Unergründliche Mélisande
Die Wiener Mélisande ist nicht Ihre erste, sondern Ihre dritte Begegnung mit der Rolle.
Christiane Karg: Mein Mélisande-Debüt war in Frankfurt in der Inszenierung von Claus Guth – eine Arbeit, die mich sehr geprägt hat. Dadurch, dass es sich um eine Neuproduktion handelte, konnte ich mich sehr intensiv mit der Figur auseinandersetzen und tief in ihren Charakter eindringen. Übrigens eine der schönsten Opernfiguren für mich: Über ihr schwebt ein großes Fragezeichen, das mit jedem Abend größer wird. Mélisande ist einfach unerschöpflich.
Ist das Fragezeichen nicht irritierend? Dieses Nicht-Fassen-Können eines Charakters?
Christiane Karg: Gerade, dass sie so schwebend ist, finde ich das Faszinierende an ihr. Sie hat keine nachvollziehbare Vergangenheit, man weiß nicht, wohin sie geht. Und genau genommen ist auch ihre Gegenwart alles andere als konkret. Ich finde es spannend, dass so viel offen bleibt: Man kann viel Fantasie in den Abend einbringen.
Die Gefühle der Mélisande sind auch eher vage definiert.
Christiane Karg: Alles an ihr ist in Schwebe. Auch was sie spricht! Sie sagt: Ich bin nicht traurig, aber auch nicht glücklich. Was ist sie also? Man weiß es nicht.
Ich kann mir vorstellen, dass ein solch unscharf geschnittener Charakter nicht einfach zu formen ist. Eine Susanna, die Sie ja auch singen, ist da schon einfacher, oder?
Christiane Karg: Susanna ist ganz klar und man weiß genau, was zu spielen ist. Eine Mélisande aber darf nie den Boden berühren, sondern muss immer ein wenig in der Luft bleiben. Sie ist ein Feenwesen ... Man soll nie versuchen, sie zu diesseitig zu gestalten und zu viel an ihr zu erklären, denn sie würde dadurch verlieren. Mélisande bleibt die ganze Oper lang wie in einer Blase, in einer gläsernen Kugel, in der sie durch den Abend rollt. Diesen Raum muss man ihr zugestehen, sonst bleibt das Zauberhafte auf der Strecke.
Nun ist es, ob man will oder nicht, so, dass man von einer Figur, die man gestaltet, auch beeinflusst wird. Rollen Sie nach einem Mélisande-Abend in der gläsernen Kugel weiter?
Christiane Karg: Ich habe das in einer solchen Intensität noch nie erlebt. Nach jedem Auftritt wollte ich eigentlich in meine Garderobe gehen, die Tür zuschließen und erst einmal eine halbe Stunde weinen. Weil ich sie nicht loslassen konnte. All diese Gefühle Mélisandes, die aufgestaut werden und sich nicht entladen können – die sind in mir geblieben. Es ist keine Figur, die man einfach „abliefern“ kann. Der Abend ist nach Fallen des Vorhangs noch lange nicht zu Ende.
Auch musikalisch ist sie ungewöhnlich. Sie ist zum Beispiel weniger präsent als Golaud.
Christiane Karg: Es ist Musiktheater im besten Sinne, und es ist Musiktheater, bei dem es nicht ums Profilieren geht. Wenn eine Sängerin mit Koloraturen und hohen Noten punkten will, dann ist Mélisande die falsche Partie. Denn auch musikalisch schwebt sie und bleibt ein bisschen im Unscharfen. Das Feuerwerk bleibt aus – weil es nicht um das Feuerwerk geht. Mélisande ist keine „typische“ Opernpartie, sondern steht außerhalb dieser Welt. Was sie zusätzlich noch spannend macht, ist das Schweigen und die Stille. Sie spricht über weite Strecken nichts oder wenig, manchmal nur ein „ja“ oder „nein“, während die anderen deutlich mehr reden. Wir heutige Menschen können mit dieser Stille nur schlecht umgehen. Dieses Schweigen macht Mélisande ja auch so kostbar.
