© Wiener Staatsoper GmbH / Michael Pöhn

Verdi vertonte sogar die Propagandamaschinerie

Es gibt auch die Liebe auf den zweiten Blick. Und diese erweist sich mitunter als ebenso dauerhaft und leidenschaftlich wie die vielbeschworene auf den ersten. Philippe Jordan beispielsweise konnte sich in seiner Jugend zunächst kaum für die Werke Giuseppe Verdis erwärmen, und wenn er entsprechende Vorstellungen besuchte, dann nur, um sich einen allgemeinen Überblick über das Repertoire des 19. Jahrhunderts zu verschaffen. Mozart, Strauss, Wagner –
diese Trias hatte es ihm von Anfang an angetan, in Verdi sah er lediglich einen Produzenten schöner Melodien mit den oft beschworenen Umtata-Begleitungen.

Es war dann die Piangi, piangi-Stelle des Giorgio Germont in der Traviata, die gewissermaßen als Türöffner wirkte und Jordan während einer Aufführung aufmerken ließ: Im Innersten berührt und erschüttert erkannte er eine Tiefendimension in dieser Partitur, die ihn neugierig auf mehr machte. Also widmete er sich mit wachsendem Interesse und zunehmender Begeisterung zunächst La forza del destino und schließlich Don Carlo. Und hier geschah es dann endgültig: Die Arie des ebenso mächtigen wie ungeliebten Königs Philipp, die musikalische Porträtierung des dämonischen Großinquisitors, das bald darauf folgende Quartett von Elisabeth, Eboli, Posa und dem König machten aus Philippe Jordan mit einem Mal einen bekennenden Verdi-Lieb­haber.

Dass gerade dieses Stück bis heute einen zentralen Platz in seiner Laufbahn einnimmt, zeigt sich auch an seinem Wirken an der Wiener Staatsoper: Bereits 2005 leitete er hier Don Carlo-Vorstellungen in der Inszenierung von Pier Luigi Pizzi, später waren es Aufführungen in der Regie Daniele Abbados, und nun wird er am 26. September die Premiere der Neuproduktion von Kirill Serebrennikov dirigieren. Noch vor Probenbeginn entstand das folgende Interview.

 

 

al Obwohl Don Carlo nicht zur trilogia popolare gehört, also zu den drei »Schlager-Opern« Rigoletto, Traviata, Trovatore, wird dieses Stück von großen Teilen des Publikums sehr geschätzt. Bei diversen Rankings der beliebtesten Werke  nimmt Don Carlo immer wieder einen der ersten Plätze ein. Warum?

pj Das hat zwei Gründe: Erstens haben wir es mit einem unglaublich starken Sujet zu tun – Friedrich Schiller war nun einmal ein genialer Dramatiker, und sein Don Karlos, die wesentlichste Vorlage für diese Oper, hat Verdi zwangsläufig zu Höchstleistungen inspiriert. Zweitens sind wir mit der italienischen Version des Don Carlo, die wir jetzt auch bei der Premiere zeigen werden, beim schon älteren Verdi angelangt, dem Verdi der Aida und des Requiem. Die Partitur bietet daher nicht nur großartige Melodien und einen Sinn für Dramatik, sondern zusätzlich eine kompositorische Reife, die sich in einer ungeahnten Raffinesse in der Harmonik und Instrumentation ausdrückt. Eine Raffinesse, mit deren Hilfe Verdi meisterhafte Atmosphärenschilderungen und Charakterporträts entwickelt.

al Apropos italienische Version: Sie ist das Ergebnis eines langjährigen Überarbeitungsprozesses der französischen Uraufführungsfassung durch Verdi selbst. Sind für den Interpreten die unterschiedlichen Entstehungsschichten erkennbar?

pj Sicher ist, dass die französische Uraufführungsversion von 1867 die einheitlichste und konsequenteste von allen ist. Sie entstand für die Pariser Grand Opéra und hatte daher gewisse formale Anforderungskriterien zu erfüllen, um dort überhaupt aufgeführt zu werden. Neben dem langen Ballett sind das vor allem die großen, fast riesenhaften Arien, die wie musikalische Kolossalgemälde angelegt sind – die Elisabeth-Arie im letzten Akt entspricht in ihrer Dreiteiligkeit etwa einem monumentalen Triptychon. All das ist eingebettet in eine ausladende, fünfaktige Partitur, die in ihrer zeremoniellen, höfischen Sprache und ihrem Gesamtduktus weniger opernhaft und emotional als schauspielhaft und intellektuell wirkt. Fast ein bisschen abstrakt-kühl. Mein Herz schlägt aufgrund der oben erwähnten kompositorischen Reife, aber auch wegen der Sprache für die spätere vieraktige, in Mailand erstaufgeführte italienische Fassung von 1884. Allerdings sind in ihr gewisse Uneinheitlichkeiten auszumachen. Um also die Frage zu beantworten: Ja, es treffen verschiedene Entstehungsschichten aufeinander. Mitten im reiferen, geraffteren und kompakteren Verdi stoßen wir in einigen ausladenden Arien auf nicht oder kaum bearbeitete Relikte der Ursprungsversion, die – so großartig sie auch sind –
etwas aus der neuen Gesamtdisposition herausfallen.

