© Wiener Staatsoper GmbH / Ashley Taylor
Ensemble
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Liudmila Konovalova und Masayu Kimoto
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Maria Yakovleva und Davide Dato
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Elena Bottaro und Denys Cherevychko
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Kiyoka Hashimoto und Ensemble

»Unsentimental, voller Schauer«

Elena Tschernischovas »Giselle« wieder im Spielplan des Wiener Staatsballetts

»Das Sujet ist ein Glücksfall für das Theater, es ist voller natürlichen Lebens, und geheimnisvoll folgt darauf die überirdische Welt; Liebe, Treue, Tod, Verrat – hier gibt es alles, was die Menschheit bewegt«, und »dem Tänzer-Schauspieler genug zu tun.« Mit diesen Worten umschrieb Elena Tschernischova ihre Faszination für jenes Stück, das bis heute als Inbegriff des romantischen Balletts gilt: »Giselle«. 1993 brachte die russische Choreographin und Ballettmeisterin während ihrer Zeit als Direktorin des Wiener Staatsopernballetts eine Inszenierung des Werkes heraus, die in ihrer subtilen Anschärfung der tradierten Choreographie von Jules Perrot und Jean Coralli bis heute zu den Signaturstücken des Wiener Staatsballetts zählt. Mit Liudmila Konovalova und Maria Yakovleva kehren für die Titelpartie zwei Erste Solotänzerinnen des Ensembles in einer ihrer Paraderollen auf die Bühne zurück. Mit großer Spannung wird aber auch das Rollendebüt der Solistin Elena Bottaro erwartet, die am 20. Februar erstmals als Giselle zu erleben ist.

Die Uraufführung von Giselle am 28. Juni 1841 an der Opéra de Paris bedeutete für die Ballettbühne nicht nur ein Zusammenfinden unterschiedlichster Kräfte und Strömungen, sondern auch ein künstlerisches Gipfeltreffen. Längst war man der antiken Götter und Helden, die die alte Ballettbühne bevölkert hatten, müde, aber auch die idyllischen Komödien aus dem einfachen Landleben wie in »La Fille mal gardée« waren abgespielt in einer Zeit, die durch große gesellschaftliche Umwälzungen geprägt wurde: die Veränderungen durch die Industrialisierung und die Entschleierung vieler Fragen durch die Naturwissenschaften provozierten das Interesse am Wundersamen, Märchenhaften, Atmosphärischen, Illusionistischen, Ungreifbaren, Unerklärlichen. Naturgeister bevölkerten nicht nur die Literatur, Bildende Kunst und Opernbühne – sondern die luftigsten, ätherischsten von ihnen, die Sylphiden, wurden zu Lieblingsfiguren des Balletts, angesiedelt in einer Zwischenwelt, die ganz den Frauen gehörte: auf dem Spitzenschuh und in zarten Tutus über die Bühne »schwebend« Verkörperungen rätselhafter, weltenferner Wesen.

Der Literat und erfahrene Theaterautor Théophile Gautier wollte sich diese Tendenzen für ein eigenes Ballett zunutze machen, das die von ihm bewunderte, damals 22-jährige Ballerina Carlotta Grisi in Paris groß herausbringen sollte, geschickt disponiert zu einer Zeit, in der die berühmten Konkurrentinnen Marie Taglioni und Fanny Elßler gerade auf Tournee durch Russland und Amerika waren. Bei Victor Hugo fand er die Geschichte eines jungen Mädchens, dessen Liebe zum Tanzen zu ihrem Tod führt und dessen Geist fortan im Ballsaal spukt, in Heinrich Heines »De l’Allemagne« stieß er auf die im slawischen Raum verbreitete Sage von den Wilis – jenen jungen Bräuten, deren Liebe vor ihrer Hochzeit verraten wird und die fortan als Untote keine Ruhe finden und des Nachts im Mondschein tanzen. Als »Giselle« kam die Geschichte in einer von Vernoy de Saint-Georges bearbeiteten Version des ursprünglichen Entwurfs von Gautier schließlich auf die Bühne – umgesetzt von starken Partnern: Jules Perrot, der damalige Lebensgefährte Carlotta Grisis, hinterließ seine Handschrift vor allem in der Gestaltung der Rolle der Giselle, die im Finale des Ersten Aktes – inspiriert von den beliebten Wahnsinnsszenen der romantischen Oper – auch großes darstellerisches Potential verlangt: Als Giselle sich anhören muss, dass die Verliebtheit des vermeintlichen Loys vermeintlich nur das Spiel eines gelangweilten Herzog Albrecht mit den Gefühlen eines Bauernmädchens war, verliert sie den Verstand und bricht tot zusammen. Für die Gruppen- und weiteren Solotänze zeichnete der Ballettmeister der Pariser Oper Jean Coralli verantwortlich.

