich nicht besser auf Kammermusik konzentrieren? Seit 1967 trat er bereits gemeinsam mit seinen beiden Schwestern – der Violinvirtuosin Kyung-Wha Chung und der Cellistin Myung-Wha Chung – auf. Bis heute besteht diese Zusammenarbeit. Womit es zuweilen vorkommt, dass sich die drei Geschwister für Beethovens Tripelkonzert, das sie vor Jahren mit dem Philharmonia Orchestra London aufgenommen haben, auf dem Podium zusammenfinden – Myung-Whung Chun dann in der Doppelrolle Dirigent und Pianist.
Die Ambition, eine Dirigentenlaufbahn einzuschlagen, war schließlich stärker, als seine Solisten- und Kammermusikkarriere fortzusetzen, so erfolgreich sich beides angelassen hatte. Bereits 1971 hatte Chung sein Dirigentendebüt an der Spitze des Koreanischen Symphonieorchesters begangen. Vier Jahre später wurde er Leiter des an der New Yorker Juilliard School engerichteten Pro Colleg Orchestra. Dann erreichte ihn der Ruf, das hier Erlernte und erstmals Ausprobierte bei einem der großen amerikanischen Klangkörper professionell umzusetzen: eben in San Francisco unter den gestrengen Augen von Giulini.
VON ROSSINI BIS MESSIAEN
Anfang der 1980er-Jahre ging Chung nach Europa und übernahm zwischen 1984 und 1990 seine erste Chefposition beim Radiosinfonieorchester Saarbrücken. Zwischen 1987 und 1992 wirkte er zusätzlich als Erster Gastdirigent des Teatro Communale in Florenz. Von 1989 bis 1994 war er Musikdirektor der Pariser Bastille-Oper. Für seine erste Premiere hatte er sich nichts weniger Herusfordendes als Berlioz’ Les Troyens ausgesucht. Längst begannen sich zahlreiche große Orchester für ihn zu inter- essieren, darunter die Wiener Philharmoniker. Mit ihnen bestritt er Konzerte und spielte Werke von Dvorák sowie ein solistisch glanzvoll besetztes Rossini-Stabat Mater ein.
Ab 2000 übernahm Chung für 15 Jahre die Chef- position beim Orchestre Philharmonique de Radio France, war zudem als künstlerischer Berater für das Tokyo Symphony Orchestra tätig. Gastspiele führten ihn an zahlreiche Opernhäuser, darunter für eine Freischütz-Produktion an die Mailänder Scala. Bereits 1986 hatte er mit Verdis Simon Boccanegra an der New Yorker „Met“ debütiert. 2018 und 2019 dirigierte Chung das Neujahrskonzert am Teatro la Fenice in Venedig. Nicht zu vergessen sein besonderes Engagement für die Moderne, etwa für Olivier Messiaen, der für ihn eines seiner letzten Werke komponierte: Concerto à quatre. Im Laufe der Jahrzehnte spielte Chung mit verschiedenen europäischen Klangkörpern sowie dem Seoul Philharmonic Orchestra zahlreiche Werke ein, die auch die große Bandbreite des Repertoires dieses Maestros zeigen, der seit 2012 Erster Gastdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden ist.
Ende Juni kommt Myung-Whun Chung wieder an die Wiener Staatsoper, um die letzte Premiere dieser Spielzeit zu dirigieren: Otello. Nach Simon Boccanegra, La traviata, Rigoletto und Don Carlo seine fünfte Verdi-Oper im Haus am Ring. Ein Werk, das er schon während seiner Chefdirigentenzeit an der Pariser Bastille-Oper aufgeführt hat, wie man in einem mit Domingo, Studer und Leiferkus prominent besetzten Mitschnitt nachhören kann.
Walter Dobner
Otello | Giuseppe Verdi
Premiere: 20. Juni 2019
Reprisen: 24., 27., 30. Juni 2019
Einführungsmatinee: 16. Juni 2019