© Harald Hoffmann

Sinnlicher Sog

Seit seinem Debüt 2009 kehrt Ingo Metzmacher regelmäßig zurück an die Wiener Staatsoper – nun leitet er im Dezember überdies, nach Lady Macbeth von Mzensk und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny mit Alban Bergs Lulu bereits die dritte Premiere im Haus am Ring. Mit dem deutschen Dirigenten sprach Andreas Láng.

Johannes Brahms sprach den Interpreten einst jedes Mitschöpfertum ab und beschränkte sie in ihrer Funktion auf die Umsetzer des Notentextes.

Ingo Metzmacher: Dem stimme ich zu hundert Prozent zu, mit dem Zusatz, dass der Interpret die Partituren, um sie umzusetzen zu können, natürlich auch wirklich durchdringen und verstehen muss. Es geht nicht um ein oberflächliches Präsentieren von abgedruckten Vorgaben.

Aber jeder Einzelne hat doch ganz unterschied- liche Erfahrungen, die immerhin interessant wären als Farbe in die Interpretation eingebracht zu werden …

Ingo Metzmacher: Ich muss hier zwei Dinge auseinanderhalten: Wenn wir beide, die wir hier sprechen, dasselbe Buch lesen würden, kämen wir auch nicht auf den Gedanken es zu interpretieren, trotzdem wären Ihre und meine inneren Bilder der Lektüre voneinander sehr unterschiedlich. Und gesetzt den Fall, jemand machte einen Film aus diesem Buch, so entspräche das Ergebnis mit Sicherheit nicht unseren Vorstellungen und wir wären vielleicht sogar enttäuscht. Das heißt: Man entwickelt eigene „Lesarten“ eines Buches, aber genauso einer Partitur ohne dadurch etwas draufzusetzen. Die Erfahrungen, von denen Sie sprachen, aber auch meine Interessen, werden mich andere Dinge aus dem Informationsreichtum des Notentextes herauslesen lassen als einen anderen. Das heißt aber nicht, dass ich etwas Privates, Falsches, vom Komponisten nicht Vorgesehenes hineinschleuse. Das habe ich immer vermieden, und genau dagegen hat sich auch Brahms ausgesprochen.

Das heißt: Wenn Sie eine Partitur nach 20 Jahren wieder in die Hand nehmen, lesen Sie vielleicht andere Dinge aus ihr heraus als früher …

Ingo Metzmacher: Sehr wahrscheinlich. Das wäre so, als ob Sie jeden Tag durch eine bestimmte Straße gingen – und plötzlich, nach vielen Jahren, fällt Ihnen ein neues Detail auf, das sie vorher nicht bemerkt haben. Auf diese Weise wird eine „Interpretation“ mit den Jahren reicher. Mir ging das gerade bei der Lulu so: Ich habe das Werk längere Zeit nicht dirigiert und nun, im Zuge der Vorbereitungen für die aktuelle Neuproduktion, sind mir viele schöne, neue Aspekte aufgefallen.

Sie haben das Stichwort geliefert und damit direkt zur Lulu übergeleitet: Was unterscheidet nun – vom Thema Zwölftonreihe abgesehen – die beiden großen Berg’schen Bühnenwerke Wozzeck und Lulu?

Ingo Metzmacher: Nun, Lulu ist das mit Abstand längere Stück – es ist ja schon die literarische Vorlage deutlich umfangreicher – und Berg hat mit Lulu eine ganz andere, eine große dreiaktige Form geschaffen, deren auffälligstes Merkmal die Spiegelung ist: In der Mitte des zweiten Aktes, in der sogenannten Filmmusik – die buchstäblich ab der Hälfte gespiegelt ist –, gibt es einen Moment, ab dem das ganze Stück quasi rückwärts läuft, was sich nicht zuletzt dadurch zeigt, dass die drei Männer, die zuvor ihretwegen den Tod gefunden haben, gewissermaßen am Ende als „Freier“ wieder auftauchen. Und der letzte, Dr. Schön alias Jack the Ripper, wird sie dann schließlich ermorden. Ich finde diese formelle Anlage des Stückes – die natürlich nur in der dreiaktigen Version zur Geltung kommt – unheimlich faszinierend und bin froh, diese Fassung erstmals machen zu können.