al Nun hat Verdi 1886 für Aufführun­gen in Modena den in Mailand eliminierten ersten Akt der französischen Fassung, den sogenannten Fontainebleau-Akt, wieder eingefügt bzw. der Oper vorangestellt…

pj … was für mich keinen essenziellen Gewinn darstellt. Der Fontainebleau-Akt fühlt sich in seiner Formelhaftigkeit im stilistisch weiterentwickelten italienischen Umfeld der nachfolgenden Akte als Fremdkörper an, er funktioniert nur in der französischen Ursprungsversion. Darüber hinaus empfinde ich die Stück-Dramaturgie ausgeglichener, wenn man nicht im Wald von Fontainebleau, sondern erst im Kloster beginnt: Erstens ergibt sich ein schönerer Bogen vom Anfang zum Schluss hin, der ja ebenfalls im Kloster spielt, und zweitens rückt das »effektvolle« Autodafé und die Szene mit dem Großinquisitor in die Mitte der Handlung, wodurch der Aufbau an Ebenmäßigkeit gewinnt.


 

al Sie haben die Meisterschaft Verdis erwähnt, durch raffinierte Harmonien und Instrumentationen im Don Carlo Atmosphäre und Charaktere hörbar zu machen.

pj Das geht schon beim ersten Takt los: Auf welche Weise lässt Verdi am Beginn die Düsterkeit des Klosters entstehen? Zunächst vermittelt der Klang der vier unisono spielenden Hörner, die die Oper mit einer weitgespannten, langsamen, etwas wehmütigen und zugleich sakralen Melodie eröffnen, eine feierliche, aber fast resignierte, ruhige Erhabenheit – in fis-Moll – in einer Tonart also, die von Haus aus etwas Dunkles, Verschattetes ausstrahlt. Verstärkt wird dieser Eindruck vom folgenden, wie aus der Ferne klingenden Choral der Mönche sowie von der Spannung, die durch den steten Dur-Moll-Wechsel entsteht, der diesen Beginn durchzieht. Etwas, das übrigens Gustav Mahler später sehr gerne einsetzen wird. Die Stimmung scheint jedenfalls zwischen dem Gefühl der Hoffnung und der Verzweiflung unentwegt zu changieren. Wie anders zeichnet Verdi hingegen später, im dritten Akt, eine weitere Düsterkeit, jene des Gefängnisses, in dem Posa eingekerkert ist und wo er Carlo zum letzten Mal trifft. Auch hier herrscht eine dunkle Grundierung vor, aber diesmal eine in C-Dur. Die sich mehrfach wiederholenden Figuren im kurzen Streichervorspiel und das klagende Oboensolo – eine Reminiszenz an das nämliche Motiv im Rezitativ zur Carlo-Arie – spiegeln das Brüten und Warten des Gefangenen wider, und das fast unbegleitete Rezitativ von Carlo und Posa verstärkt das Gefühl der alles beherrschende Stille. Selbst in der anschließenden Posa-Arie benutzt Verdi, um dieselbe Stimmung aufrechtzuerhalten, eine sparsame Orchestrierung.

»Carlos wird benutzt, ignoriert, in Situationen hineinmanövriert, denen er nicht gewachsen ist.«

