Tabula Rasa
»Die Liebe zur Bewegung war schon immer der Grund, warum ich tanze; sie ist auch teilweise der Grund, warum ich choreographiere. Ich habe gelernt, dass es viel sinnvoller ist, auf den Körper zu hören, als ihm zu sagen, was er tun soll. Tanzen gibt uns ein großes Gefühl von Klarheit, Explosivität und Zartheit und erlaubt uns, weit über unsere gewohnten Grenzen hinauszugehen.«
Ohad Naharin
Der israelische Künstler Ohad Naharin gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen Choreographen. Mit seinem Werk setzte er nicht nur neue Maßstäbe für eine Tanzkunst Israels, sondern ist international genauso anerkannt wie gefragt. Viele große und renommierte Compagnien haben seine Arbeiten in ihr Repertoire aufgenommen. Die energetisch-kraftvolle, zutiefst berührende Choreographie zu dem israelischen Gesang Echad mi Yodea ist längst Teil eines tänzerischen, kulturellen Gedächtnisses. Ohad Naharin, 1952 im Kibbutz Mizra geboren, wurde an der Schule der Batsheva Dance Company und an der Julliard School in New York ausgebildet. Engagements führten ihn zu Martha Graham und zu Maurice Béjarts Ballet du XXe Siècle. Von 1990 bis 2018 leitete Naharin die Batsheva Dance Company und ist ihr bis heute als Hauschoreograph verbunden. Seine eigens entwickelte Bewegungssprache Gaga, eine »Wahrnehmungsschule der Sinne«, basiert auf einem Bewusstwerden der Form, dem Finden neuer Bewegungsgewohnheiten und dem Überschreiten vertrauter Grenzen – immer in Verbindung mit dem eigenen Empfinden und der eigenen Vorstellungskraft. Die Gaga-Bewegungssprache und Naharins Werke sind mittlerweile untrennbar miteinander verbunden und so trainieren auch die Ensembles, die seine Stücke tanzen, regelmäßig während der Zeit der Einstudierung in Gaga.
Das ureigene Bedürfnis eines wachen Körpers und der Erforschung von Bewegung ist stets Inspiration für den Choreographen. Dieses Bedürfnis sucht er auch in seinen Tänzer*innen, von denen er verlangt den Wunsch abzulegen, immer »schön« auf der Bühne auszusehen. Die physische Anstrengung nicht verbergen zu wollen, sondern sich ihr hinzugeben, sich in sie hineinzuwerfen, ist das, was Naharin interessiert. Und so sind seine Werke Liebeserklärungen an den Körper in Bewegung, der sich in voller Freiheit befindet, voller Kraft ist, aber auch verletzlich und pur daherkommt.
Tabula Rasa ist ein frühes Werk des Choreographen, 1986 für das Pittsburgh Ballet kreiert, das, basierend auf der antiken philosophischen Vorstellung den Menschen als »unbeschriebenes Blatt« zu betrachten, eine Erforschung des Ich und des Körpers in den Mittelpunkt stellt und dabei für Tänzer*innen und Publikum zur kinetisch-meditativen Erfahrung wird. Zur gleichnamigen Komposition von Arvo Pärt entwickelt Naharin eine Auseinandersetzung mit jener Physis, die sowohl individuell als auch in der Gemeinschaft stattfindet – das körperliche Einander-Spüren ist dabei ein entscheidendes Element in seiner choreographischer Sprache. Einen geschmeidigen Strom an Bewegungen mit körperlichen Herausforderungen in Verbindung bringend, ist Tabula Rasa ein eindringliches Werk, ein energetisches Körpergebilde, in welchem die Tänzer*innen des Wiener Staatsballetts erstmals in einer Choreographie von Naharin zu sehen sein werden. Matan David, langjähriges Ensemblemitglied der Batsheva Dance Company, studiert das Werk in Wien ein und spricht im Interview über seine Erfahrungen mit Naharin, Gaga und Tabula Rasa.
