Szenenbilder Peter Grimes Wiener Staatsoper GmbH/ Michael Pöhn
Szenenbilder Peter Grimes Wiener Staatsoper GmbH/ Michael Pöhn

Untypisch IM TRAGISCHEN FACH

Er ist kein Held und kein Märtyrertyp, kein Bösewicht und kein Verbrecher. Ein Außenseiter – aber in einer kleinen überschaubaren Gemeinde ist man rasch ein solcher. Und allzu befremdlich konnte er schlussendlich auch nicht sein, da mit Ellen Orford zumindest theoretisch eine Beziehung möglich gewesen wäre. Peter Grimes ist nicht einmal ein Mann ohne Eigenschaften, da er die eine oder andere menschliche Schwäche aufweist. Doch diese, vor allem die übertriebene Neigung zur Aggression und der über ein vernünftiges Maß hinausgehender Hang zum »Ich mache es nach meinem Kopf«, heben ihn andererseits wiederum kaum aus der Masse anderer mit menschlichen Fehlern Behafteter heraus. Dennoch hat Britten diese Durchschnittsgestalt zur zentralen Figur einer Oper gemacht, die in ihrer Nicht-Außergewöhnlichkeit zum Sympathieträger, zu einer dramatischen Gestalt geworden ist. Durchaus unüblich im tragischen Fach des Musiktheaters. Brittens Billy Budd beispielsweise, jener unbefleckte Heilige, ist aus einem anderen Holz geschnitzt. Und all die Helden und Antihelden – Don Carlo auf- und abwärts –, all die romantischen Liebespaare – Rodolfo, Mimì und Ähnliche –, sie tragen das Bühnentaugliche in ihrem Wesen. Aber Peter Grimes? Nicht einmal sein Umfeld ist in Wahrheit interessant: ein Fischerdorf mit einigen skurrilen Persönlichkeiten, die gerade durch ihre Skurrilitäten jene von Grimes wieder einebnen und diesem jede Besonderheit nehmen. Die beiden toten Kinder scheinen Grimes freilich zu stigmatisieren – einerseits. Die Umstände ihres Todes entheben ihn – andererseits – beinahe jeder Schuld. Es bleibt nur so viel Schuld übrig, dass Grimes nicht zur typischen Opferfigur werden kann. Er ist also Opfer, aber nicht ganz ohne persönliches Zutun. Das Publikum läuft somit nicht Gefahr, in die Sentimentalitätsfalle zu tappen. Einigen Zwischenkriegsautoren wie Hans Fallada oder Erich Kästner sind solche Charaktere in der Literatur gelungen. Man sieht als Außenstehender die Fehler dieser Typen, man spürt zugleich das Unrecht, das ihnen angetan wurde, kann und will aber nicht entscheiden, ob sie in einer günstigeren Situation nicht trotzdem genauso oder ähnlich gehandelt hätten.

Was fasziniert nun an der Person des Peter Grimes – denn dass er und sein Schicksal Katharsis auslösen ist offensichtlich? Warum hofft man insgeheim, er möge es sich nicht mit Ellen Orford verscherzen, warum ist man enttäuscht, wenn offensichtlich wird, wie er mit dem zweiten Kind, seiner letzten Chance wohlgemerkt, umgeht? Woher kommt diese Anteilnahme seitens der Zuschauer? Sicher, ohne die musikalischdramatische Gestaltungskraft des Genies Britten, der unter anderem die Atmosphäre der Naturkulisse in den Handlungsablauf einbezog, verlöre die Figur des Peter Grimes Wesentliches. Die erste große Tat Brittens im Zusammenhang mit dieser Oper war jedoch die Erkenntnis, dass sich ein Grimes für die Opernbühne eignet. Grimes lässt den Zuseher nicht los, man beschäftigt sich noch Tage nach dem Erleben einer Aufführung mit seiner Handlungsweise; begreift sie und begreift sie wieder nicht. Vielleicht erweckt das Disparate dieses fiktiven Menschen, sein so ungemein aussichtloses Verhalten, das kollektive Mitleid des Publikums mit dem Menschen an sich. Jeder und jede sucht ja stets nach Vorbildern, nach denen man sich neu ausrichten möchte. Man will den Idealismus im Letzten nicht über Bord werfen, egal, wie abgebrüht man womöglich nach außen tut. Irgendwo muss es doch jenen oder jene geben, deren Handeln jeder ethischen und moralischen Kritik standhält. Umgekehrt neigt man schnell dazu, gegen jedes bessere Wissen, private Sündenböcke zu kreieren, um die immer wieder auftretende eigene Unzulänglichkeit vor sich selber zu kaschieren. In der Figur des Peter Grimes hat die Hoffnungslosigkeit der Suche nach dem Vorbild und die gleichzeitige Einsicht der eigenen Unzulänglichkeit Gestalt angenommen. In Peter Grimes haben wir wohl ein gutes Stück uneingestandenes Mitleid – mit uns selber.



WIEDERAUFNAHME
PETER GRIMES
26. / 29. Jänner / 2. / 5. / 8. Februar 2022

Musikalische Leitung Simone Young 
Inszenierung Christine Mielitz 
Bühne & Kostüme Gottfried Pilz 
Choreographie Roland Giertz

Peter Grimes Jonas Kaufmann 
Ellen Orford Lise Davidsen 
Balstrode Bryn Terfel
Auntie Noa Beinart
1. Nichte Ileana Tonca
2. Nichte Aurora Marthens
Bob Boles Jörg Schneider
Swallow Wolfgang Bankl
Mrs. Sedley Stephanie Houtzeel
Reverend Horace Adams Carlos Osuna 
Ned Keene Martin Häßler
Hobson Erik Van Heyningen