Sich immer neue Fragen stellen

Wir sitzen hier auf der Probebühne der Wiener Staatsoper und Sie stecken inmitten der Probenphase. Ist das eine Zeit, die Sie beide schätzen? Oder sind Sie eher wie Rennpferde, die endlich losstürmen wollen?

KS Juan Diego Flórez: Also grundsätzlich schätze ich die Probenphase natürlich, man hat Zeit, in ein Werk einzudringen und eine Figur in ihrer Tiefe zu erforschen. Das betrifft besonders jene Rollen, die ich noch nicht, oder noch nicht oft gesungen habe. Im Falle, dass ich in einer Partie wirklich schon sehr häufig auf der Bühne gestanden bin, verhält es sich ein wenig anders: da können die Probenwochen schon Längen haben. Es ist interessant: Tatsächlich scheint es zwei Sorten von Sängern zu geben. Jene, die eher für eine Aufführung leben (dazu zähle ich), und die Proben-Sänger, die wahnsinnig gerne an einer Rolle arbeiten und immer weiter arbeiten, aber vor den echten Vorstellungen vor Publikum dann sehr nervös sind und gerne immer weiterprobieren würden.
Olga Peretyatko: Bei mir ist es ähnlich: Ich mag proben, aber nicht zu lange. Es kann dann irgendwann der Moment kommen, an dem man das Stück einfach nicht mehr hören will (lacht). Dann wird es Zeit für die Premiere! Es gibt natürlich Theater, da kennt man, was die Inszenierungseinstudierung betrifft, nur die minimale Geografie eines Stücks. Also: Von diesem Punkt aus geht man nach rechts, dann nach links und hinten geht man ab. Punkt. Aus. Alles andere muss man aus sich selber schöpfen, jede Interpretation, alles. Das ist dann doch ein bisschen zu wenig. Ich bin schon ein Mensch, der gerne probt, man muss den Raum kennen lernen, man muss ihn füllen, jeder Regisseur hat seine eigene Vision, mit all dem muss man sich vertraut machen. Aber eben in Maßen. Diesmal ist es auch deshalb schön, weil wir uns alle gut kennen und alle schon bei anderen Produktionen zusammen gearbeitet haben. Das ist fein, alles ist so vertraut!

Den Edgardo sangen Sie erstmals in Barcelona, im Jahr 2015. Wieweit hebt sich ein solches erstes Mal von anderen Produktionen ab?

KS Juan Diego Flórez: Wenn man eine Rolle überhaupt zum ersten Mal singt, dann muss man sie zunächst einmal ordentlich in die Kehle bekommen. Das ist gar nicht so einfach! Es gibt da einen beachtlichen Unterschied zu Musical-Produktionen, etwa in New York. Bei diesen werden sehr viele previews veranstaltet, also Vor-Aufführungen, bei denen aber im Grunde schon alles stimmt. Also Kostüm und Maske, Licht etc. Man übt also unter den Aufführungsbedingungen. Im Falle von Opernproduktionen ist es meistens so, dass man nicht sehr viele Endproben hat, in denen man in Kostüm und Maske die komplette Oper als Durchlauf probt. Dann folgen die Premiere und fünf, sechs Aufführungen – und schon ist eine Serie wieder vorbei. Man probt also im Vorfeld bei der Erarbeitung der Figur viel, aber nicht so viel im Finale.

Sie haben die Lucia unter anderem an der Met gemacht und in Tokio. Greifen Sie bei Neuproduktionen auf Ihre früheren Eintragungen zurück?