Kommen wir nun zur Zwölftonreihe in Lulu – Berg hat sie nicht nur als Reihe benutzt, sondern aus ihr Intervalle herausgeschält, die er in leitmotivischer Funktion weiterverwendete. Sollen diese Leitmotive beim Zuhörer einen Wiedererkennungseffekt auslösen wie bei Wagner oder unterbewusst wirken?

Ingo Metzmacher: Ich würde es anders formulieren: Sie sollen einen Wiedererkennungseffekt auslösen, weil sie unterbewusst wirken. Das tun sie schließlich auch bei Wagner – nur die wirklichen Wagnerianer können unentwegt alle Motive benennen (lacht). Auch für Alban Berg sind die Leitmotive so etwas wie eine Klammer, die es ihm ermöglicht in einem Stück von doch drei Stunden Musik Wesentliches zu verbinden, zusammenzuhalten – sie werden nicht umsonst schon im Prolog mit dem Tierbändiger vorgestellt. Auch interessant, dass ein Tierbändiger die Bühne betritt – vielleicht ein Hinweis darauf, dass es sich insgesamt um einen wilden Stoff handelt, der gebändigt werden muss: Und der Komponist bändigt durch formale Prinzipien.

Das heißt, dass zum Beispiel die Verwendung der Sonatenhauptsatzform, die Einteilungen in Duettino, Kammermusik I etc. weniger für das Publikum gedacht sind, sondern eher als Gestaltungshilfe oder Gestaltungsmöglichkeit für Berg selbst?

Ingo Metzmacher: Igor Strawinski meinte einmal, dass ein Komponist bei jedem neuen Werk grundsätzlich zuvordererst ein klares Spielfeld mit ganz eindeutigen Grenzen abstecken müsste, innerhalb derer dann aber alles erlaubt wäre. Das galt sicher auch für Alban Berg. Er benötigte also für diesen doch ausufernden Stoff der Lulu klare Formen mit einer hohen Variabilität, die ihm ermöglichten das ihm offenbar persönlich nahegehende Thema auszuarbeiten. Wobei ich seine Fähigkeit der Durchdringung der musikalischen Formen, seine Kunst der Übergänge phänomenal finde. Alban Berg ist auch diesbezüglich ein absoluter Großmeister!

Apropos Übergänge: Auffällig ist in der Lulu auch die wiederholte Verwendung von Rezitativen …

Ingo Metzmacher: … übrigens ein weiterer Unterschied zu Wozzeck, in dem solche Rezitative nicht vorkommen. Keine leichte Sache, nebenbei bemerkt: Es handelt sich hierbei um zumeist kurze Momente, die von Teilen, die mit a tempo überschrieben sind, abgelöst werden. Im Gegensatz zu diesen a tempo-Abschnitten in denen – den Schönberg’schen Überlegungen folgend – gebundenes Tempo, also ein klares Metrum vorherrscht, wird den Sängern in den Rezitativen größtmögliche Freiheit zugestanden, die aber bei dieser Musik und bei dieser Rezitativ-Kürze eine gewisse Herausforderung darstellt.

Kann man alles in allem Lulu noch zum Expressionismus zählen?

Ingo Metzmacher: Auf jeden Fall weist die Lulu- Musik eine sehr hohe Sinnlichkeit mit einer gewaltigen gewaltigen Sogwirkung auf. Vor allem jene Teile, die von der Sehnsucht sprechen. Diese lyrisch-weichen Abschnitte gehen mir besonders unter die Haut, da erglühen Farben, die nicht einmal in Tristan und Isolde zu finden sind. Einer der Höhepunkte in der gesamten Oper ist sicherlich jene Stelle in der zweiten Szene im zweiten Akt, an der Lulu aus dem Gefängnis kommend wieder die Bühne betritt: Mit Schigolchs Einsatz „Hü, kleine Lulu: wir müssen heut’ noch über die Grenze“ beginnt im Orchester eine Musik die bis zu Lulus „O Freiheit! Herr Gott im Himmel!“ einen derartigen Zug entwickelt, dass ich jedes Mal wieder bis ins Innerste aufgewühlt werde! Das ist Gänsehaut pur! Aber auch das Adagio am Ende der Oper, wenn Jack the Ripper auftaucht und Berg in der Beziehung zwischen Lulu und Schön/Jack etwas elementar Wesentliches zum Erklingen bringt, das weit über die Faszination der Weiblichkeit hinausgeht, ist ganz tief empfundene Musik in der Tradition von Gustav Mahlers 9. Symphonie.