Wie hat sich dein persönlicher Weg mit Ohad Naharin und der Gaga-Bewegungssprache gestaltet?
MATAN DAVID Als ich 2001 Mitglied des jungen Ensembles der Batsheva Dance Company wurde, war unsere tägliche Trainingsbasis noch das Klassische Ballett. Einmal im Monat hatten wir ein Training bei Ohad Naharin, das aus Improvisation und einer physischen Ideensuche bestand. Es war der Beginn von dem, was bald das Gaga-Training werden sollte. In meinem zweiten Jahr mit der Compagnie kam Ohad dann mit dem Vorschlag auf uns zu, statt der Ballet Class nur noch Gaga zu trainieren. Das hat am Anfang auch zu Verwirrung geführt und es gab viele unterschiedliche Meinungen in der Compagnie. Ich war zu Beginn ebenfalls unsicher, da ich nicht wusste, wohin diese Reise geht und Ballett bis dahin ein großer Teil meines Lebens war. Wie kann man das ersetzen? Aber er hat uns angeboten, es ein Jahr lang auszuprobieren, um zu prüfen, ob es funktioniert. Und das hat es! Im Anschluss daran war ich für zehn Jahre Tänzer in der Batsheva Dance Company. In diesen Jahren hat Ohad viele seiner Arbeiten kreiert, die mittlerweile auf der ganzen Welt gezeigt werden. Ich bin dann Direktor des jungen Ensembles geworden, aber ich habe festgestellt, dass ich viel lieber im Studio arbeite. Also habe ich mich dazu entschlossen, diesen Posten aufzugeben und als Einstudierer von Ohads Werken und Lehrer zu arbeiten. Das liebe ich sehr!
Ist deine Arbeitsweise bei der Einstudierung von Naharins Choreographien und beim Gaga-Training eine andere, wenn du für eine klassische Compagnie wie das Wiener Staatsballett arbeitest?
MD ich habe bereits mit vielen klassischen Compagnien, darunter auch das Ballet de l’Opéra de Paris, gearbeitet und wähle in diesen Engagements einen minimal anderen Zugang. Ich versuche mehr die Gemeinsamkeiten als die Unterschiede von Gaga und Ballett hervorzuheben, denn beides hat viel mehr gemein als man denkt. Mit Balletttänzer*innen arbeite ich über die Elemente, die ihnen aus dem klassischen Training bekannt sind, aber verbinde sie mit einem neuen Zugang des Gaga-Trainings. Es geht darum, dass sie diese Elemente wiedererkennen und in einer anderen Art und Weise mit ihren Körpern in der Gaga Class recherchieren können.
Fällt es Balletttänzer*innen schwerer als zeitgenössischen Tänzer*innen, sich dieser Trainingsmethode zu öffnen?
MD Ich denke, dass sie zunächst zurückhaltender, vielleicht sogar ängstlicher sind. Gaga ist für sie eine neue und unbekannte Arbeitsweise. So intensiv mit einer anderen Methode zu arbeiten ist für den klassisch trainierten Körper in gewisser Weise eine Herausforderung. Sie können sich im Gaga-Training nicht wirklich auf eine Struktur verlassen. Sie wissen, wie sich eine Arabesque oder die verschiedenen Positionen im Ballett anfühlen und auch wie sie diese ausführen. Dieses Arbeiten an einer Struktur fehlt ihnen nun. Einige der Tänzer*innen blühen sofort im Training auf, weil sie die Art und Weise dieser neuen Körperrecherche freut, andere halten noch ein wenig zurück, auch weil sie unsicher sind. Meine Aufgabe ist es, ihnen den Schlüssel zu geben, sich von diesen Unsicherheiten und Ängsten zu befreien und loszulassen.
Tabula Rasa ist ein frühes Werk von Naharin. Was ist deine Geschichte mit dieser Choreographie und wie hat sich der Prozess der Einstudierung im Laufe der Jahre und mit der Entwicklung der Gaga-Bewegungssprache verändert?