Olga Peretyatko: Meine erste Lucia war in Palermo, das war die kürzest mögliche Fassung mit allen denkbaren Strichen, alle! Die komplette Strich-Tradition! Dann sang ich die Lucia in Berlin, ganz ohne Proben, ich hatte ein Kostüm, das noch Joan Sutherland getragen hatte. Später kam eine Neuproduktion in Tokio und heuer die Met. Aber immer war es die traditionelle Fassung der Lucia. Diesmal aber verwenden wir die kritische Ausgabe – und das ist wirklich etwas anderes. Nicht im Großen, aber es gibt viele kleine Unterschiede, Details im Rhythmus, einzelne Noten, Texteinteilungen. Der Teufel steckt im Detail! Es war wirklich nicht einfach, umzulernen! In meinem Kopf hatte ich die alte Fassung noch so gut gespeichert! Da ist es schon fein, ausreichend Zeit zum Probieren zu haben.
KS Juan Diego Flórez: Normalerweise schaue ich mir die Aufzeichnungen aus früheren Produktionen sehr gut an. Wobei ich diesmal ganz neue Noten habe… Mir ist aber aufgefallen, dass ich früher, was die vokale Umsetzung betrifft, viel mehr Eintragungen vornahm als heute. Heute passiert vieles fast automatisch. Es ist aber so, dass jede neue Annäherung an ein Werk ein neues Studieren erfordert, weil ich es ja jedes Mal anders singe. Ich analysiere die Noten, weil ich etwas Neues entdecken will, weil ich Aspekte sehe, die ich zuvor nicht so wahrgenommen habe. Ich möchte neue Wege gehen, neue Lösungen und Zugänge finden. Eine große Opernpartie ist stets eine Herausforderung, eine Herausforderung, über sich selbst hinauszuwachsen. Ich mag das! Und das ist es auch, was ich an der Musik und der Oper liebe: dass man so viele Wege finden kann und sich immer neue Fragen stellen.

Das bedeutet aber auch, dass diese Produktion sich von mancher Tradition des 20. Jahrhunderts verabschiedet?

Olga Peretyatko: Gerade diese Tradition aus dem 20. Jahrhundert brachte es mit sich, dass die Lucia oft mit leichten Stimmen besetzt war. Donizetti meinte aber gar keine so leichte Stimme – in Wahrheit erfordert die Partie einiges an dramatischer Kraft. Es ist auch ziemlich tief geschrieben, wenn man einfach nur eine Koloratur-Sopranistin ist, dann schafft man das gar nicht. – Und dann wurde es oft in eine höhere Lage transponiert.

Voriges Jahr sangen Sie den Edgardo, als Ihre zweite Lucia-Produktion, in München: Wie viel ist da hängen geblieben?

KS Juan Diego Flórez: Zum Glück sehr viel! Ich kann mich vor allem an die Münchner Produktion noch sehr gut erinnern, sie ist ja weniger als ein Jahr her, und abgesehen davon merke ich mir Rollen an sich ziemlich gut. Wir Sänger sind ja im Training! Wenn man sich anschaut, was in den letzten Jahren alles auf meinem Plan stand, viel Belcanto, bisschen Barock, französische Oper, aber auch Nino Rota und Gluck – da kommt vieles zusammen. Ich speichere das alles in meinem Kopf. Und nach ein paar Tagen Studienzeit ist das meiste wieder da!

Sie singen viel Belcanto, viel Rossini, Bellini, Donizetti: Lässt sich eine – kurze und verein-fachte – Unterscheidung zwischen den Komponisten finden, was das Gesangliche betrifft?

