Schwarz, weiß – und alle Graustufen dazwischen
Es ist die dritte Premiere, die Semyon Bychkov an der Wiener Staatsoper dirigiert: Nach Daphne (2004) und Lohengrin (2005) leitet der in St. Petersburg geborene Musiker nun die Chowanschtschina-Premierenserie. Im folgenden Gespräch erzählt der Maestro über Freiheit und Verantwortung als Künstler, das Unorthodoxe an Mussorgski und den Geruch des echten Lebens.
Mussorgski starb bekanntlich vor der Instrumentierung seiner Oper Chowanschtschina. Es gibt mehrere nachträgliche Instrumentierungen, u.a. von Nikolai Rimski-Korsakow und Schostakowitsch. Sie haben sich für die Fassung von Schostakowitsch entschieden. Warum?
Semyon Bychkov: Die Welt schuldet Rimski-Korsakow Dank, weil durch seine Instrumentation und Bearbeitung die Opern Mussorgskis überhaupt erst bekannt wurden. Man darf ja nicht vergessen, dass Rimski-Korsakow und Mussorgski nicht nur sehr gut befreundet waren, sondern eine Zeitlang sogar ein Zimmer geteilt haben. Sie kannten die Werke des jeweils anderen also genau, und Rimski-Korsakow war nicht nur persönlich, sondern auch künstlerisch ein enger Vertrauter Mussorgskis. Er hatte also ein sehr gutes Gefühl für die Sprache und Musiksprache seines Kollegen, für dessen musikalischen Ausdruck. Dennoch nehme ich nicht Rimski-Korsakows Instrumentation.
Warum nicht?
Weil Mussorgski seiner Zeit so weit voraus war, dass sogar für seine engsten Freunde das Unorthodoxe seines Schreibens befremdlich war. Also dachte man, dass Mussorgski einfach nicht instrumentieren könne und es „falsch“ mache. Rimski-Korsakow aber war Professor für Komposition und kannte die „richtige“ Lehre. Er bearbeitete also nach Mussorgskis Tod all das, was er für falsch erachtete – was aber richtig war.
Das bedeutet, dass er auch die musikalische Aussage des Werkes veränderte?
Semyon Bychkov: Genau! Bei aller Bewunderung für Rimski-Korsakows Instrumentationskunst beschleicht mich immer wieder das Gefühl, dass er ein Parfüm über diese Oper gesprüht hat. Über eine Komposition, die nicht süßlich duften darf, weil sie den Geruch des echten Lebens in sich trägt. Chowanschtschina ist aber nicht elegant. Nicht wohlriechend. Nicht sauber gekleidet. Sondern es ist das Leben mit all seiner Tragik. Sonst ist Chowanschtschina nicht glaubwürdig.
Und Dmitri Schostakowitsch hat sich nicht davor gescheut, diese Härte zu zeigen.
Semyon Bychkov: Schostakowitsch ist der geistige Sohn von zwei Komponisten: Mussorgski und Mahler. Und so passt auch die Härte in Mussorgskis Musik genau zu Schostakowitsch. Abgesehen davon korrespondiert für mich das Instrumentations-Genie Schostakowitsch mit dem Kompositions-Genie Mussorgski.
Ein Streitfall ist immer wieder das Ende der Oper. Strawinski hat eine Version des Finales geschrieben, die leise verklingt.
Semyon Bychkov: Mussorgski hat die Oper bekanntlich nicht vollendet. Man weiß nicht, wie das Ende wirklich ausgesehen hätte, wenn er nicht so früh verstorben wäre. Es ist also dem Interpreten freigestellt, sich für eine der Versionen zu entscheiden. Ich persönlich finde das leise verklingende Ende nicht überzeugend. Denn nach diesem Finale, in dem alle sterben – es ist ein Genozid! – zu jener schönen, ruhigen Stimmung zurückzukehren, die man am Anfang der Oper erlebt hat, erscheint mir nicht passend. Aber wie gesagt: Es gibt kein „richtig“ oder „falsch“. Es ist einfach eine Entscheidung, die man treffen muss.
Was aber war es, an dem sich die Zeitgenossen Mussorgskis gestoßen haben?