Wie sieht denn die Instrumentierung aus? War Berg ein ähnlich guter Orchestrierer wie Schostakowitsch oder Berlioz?

Ingo Metzmacher: Er war auch auf diesem Gebiet ein Genie. Die Lulu-Partitur etwa atmet einerseits ein gewisses französisches Flair und gewinnt andererseits durch die Verwendung eines Vibraphons und eines Saxophons einen ganz eigenen Charakter, der schon ins Jazzige hinüberschaut. Diese beiden Instrumente schaffen Farben, die nicht nur im Wozzeck nicht vorkommen, sondern überhaupt ihresgleichen in der klassischen Musik suchen und eine ganz eigentümliche Atmosphäre vermitteln.

Im Zusammenhang mit Strauss sprechen Sängerinnen und Sänger gerne davon, dass sie anstreben Teil des Gesamtklanges zu sein und nicht versuchen über das Orchester drüber zu singen. Wie sieht es diesbezüglich in der Lulu aus?

Ingo Metzmacher: Die Stimme der Lulu selbst ist sicher eine Farbe des Gesamtklanges. Die Gegenwelt, also die Männerstimmen, mit ihren oftmaligen Sprechgesängen, vor allem jene des Dr. Schön, haben sich mit dem Orchester so manches Kräftemessen zu liefern (lacht).

Es gibt gar nicht so wenige Ossia-Stellen in der Lulu-Partitur…

Ingo Metzmacher: … die die praxisorientierte Seite von Alban Berg unter Beweis stellen. Man kann die Partie der Lulu zum Beispiel mit einem hohen, leichten Koloratursopran besetzen, oder, wie in unserem Fall bei der Premiere, mit einer Sängerin, die über eine vollere Stimme verfügt. Diese Ossia-Stellen sind solchen Überlegungen geschuldet.

Alban Berg hatte einen gewissen Hang zum Aberglauben und zum Okkulten. Ist dieser Zug in seiner Musik erspürbar?

Ingo Metzmacher: Ich habe die Lulu-Suite schon in recht jungen Jahren dirigiert und eine merkwürdige Kraft in der Musik erfahren, die mich damals irritiert hat, mit der ich nicht umzugehen wusste. Nun ist ja bekannt, dass Berg zumindest den dritten Akt seiner Geliebten Hanna Fuchs gewidmet hat – nicht von ungefähr hört die Oper mit einem Akkord auf, in dem die Initialen H-F vorkommen. Berg liebte auch in seinen Werken geheimnisvolle Anspielungen, Verschlüsselungen. Ich habe einmal gehört, dass Komponisten in ihren Werken gerne Dinge symbolisch aufbewahren, über die sie sonst nicht reden möchten. Und ich bin mir sicher, dass Alban Berg in seiner Lulu etwas für ihn sehr Zentrales aufgehoben hat, was dadurch nie verloren gehen, immer bleiben wird.

Zum Abschluss noch etwas Persönliches: Wenn man Ihnen beim Dirigieren zusieht, merkt man, wie Sie die Instrumentalisten und Sänger zum Musizieren animieren können. Passiert das bewusst oder ist das Handwerk?

Ingo Metzmacher: Das hat sicher mit meinem Vater zu tun, der ein Erzmusikant war. Wenn er abends nach Hause kam, lud er meistens noch einige Freunde ein, mit denen er stundenlang Streichquartette spielte, einfach aus Freude an der Sache. Für mich war das etwas ganz Natürliches, mit dem ich aufgewachsen bin. Das muss wohl abgefärbt haben.


Lulu | Alban Berg
Premiere: 3. Dezember 2017
Reprisen: 6., 9., 12., 15. Dezember 2017
» Karten & mehr

Elektra | Richard Strauss
5., 8., 11. Dezember
» Karten & mehr