Verdi war ein Menschenkenner
Die aus Russland stammende Mezzosopranistin Elena Zhidkova dürfte dem Wiener Publikum noch in bester Erinnerung sein: 2014 debütierte sie hier triumphal als „böse“ Principessa in der Staatsopernerstaufführung von Adriana Lecouvreur, zwei Jahre später kehrte sie, ebenfalls erfolgreich, als Fremde Fürstin in Rusalka zurück und kurz darauf gestaltete sie beim Gastspiel des Hauses im Oman noch eine fulminant-berührende Charlotte. Anlässlich ihrer ersten Wiener Eboli führte sie mit Andreas Láng das folgende Gespräch.
Nördlich der Alpen wird das Werk Verdis, trotz vielfältiger Wertschätzung, gelegentlich sehr differenziert gesehen. Aber auch ein Debussy kritisierte an seinem Komponistenkollegen dessen angebliche Eigenschaft auch in tragischen Momenten zu viel Sonnenschein durchklingen zu lassen …
Elena Zhidkova: Debussys Feststellung kannte ich bislang nicht, andere kritische Kommentare hingegen natürlich schon – ich teile sie nicht. Verdi war definitiv ein großer Menschenkenner und diese Fähigkeit hat er auf wunderbare Weise in seine Opernpartituren eingebracht. Dementsprechend findet sich bei ihm ganz grundsätzlich keine Schwarz-Weiß-Malerei, sondern die Darstellung komplexer, mehrschichtiger Charaktere – selbst den Shakespeare’schen Erzbösewichtern Jago oder Lady Macbeth gewährt er einen breiten Raum an Interpretation. Und die aus der Leidenschaft heraus moralisch fragwürdig agierenden Frauengestalten wie Eboli oder Amneris besitzen ohnehin so viele Facetten und Farben, dass sie niemals nur ein- oder zweidimensional beurteilbar und damit umsetzbar wären.
Bleiben wir bei der Eboli – ist sie nun in Ihren Augen eher Opfer oder Täterin?
Elena Zhidkova: Sie ist sicher beides, wie die meisten Menschen auf der Welt. Die Frage ist nur, wie man manche Detailaspekte beurteilt – zum Beispiel: Fühlt sie am Schluss wirklich Reue, oder fürchtet sie lediglich die Strafe und die aus ihren Untaten erwachsenden Konsequenzen? In solchen Fragen ist der Regisseur gefragt, ich bin offen für beide Varianten.
Sie selbst haben die Partie sowohl in der französischen als auch in der italienischen Version gesungen…
Elena Zhidkova: … und da finden sich bekanntlich zum Teil große Unterschiede – hinsichtlich des Notentextes etwa, oder der Länge der Partie und so weiter, nicht aber im Charakter dieser Prinzessin. Die Opfer-Täter-Frage ist identisch.
Wann haben Sie die Eboli in Ihr Repertoire aufgenommen, woran erkannten Sie, dass die Zeit reif war?
Elena Zhidkova: Meine erste Verdi-Rolle war die Maddalena im Rigoletto, danach kam auf dem Konzertpodium sein Requiem und auf der Opernbühne die Giulietta in dem Frühwerk Un giorno di regno – eine richtige Belcanto-Rolle. Davon abgesehen sang ich häufig bedeutende Wagnerheroinen wie Kundry, Ortrud, Venus, das war notwendig, um Erfahrungen im dramatischen Fach zu sammeln, schließlich ist die Eboli eine überaus anspruchsvolle Aufgabe, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Ich bin, kurzum, zweispurig gefahren: Habe mich im Verdi-Gesang ebenso „geübt“ wie im dramatischen Fach, ehe ich mich der Eboli zuwandte.
Apropos Verdi-Gesang: Was sind hierbei Ihrer Meinung nach die herausragendsten Merkmale?
Elena Zhidkova: Verdis Opern sind auf jeden Fall eine Weiterentwicklung des Belcanto, bei den früheren Stücken stand er, wie gesagt, noch mitten in dieser Tradition, aber selbst in den späteren erkennt man, wie soll ich sagen, gewisse musikatavistische Merkmale dieser Herkunft. Dadurch bedingt kommt bei ihm den langen Phrasen, den langen Legatobögen eine große Bedeutung zu – wer damit Schwierigkeiten hat, sollte die Finger von diesem Komponisten lassen. Und wenn wir auf die erwähnte Menschenkenntnis Verdis zurückkommen: Die psychologische Glaubwürdigkeit in der Rollengestaltung ist zudem ebenfalls ein Muss! Bei der Eboli kommt noch als Schwierigkeit die recht hohe Tessitura hinzu.
Was liebt Eboli eigentlich an diesem doch recht unreifen Carlo?
Elena Zhidkova: (lacht) Da gibt es doch dieses Sprichwort: „Die Liebe fällt wohin sie will“.
Ist für Sie Dienst an der Rolle dasselbe wie „Ich möchte dem Publikum gefallen“?
Elena Zhidkova: Ich sehe hier, ehrlich gesagt, keinen Widerspruch! Natürlich soll es den Zuschauern gefallen, das war schließlich auch der Wunsch der jeweiligen Komponisten. Wichtig ist nur, dass meine Emotionen, mit denen ich die Partien zu erfüllen suche, wahr und nicht aufgesetzt sind – dann geht es in die richtige Richtung und das Publikum wird es entsprechend erspüren und, im ganz allgemeinen Sinn, berührt sein.
Sie sprachen von den vielfältigen Farben, mit denen Verdi die Eboli und andere Rollen ausstattete: Erkennen Sie diese Farben gleich beim Studium der Rolle, oder kommen Sie sozusagen nach und nach zum Vorschein?
Elena Zhidkova: Verdi hat, im Gegensatz zu so manch anderem Komponisten, sehr viel von seinen Wünschen und Intentionen in die Noten hineingeschrieben. Wenn der Interpret also diesen „Anweisungen“ wie einer Autokarte folgt, ist schon, wie es so schön heißt, die halbe Miete drinnen. Natürlich ist Interpretation auch ein Prozess: Durch das Singen auf der Bühne oder bei den Proben ergeben sich zusätzliche Zusammenhänge, die beim Studium noch nicht aufgetaucht sind, man sucht regelmäßig nach neuen Wegen, bekommt durch immer neue Dirigenten und Kollegen ständig weitere Inputs, auch die wachsende eigene Lebenserfahrung färbt ab. Und so wird jede Rollengestaltung im Laufe der Zeit immer farbenreicher.
Als Sängerin und Sänger muss man gewissermaßen stets auf Achse sein: ein Auftritt jagt den nächsten, dazwischen Proben, Rollenstudien, ständige Selbstkritik. Wie kann einer unter diesen Voraussetzungen glücklich sein?
Elena Zhidkova: Das ganze Leben ist eine Schule – im Sängerberuf ist das überdeutlich: jeden Tag habe ich Rollen auswendig zu lernen, jede Vorstellung und jede Probe ist eine Prüfung, und natürlich ist jeder von uns vor Auftritten nervös. Damit muss ein Bühnenmensch umgehen können. Ich erinnere mich, wie ich einmal mit Mirella Freni gemeinsam Eugen Onegin gemacht habe. Sie war nicht mehr jung, wirkte aber dennoch wie ein Mädchen und sang und spielte fabelhaft – war aber nichtsdestotrotz vor dem Auftritt nervös, aber dennoch voller Freude auf ihre Aufgabe. Und das macht es aus: Die Freude an diesem Beruf – und die ist in meinem Fall sehr groß.
Don Carlo (ital.) | Giuseppe Verdi
11., 15., 21. Juni
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