MD Meine Beziehung zu Tabula Rasa ist interessant. Ich habe es mit 20 Jahren in meinem ersten Jahr mit der Batsheva Dance Company getanzt. Jetzt bin ich 40 Jahre alt und hatte bis vor fünf Jahren, als ich die Choreographie in Kuba einstudiert habe, keine Berührungspunkte mit diesem Werk. Nun entdecke ich das Stück mit den Tänzer*innen des Wiener Staatsballetts wieder. Natürlich erinnere ich mich, aber es ist eine ganz andere Erfahrung. Wenn ich z.B. Minus 16 einstudiere, was sehr oft passiert, brauche ich keine Notizen, kein Video. Mit Tabula Rasa ist das anders. Ich spüre das Stück neu. Mit der stetigen Entwicklung von Gaga können wir dieser älteren Bewegungssprache eine moderne Interpretation geben. Anstatt nur über die Form einer Bewegung nachzudenken, hat sich mit Gaga das Denken über das Empfinden jener Form, über die Dehnung, über Off-Balance weiterentwickelt und sensibilisiert. Form wird also mit einer explosiven Kraft verbunden. Die Bewegungen innerhalb der Choreographie haben sich nicht viel geändert, aber der Zugang zu ihnen.
Die Choreographie ist sehr physisch, innerhalb dieser Körperlichkeit entwickelt sich eine meditative Erfahrung – für die Tänzer*innen und als Reaktion darauf auch für das Publikum.
MD Ohad möchte, dass die Tänzer*innen bei einer Vorstellung dieselbe Erfahrung machen, wie wenn sie seine Choreographien im Studio tanzen. Das Gefühl eines Präsentierens auf der Bühne vor Publikum soll nicht vordergründig sein, sondern es geht darum, sich als Tänzer*in mit der Sensibilität des Moments zu verbinden. Ohad ist an der meditativen Erfahrung als Suche im Moment interessiert und nicht am Performen einer Show, was dazu führen könnte, die eigene Recherche im Körper zu verlieren. Tabula Rasa ist eine sehr interessante Choreographie. Sie erinnert fast an ein komponiertes Exercise. Es gibt so viele Strukturen, Kanons und Verbindungen. Man erkennt Ohads choreographischen Kreationsprozess in diesem Werk. Es gibt eine starke Verbindung der Choreographie und der Musik, nicht nur in Bezug darauf, wie die Musik den Rhythmus vorgibt, sondern auch die Energien der Violinen, die Vibrationen sind wichtig. Ich spüre beinahe die Herzschläge der Tänzer*innen, nicht nur weil die Choreographie extrem anspruchsvoll ist, sondern auch weil die Musik viel gibt und bewegt. Es ist eine gemeinsame Reise von Bewegung und Musik.
GOLDBERG-VARIATIONEN
27. April (Premiere) / 1. / 5. / 9. / 15. / 19. / 22. / 25. / 29. Mai 2023
TABULA RASA
Musik Arvo Pärt
Choreographie Ohad Naharin
Musikalische Leitung Christoph Koncz
Violinen Yamen Saadi / Raimund Lissy
Klavier Anna Buchenhorst
GOLDBERG-VARIATIONEN
Musik Johann Sebastian Bach
Choreographie Heinz Spoerli
Klavier William Youn
Wiener Staatsballett
Orchester der Wiener Staatsoper
Einfuhrungssoiree: 17. April 2023, 19 Uhr, Gustav Mahler-Saal
DANCE MOVIES
Mr. Gaga. Der Choreograph Ohad Naharin.
Tomer Heymann / IL/SE/DE/NL 2015 / 100 Min / OmU
Sonntag, 23. April, 13 Uhr im Filmcasino (Margaretenstraße 78)
Im Anschluss Nachgespräch mit Produktionsbeteiligten von Tabula Rasa
Tickets → filmcasino.at
Gespräch und Text Nastasja Fischer