Wenn Sie nun bei einer für Sie neuen Produktion auf der Bühne stehen: Was geht Ihnen besonders durch den Kopf? Die nächste szenische Aktion, wie etwa: Wann muss ich mich umwenden?
Christiane Karg: Mir geht es überhaupt nicht um so etwas. Niemals. Ich denke, wenn man fühlt, dass man sich als Bühnenfigur jetzt umdrehen muss, dann ist es der richtige Augenblick. Es muss aus dem persönlichen Gefühl motiviert sein – dann gibt es keine falschen Momente. Natürlich muss man sich mit den Kollegen abstimmen, aber im Grunde: Wenn man weiß, was man singt, ergibt sich das Szenische fast von selbst.
Was mir einmal bei einem halbszenischen Liederabend aufgefallen ist, ist Ihre szenische Sicherheit. Ist das Bühnenerfahrung? Oder ist das angeboren?
Christiane Karg: Ich habe in meinem Studium viel gelernt, gleichzeitig aber auch schon früh so viele Produktionen gemacht, dass mir das Szenische sehr natürlich und selbstverständlich geworden ist. Eigentlich ist es ganz einfach: Man muss in der Figur sein, und ist man das, dann gewinnt man eine große Freiheit und Sicherheit. Abgesehen davon hatte ich als Kind und Jugendliche Ballettunterricht, was mir sicherlich im Körperbewusstsein geholfen hat. Ganz ohne eine gewisse Begabung wird es wohl nicht gehen. Das ist wie beim Singen: Man kann schon viel lernen, aber ein gutes Material ist Voraussetzung.
Sie singen verhältnismäßig viel Konzerte und verhältnismäßig wenig Oper. Ist das Absicht?
Christiane Karg: Ich mache derzeit etwa drei Opernproduktionen pro Jahr. Die restliche Zeit singe ich Konzerte und vor allem Liederabende. Ich brauche diese Abwechslung: Ginge ich ohne Unterbrechung von einer Opernrolle zur nächsten, würde künstlerisch abstumpfen. Das ist bei jedem anders – ich brauche diese Balance.
Ihre aktuellen Auftritte umfassen Mélisande, Rosenkavalier- Sophie und Susanna. Das sind auf nicht unbedingt enge Rollenschwestern.
Christiane Karg: Ich glaube, man wird zu leicht in eine Schublade gesteckt. Die Sophie war für mich immer eine hohe Partie, aber sie hat auch tiefe Noten, die man singen muss – das wird oft übersehen. Viele stopfen die Sophie-Sängerinnen in ein leichtes Sopranfach, wohin sie nicht unbedingt gehören müssen. Die Figur als solche wird als etwas abgestempelt, was sie eigentlich gar nicht ist: da steckt mehr drinnen! Auf der einen Seite habe ich das Gefühl, dass Rollen zu früh gesungen bzw. angeboten werden, und die Sänger verheizt werden. Auf der anderen, dass zu wenig phantasievoll geplant wird und weniger innerhalb des Faches, das man durchaus weiter anlegen kann, gewagt wird.
Wenn Sie auf einer Bühne stehen: Gibt es den Punkt, an dem es egal ist, um welche es sich handelt? Den Moment, in dem es nur um Musik geht?
Christiane Karg: Ja! Wenn die Musik erklingt, man in sie eintaucht und man ganz die Bühnenfigur wird. Da ist es egal, ob 50 oder 4000 Menschen zuhören. Vor Auftritten bin ich natürlich etwas angespannt, aber sobald ich auf der Bühne stehe, fühle ich mich plötzlich ungemein frei, sicher – und zu Hause. Egal, wo ich mich gerade befinde!
Das Gespräch führte Oliver Láng
Pelléas et Mélisande | Claude Debussy
12., 15., 18., 21. Oktober 2017
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