Die Einsamkeit Philipps in dessen Arie am Beginn des dritten Aktes wird wiederum durch die Einsamkeit des Solocellos symbolisiert, das den Gesang einleitet beziehungsweise begleitet. Da sieht man übrigens sehr schön eine der Entwicklungen von der französischen Urversion, in der an dieser Stelle noch die gesamte Cellogruppe zu spielen hat, zur reiferen italienischen Fassung mit dem Soloinstrument! Ein komplett gegensätzliches Szenario erleben wir in der Gartenszene im ersten Akt, konkret in der Schleierarie der Eboli: Die Halbton-Koloraturen in der Kadenz, der wiederholte Wechsel zwischen Dur und der mixolydischen Kirchentonart vereint mit einem markanten Rhythmus im 6/8-Takt, den wir übrigens auch im Zwischenspiel zum letzten Akt der Carmen vollkommen identisch wiederfinden, ruft unweigerlich den beabsichtigten Eindruck eines spanisch-arabischen Gartenambientes hervor. Und als letztes Beispiel nenne ich noch den Auftritt des Großinquisitors im dritten Akt: Anders als Mozart, der keinen seiner Akteure verurteilt, charakterisiert Verdi den Großinquisitor schon durch seine Auftrittsmusik als bedrohlichen, eiskalten, mitleidlosen Machtpolitiker, der über Leichen geht: Cello, Kontrabass, Fagott, Kontrafagott, Posaunen, Pauken und Große Trommel – lauter tiefe, dunkle Instrumente, die im punktierten Rhythmus das mühsame Schreiten und Hinken dieses unsympathischen, alten Mannes akustisch veranschaulichen. Schwärzer geht es kaum.



 

al In der Musik des Autodafés – dieses pervertierten Großevents mit öffentlicher Ketzerverbrennung – sucht man hingegen das Grausame, Furchtbare eher vergebens. Da klingt alles eher marktschreierisch-fröhlich.

pj Weil Verdi die offizielle, mächtige Propagandamaschinerie zu Wort kommen lässt: Hier wird eine Massenhinrichtung als Spektakel inszeniert, die durchaus auch eine sakrale, feierliche Stimmung hat. Die Musik ist also bewusst als Kontrapunkt zum Geschehen gesetzt, wodurch die Schrecklichkeit des Ganzen noch deutlicher hervorgehoben wird.

al Die Herausforderungen für den Dirigenten sind von Verdi-Oper zu Verdi-Oper unterschiedlich – die Ensembleoper Falstaff zum Beispiel hat andere als ein chorlastiges Werk à la Nabucco. Wie sieht es diesbezüglich bei Don Carlo aus?

pj Mir fallen da vor allem drei Aspekte ein. Erstens: So klug und effektvoll die Instrumentation auch ist, muss der Dirigent hinsichtlich der dynamischen Balance gelegentlich etwas nachhelfen, da sonst einiges zu laut gerät oder die Mischung der unterschiedlichen Instrumentengruppen nicht so aufgeht, wie Verdi sich das gewünscht hat. Zweitens: Es dauert seine Zeit, bis die Handlung wirklich in Fahrt kommt. Man muss also alles gut kalkulieren, bis zum Autodafé einen Bogen spannen, allerdings ohne zu rasch zu werden, da ansonsten die einzelnen atmosphärischen Stimmungen beeinträchtigt werden. Und drittens: Relativ viele Nummern im 4/4-Takt beginnen nicht auf eins, sondern ungewöhnlich als auftaktige Melodie auf der dritten Viertel. Beispiele wären die Carlo-Arie am Beginn »Io la vidi«, Posas »Per me giunto« und im Grunde auch Phlipps »Ah, si maledetto«. Das mag vielleicht aus dem Französischen kommen, wo die Betonung des Wortes oft auf der Endsilbe ist.

al Bleiben wir noch bei der Carlo-Arie. Es ist auffallend, dass die Oper »Don Carlo« heißt, die Titelfigur aber außer dieser einen, kurzen Arie nur in Ensembles vorkommt.

pj Ich finde das sehr bezeichnend. Da ist ein junger Mann, ein verzweifelnd Liebender, der zwar nominell als Thronfolger gehandelt wird, aber in den großen Fragen der Politik und Religion vollkommen bedeutungslos ist, ohne jede Macht, ohne jeden Einfluss. Sein Charakter ist geradezu unerheblich, seine Tragik vollkommen privater Natur, geschildert wird er immer nur in Konstellation mit den anderen. Er wird benutzt, ignoriert, in Situationen hineinmanövriert, denen er nicht gewachsen ist. Trotzdem oder gerade deshalb ist er auf eine gewisse Weise das Zentrum, um das sich alles dreht. Es ist also sehr stimmig, dass das Werk einerseits nach ihm benannt ist und er trotzdem nur am Beginn diese kurze, wenn auch für den Tenor herausfordernden Arie bekommt, mit der er eingeführt und zugleich positioniert wird: Denn gerade durch diese Arie wird auch von der Musik von Anfang an klargestellt, dass er niemals das Heft in der Hand hat und haben wird. Eine weitere Arie ist nicht nötig, man hat seine ausweglose, beklagenswerte Situation verstanden, und diese wird im Laufe der Handlung immer neu bestätigt.