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Tatjana auf der Spur

Wenn man Ihre Auftritte überblickt, sticht einem die Tatjana nicht ins Auge. Eine von Ihnen bisher gar nicht so oft gesungene Partie.
Marina Rebeka: Das stimmt. Ich sang sie nur in einer Serie von fünf Vorstellungen komplett, und zwar 2008 unter Michail Jurowski. Seither habe ich nur noch die große Szene gestaltet, aber niemals mehr die ganze Oper.

Haben Sie sich nicht für die Partie interessiert oder lag es an den Opernhäusern?
Marina Rebeka: Ich liebe die Tatjana! Aber ich wurde lange Zeit sehr gerne als Donna Anna und als Violetta angefragt, als Fiordiligi oder Vitellia. Das sind einfach Mechanismen im Opernbetrieb. Viele wissen nicht, dass ich eine halbe Russin bin und die Sprache beherrsche und bringen mich nicht mit einer Tatjana in Verbindung ... Umso mehr freue ich mich, sie zu singen.

Nun ist Ihre Tatjana schon mehr als ein Jahrzehnt her, wie tief mussten Sie sich für diese Aufführungsserie in die Tschaikowski-Welt einarbeiten, um wieder Tatjana-fit zu werden?
Marina Rebeka: Ach wissen Sie, wie gesagt machte ich meine erste Tatjana mit Michail Jurowski. Und er hat in der frühen Zeit seiner Karriere in Moskau noch mit jenen Interpreten der Tatjana und des Lenski gewirkt, die ihrerseits noch mit Stanislawski gearbeitet hatten. Sie haben von Stanislawski gelernt, Jurowski von ihnen, ich von Jurowski. Das ist eine direkte Linie. Und er kennt die Oper bis ins letzte Detail, kreuz und quer das ganze Stück. Wir nahmen uns Eugen Onegin damals ungemein intensiv vor: Dieses Wissen ist für mich immer noch ganz präsent und greifbar. Abgesehen davon: Ich kenne meinen Tschaikowski, seine Opern, die Symphonien, sein gesamtes Werk. Lettland grenzt ja direkt an Russland, wir denken und fühlen durchaus auch russisch. Ich würde also sagen, dass ich Tschaikowski in meinem Blut habe und mich nicht hinsetzen muss, um große Studien vorzunehmen. Bei Richard Strauss wäre es anders, aber Tschaikowski ...

In etlichen Tatjana-Gesprächen meinten einige Ihrer Kolleginnen, dass man diese Rolle nicht zu früh singen könne. Es bedarf einer Reife, die sich erst nach und nach einstellt.
Marina Rebeka: Das sehe ich nicht so. Die Sache mit der Reife ... Natürlich, Tschaikowski hat eine durchaus füllige Instrumentation, mit einem sehr kleinen und leichten Sopran kommt man da nicht durch. Eine lyrische oder voll-lyrische Stimme hat aber keinerlei Probleme. Ich würde, wenn das Stimmliche passt, sogar sagen: die Tatjana kann man ein ganzes Leben lang singen.

Gemeint war von Ihren Kolleginnen auch die menschliche Reife, das gebrochene Herz. Wobei gebrochene Herzen ja in vielen Opern vorkommen. Auch Violettas Herz bricht, um eine Ihrer Paraderollen anzusprechen.
Marina Rebeka: Ja, aber Violetta hat geliebt und wurde geliebt und sie hat aus bestimmten Gründen der Liebe entsagt und auf diese verzichtet. Das ist bitter – sie hat sich dennoch ihren Lebenstraum zumindest kurzzeitig erfüllen können. Tatjana hingegen konnte sich ihren nie erfüllen. Sie liest in Büchern, träumt und erzeugt das Bild eines weltmännischen, gebildeten Mannes, der mit Souveränität in der Gesellschaft besteht. Sie will diesen Mann, bevor sie ihn noch gesehen hat, alle anderen interessieren sie nicht. Und dann kommt Onegin. Sie ist vom ersten Augenblick an verliebt und hingerissen. Er entspricht so sehr dem, was sie gelesen und geträumt hat! Sie ist bereit für Liebe, für diese Liebe ...

Dann bricht ihr Herz. Die spätere Tatjana ist eine ganz andere. Auch stimmlich?
Marina Rebeka: Es gibt diese berühmte Aussage, dass man für Violetta drei unterschiedliche Stimmen braucht. Man könnte sagen: für Tatjana braucht man zwei, die junge und die erfahrene Frau. Aber ich denke, man benötigt in Wahrheit nur eine Stimme, die modifizierbar ist. Man muss als Sängerin ein junges Mädchen vom Land, das erstmals so richtig liebt ebenso singen können wie die verheiratete Frau, die in der gehobenen Gesellschaft ihren Platz findet. Es ist eine Frage der Gestaltungskraft.

Auch wenn es zwei unterschiedliche Frauentypen sind – sie sind doch auch verbunden?
Marina Rebeka: Ja, die junge Frau, die verletzt wurde, die findet sich auch in der späteren Tatjana wieder. Tatjana ist wie eine Blume, die nie so richtig aufgeblüht ist. Der Duft der Knospe bleibt erhalten, aber es gab keine volle Liebesblüte. Dieser Traum, den sie – mutig! – geträumt hat, der klingt in der verheirateten Tatjana nach. Mutig, weil: Sie schreibt in der damaligen Gesellschaft einen Brief und gesteht als erste ihre Liebe – ich würde gerne wissen, wie viele junge Frauen sich das heute trauen?

Dass Tatjana sich gegen Onegin entscheidet ist keine Frage des Mutes?
Marina Rebeka: Es ist eine Frage der Gesellschaft. Heute würde man sagen: Es tut mir leid, ich will glücklich sein – und sich von Gremin scheiden lassen. Sie aber stellt den Wert des einmal gegebenen Heiratsversprechens und die Treue zu Gremin höher als die Liebe. Abgesehen davon: Onegin ist nicht zu trauen. Das spürt sie. Wer weiß, ob er sie wirklich liebt? Oder nur die schöne Dame in der Gesellschaft, die er nicht bekommt, begehrt?

Sollen für das Publikum nach einem Eugen Onegin-Abend alle Fragen beantwortet sein? Oder wollen Sie Ihre Zuhörer bewusst mit offenen Fragen auf den Nachhauseweg entlassen?
Marina Rebeka: In dieser Oper würde ich die Antworten lieber offenlassen. Es gibt ja so viele Fragen! Wie die Beziehung zwischen den beiden wirklich ist, wo das Mädchen in der späteren Tatjana versteckt ist, wie Onegin zu ihr steht. Viel Stoff zum Nachdenken!

Das Gespräch führte Oliver Láng


Eugen Onegin | Peter I. Tschaikowski
21., 24. 26. November 2019

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