Olga Peretyatko: Oh ja, da gibt es riesengroße Unterschiede. Nicht nur im Gesang, sondern auch was das Orchester betrifft – und das wirkt sich wiederum auf das Singen aus. Donizetti ist, was die Orchesterbesetzung angeht, schon fast Verdi, verwendet also Posaunen und reichlich Blech. Das ist im früheren Belcanto selten, Bellini setzt das in dieser Form nicht ein. Donizetti ist ein wenig der Übergang zwischen dem Belcanto und Verdi – wobei Verdi… ist ja eigentlich auch Belcanto!
KS Juan Diego Flórez: Es ist ja so, dass sich bei Donizetti vieles findet, was der damaligen Theaterkonvention entsprochen hat: Donizetti hat ja auch so geschrieben, wie es gefordert wurde. Wichtig war die Stimme, die Gesangsstimme – und die Schönheit. Vergleichen wir eine Donizetti-Rolle mit dem Werther: bei Werther steht der Gesang im Dienste des Dramas. Bei Donizetti, bei aller dramatischen Wirkung, die seine Opern haben, geht es nicht nur um das Drama, es geht um Schöngesang, um Ausdruck, ein bisschen auch darum, den Gesang zu präsentieren. Und Rossini … trotz Semiramide oder Guillaume Tell stand meiner Meinung nach bei ihm die Weiterentwicklung der musikalischen Komödie im Vordergrund. Bei Donizetti, trotz Liebestrank, war es mehr die tragische Form. So oder so: Man muss den musikalische Stil des jeweiligen Komponisten verstehen und begreifen, dann klären sich viele Fragen.
Olga Peretyatko: Als Sängerin muss man seine Stimme freilich auch an diese unterschiedlichen Umstände anpassen. Zum Beispiel hier in der Staatsoper. Der Orchestergraben liegt hoch, das muss man wissen! Mein Staatsopern-Debüt war Rigoletto – ohne Orchesterprobe. Ich komme also auf die Bühne und denke mir „Wow! Das Orchester sieht man aber wirklich gut!“ Das sind Erfahrungswerte, die man sich erwerben muss.

Und wie sieht es mit den Donizetti-Werken unterschiedlicher Gattungen aus? Wo liegen die gesanglichen Unterschiede zwischen heiter und ernst?

KS Juan Diego Flórez: Das Komische ist natürlich etwas leichter, heller. Das Tragische erfordert die dunkleren Farben. Wobei man beachten muss, dass es um Farben, um Ausdruck geht und nicht um Kraft oder Lautstärke. Den tragischen und dramatischen Ausdruck erreicht man durch einen entsprechenden Effekt und nicht dadurch, dass man mit mehr Druck singt und anfängt zu schreien. Alle Sängerinnen und Sänger, die eine lange Karriere hatten, schafften diese lange Karriere nur durch einen klugen Einsatz ihrer Stimme. Egal an welchem Haus, egal in welcher Oper: Wenn man versucht, noch lauter, noch intensiver zu sein und seine Stimme überanstrengt, dann wird das nicht lange gut gehen. Früher oder später verliert man sie – und einmal verloren, kehrt die Stimme nie wieder zurück. Abgesehen davon: Ich finde, dass das Singen einem einfach Freude bereiten soll. Wenn man sich nur noch anstrengt, nur noch ringt, dann hat das ja auch keinen Sinn mehr. Und so freue ich mich auf Lucia di Lammermoor. Schließlich gehört sie, neben den anderen berühmten Belcanto-Opern, zu den beliebtesten Werken in ihrem Bereich.
Olga Peretyatko: Es geht ja generell auch um andere Qualitäten, die von einem Sänger oder einer Sängerin erwartet werden, nicht nur immer Vollgas und dreifaches Forte. Wenn es als Effekt nötig ist – gut. Aber darum geht es ja nicht!

Ist eine Elisir-Adina stimmlich so viel leichter als eine Lucia?

Olga Peretyatko: Nicht einmal so sehr! Meine erste Donizetti-Partie war die Adina, und es war für mich eine echte Entdeckung, dass das Orchester gar nicht einmal so klein ist. Man unterschätzt das! Da müssen die Dirigenten schon gut aufpassen…

Lucia ist diesmal ein extrem unterdrücktes Wesen.

Olga Peretyatko: Es ist wirklich eine arme, arme Lucia. Keiner kümmert sich um sie, es gibt keine Zärtlichkeit, keine Liebe, nichts. Ich habe eine verwandte Figur als Vorlage für diese Inszenierung gefunden, die Jane Eyre, ebenso von Anfang an traumatisiert. Man darf nicht vergessen, in dieser Zeit war der Wert einer Frau noch weniger als der von diesem Sessel da. Ich habe mich bisher also immer ein wenig bemüht, einen feministischen, etwas kämpferischen Charakter in die Rolle der Lucia zu bringen – zum Beispiel in das Duett mit ihrem Bruder. Diese Konfrontation ist extrem wichtig! Aber diesmal darf ich als Lucia nicht ausbrechen – erst am Ende! Das ist aber auch sehr gut und spannend, weil es tatsächlich ein emotionaler Käfig ist, in dem Lucia sitzt, auch was die Körpersprache betrifft. Es ist anstrengend, aber extrem interessant! Zu dieser Einsamkeit kommt auch noch, dass sie ihre Visionen hat… Die Wahnsinnsszene hat Laurent Pelly übrigens genial inszeniert! Ganz besonders den Anfang!