Für eine besondere Qualität des Werkes sorgte der Komponist Adolphe Adam mit einer Partitur, die nicht aus der damals üblichen Reihung verschiedener Tänze aus oft unterschiedlicher Komponistenwerkstatt stammt, sondern vielmehr auf Augenhöhe mit der romantischen Oper deren Errungenschaften erstmals für die Tanzbühne furchtbar werden ließ: Die Arbeit mit Erinnerungsmotiven, die sich wie musikalische Leitfäden durch die Komposition ziehen und zu einer schlagkräftigen musikalischen Vergegenwärtigung des tanztheatralischen Geschehens führen, sowie eine charakteristische, die Atmosphären der Bauernwelt des ersten und der Geisterwelt des zweiten Aktes unterstreichende Instrumentierung. Interessanterweise ist »Giselle« die einzige Ballettpartitur, die Herbert von Karajan 1961 mit den Wiener Philharmonikern im Studio aufnahm. Und der Komponist Hans Werner Henze schrieb: »›Giselle‹, die Umwandlung von Heines Wilis durch Gautier, Coralli und die harte Musik von Adam, die in diesem Zusammenhang alle Vordergründigkeit verliert, ist ein Kunstwerk von hohem Rang, unsentimental, voller Schauer und, besonders im zweiten Akt, von echter Poesie erfüllt, deren Fassung uns einen Blick von seltener Klarheit in eine Geistigkeit gestattet, die Ernst und Tiefe mit etwas vereinigt, wofür wir im Deutschen das etwas abfällige Wort ›Gefälligkeit‹ haben, was aber mehr ist, nämlich Eleganz, durch Beherrschung und Zurückhaltung des Ausdrucks erreicht.«

Doch nicht nur die Musik ist von der von Henze genannten Härte geprägt, sondern auch die Choreographie der Wilis zeigt eine für die damalige Zeit ungewöhnliche Schärfe: Nicht als filigrane Elfenwesen erscheinen die Geisterbräute, sondern unter dem Kommando ihrer Anführerin, aber auch Beherrscherin Myrtha vielmehr wie eine gefährliche Armee, deren Waffe eine ungebremste Wut gegen das männliche Geschlecht ist. Damit ist dieses Ballett – auch wenn Albrecht schließlich durch die bedingungslose Liebe Giselles gerettet wird – mehr als nur die Geschichte einer jungen Frau, die zum Opfer adeliger Willkür und gesellschaftlicher Konventionen wird.

Carlotta Grisi feierte als Giselle einen riesigen Erfolg und war bereits neun Monate nach der Uraufführung auch in London zu sehen. Die Rolle des Herzog Albrecht eignete sich wenig später Marius Petipa für Aufführungen in Bordeaux und Madrid an, und mehr: er nahm das Werk mit nach Sankt Petersburg, wo er es 1850 in Teilen überarbeitete und zugleich aber auch für das Repertoire lebendig hielt – Material, auf das auch Elena Tschernischova in ihrer Wiener Fassung zurückgriff, den Fokus auf »die komplexen Gefühle in ihren vielfältigen Erscheinungen«, so die Choreographin, legend. »Tschernischova war davon überzeugt«, ergänzt die ehemalige Solotänzerin des Staatsopernballetts Brigitte Stadler, die für die Einstudierung mit der aktuellen Besetzung verantwortlich ist, »dass die Persönlichkeit und der Charakter eines Menschen in jeder Rolle auf der Bühne quasi ›durchscheinen‹ und zum Ausdruck kommen« sollten. »Die Bühnenrollen werden so zu einem Spiegelbild der Seele.«

Anne do Paço