Nun kann man Edgardo als positiven Liebhaber, aber auch als Strategen sehen, der Lucia nur benützt.

KS Juan Diego Flórez: Edgardo ist, zumindest in dieser Produktion, kein sehr sympathischer Mensch. Er benützt, wie Sie sagen, Lucia für seine Zwecke. Daran ändert auch die schöne Musik nichts, die er singt. Er ist egoistisch und es geht ihm um seine Familie, seinen Einfluss. Am Ende freilich hat er alles verloren – da ähnelt er jenen Menschen, die bei einem Börsenkrach alles verlieren. So ist er im Finale auch alleine.

Und tötet er sich deshalb?

KS Juan Diego Flórez: Ja, es bleibt ihm nichts. Seine Pläne, seine Wünsche… alles verloren. Wie gesagt: Wir kennen die Fälle nach einem Börsenkrach, Menschen, die sich das Leben nehmen, nachdem sie ihre finanzielle Existenz verloren haben.

Die Rolle der Lucia wurde – unter anderem – international durch drei Sängerinnen stark geprägt. Die schon erwähnte Joan Sutherland, Maria Callas und Edita Gruberova. Wieweit ist das für Sie noch ein Thema?

Olga Peretyatko: Ich habe natürlich alle angehört, nicht nur, weil alle zur Musikgeschichte gehören, sondern, weil es mich einfach auch interessiert, wie diese unglaublich großartigen Sängerinnen diese Partie gestalten. Meine erste Lucia, die ich live erlebt hatte, war Edita Gruberova, ich studierte im zweiten Jahr an der Hochschule und besuchte, etwas schüchtern, die Vorstellung. Es war ein unglaubliches Erlebnis… Später habe ich die Callas-Aufnahmen kennen gelernt. Da braucht man nichts dazu zu sagen. Callas. Punkt! Anna Moffo fand ich fantastisch, dann kam meine Mariella Devia-Phase, die mich stark beeindruckte und beeinflusste. So stark, dass ich ihre Schülerin wurde. Das sind alles Einflüsse, doch keine Kopien, bitte! Jede Stimme ist einzigartig, und jeder muss seine eigene Farben und Interpretationen finden.

Und die Herausforderung?

KS Juan Diego Flórez: Das Finale. Viele Sänger haben es nach unten transponiert, wir lassen es aber im Original. Ich habe schon mehrfach erlebt, wie sich Tenöre am Ende ordentlich anstrengen mussten – es ist nämlich wie ein Marathon. Natürlich spüre ich auch die Anstrengung, aber ich leide nicht und komme ohne Probleme durch. Denn der Edgardo liegt, auch was das Finale anbelangt, in einem Bereich, der mir meiner Stimme einfach entgegenkommt.
Olga Peretyatko: Die Lucia ist eine lange Partie, sie singt ja dauernd! Und sie ist die Protagonistin, als Lucia muss man also auf der Bühne auch wirken und überzeugen. Und Lucia ist populär! Sehr oft, wie auch bei Traviata, wollen viele wissen, wie es in Wirklichkeit klingen soll (auf Basis seiner oder ihrer Lieblingsaufnahme, die allein richtig ist...). Aber die Vorteile überwiegen! Selbst die Länge ist gut, weil man Zeit hat sich und seine Interpretation zu präsentieren – und es eine wunderbare Musik gibt, die nur aus Highlights besteht!

Das Gespräch führte Oliver Láng


Lucia di Lammermoor
Premiere: 9. Februar 2019
Reprisen: 12., 15., 18., 21. Februar 2019
Koproduktion mit der Philadelphia Opera

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