Semyon Bychkov: Man sieht das ganz deutlich bei Boris Godunow. Mussorgski komponierte zum Beispiel für Blechbläser in extremen, schwierig zu spielenden Lagen. Nun muss man beachten, dass es damals in Russland zwar eine große Streichertradition, aber keine Blechbläsertradition gegeben hat. Stellen Sie sich also vor, wie das geklungen haben muss! Heute allerdings, wenn auf hohem Niveau gespielt wird, ist zu erkennen, was Mussorgski wirklich wollte. Dazu kommt auch noch, dass Mussorgski die damalige Art, wie man Oper komponierte, vollkommen veränderte – nicht unähnlich Wagner, übrigens. Er hat zunächst einmal den Text verfasst und hat dann die Melodie dem Text angepasst, nicht umgekehrt. Die Musik kommt also aus dem gesprochenen Text, und auch aus dem Wie ein Text gesprochen wurde. Das Libretto ist, selbst für Russen, in einer schwierigen Sprache verfasst, komplex gebaut, mit sehr viel Subtext. Normalerweise nähert man sich Opern von der melodischen Seite, hier aber muss man vom gesprochenen Wort ausgehen. Wenn etwa Golizyn, Dossifei und Chowanski miteinander streiten, dann hat jeder seinen eigenen Stil des Sprechens, der sich in der Musik niederschlägt. Mit anderen Worten: Es ändern sich der Rhythmus, die Art des Ausdrucks laufend, die musikalische Linie wird immer wieder unterbrochen, je nachdem, wer spricht bzw. in welcher Stimmung eine Person gerade ist. Es gibt in diesem Aspekt also keine Temposicherheit, wie sie in vielen anderen Opern gegeben ist. Sondern einen stetigen, raschen Wandel und Wechsel.
Mussorgski hat an Chowanschtschina neun Jahre lang gearbeitet. Das ist eine lange Zeit … Sind – wie zum Beispiel im Siegfried – Brüche zu hören, ein Stilwandel?
Semyon Bychkov: Nein, und das ist das Faszinierende. Chowanschtschina ist eine einzige, große Einheit, ohne Stilunterschiede oder Bruchstellen.
Nun hat Mussorgski, wie anfangs erwähnt, das Werk zum größten Teil nicht instrumentiert, sondern nur einen Klavierauszug hinterlassen. Gibt das dem Dirigenten eine größere Freiheit in der Gestaltung?
Semyon Bychkov: Sie sprechen da ein bedeutendes Thema an: Welche Freiheit hat man als Interpret? Ich denke, wir sollten allerdings nicht über Freiheit, sondern über Verantwortung reden. Worin liegt die Verantwortung des Interpreten? Im Dienen. Dem Werk und dem Autor. Nicht im Benützen des Werkes für die eigene Darstellung. Das ist eine fundamentale Position, zu der sich jeder Musiker bekennen muss.
Wie ist aber nun die Instrumentation von Schostakowitsch rein technisch, abgesehen von der richtigen Chowanschtschina-Atmosphäre?
Semyon Bychkov: Schostakowitsch ist – neben Richard Strauss – einer der wenigen Komponisten, der sich beim Komponieren und Instrumentieren niemals verrechnet hat. Sehr viele andere hatten bei aller Genialität Schwierigkeiten mit der exakten Balance. Das bedeutet, dass der Dirigent viel Arbeit einbringen muss, um ein gutes Verhältnis zwischen den Stimmen, zwischen Bühne und Orchestergraben, im Gesamtklang zu erzeugen. Viele dynamische Elemente müssen adjustiert werden. Gustav Mahler zum Beispiel war nicht nur Komponist, er war auch ein großartiger Dirigent, dennoch hatte er bei seinen eigenen Werken kein gutes Gespür für die perfekte Balance im Orchester. Was tat er also? Er änderte laufend seine Werke, überarbeitete manches, feilte an der Orchestration – und vieles bleibt heute dem Dirigenten überlassen, der sich um Fragen der Dynamik kümmern muss. Bei Schostakowitsch tritt das so gut wie nie ein. Vielleicht macht man aus einem Piano ein Pianissimo, aber das ist ein normaler Arbeitsvorgang. Eine echte Nachjustierung braucht es nie.
Lässt sich ein Entwicklungsschritt Mussorgskis von Boris Godunow zu Chowanschtschina ausmachen?
Semyon Bychkov: Keine direkte Entwicklung, aber jedenfalls ein großer Unterschied. Lassen Sie es mich so sagen: Boris Godunow ist die Tragödie eines Individuums, das mit größter Macht ausgestattet ist. Und diese größte Macht stellt sich als Illusion heraus, weil der Preis, den Boris für sie zahlen muss, ein sehr hoher ist. Chowanschtschina hingegen ist die Tragödie eines Landes. Es ist die Konfrontation unterschiedlicher Visionen von und für Russland. Die Musiksprache der beiden Opern ist sehr unterschiedlich, Chowanschtschina ist melodischer als Boris Godunow, es kommen Melodien vor, die man ganz einfach nachsingen kann und die sich dann den ganzen Tag und in der Nacht im Kopf wiederholen.
Wieweit bezieht Mussorgski Stellung? Urteilt er über die Figuren, über ihr Handeln?
Semyon Bychkov: Nein, und das lässt mich wieder an Wagner denken. Für mich hat sich für eine lange Zeit die Frage gestellt, wieso Wagner für manche seiner dunkelsten Figuren eine solch herrliche Musik geschrieben hat. Die Antwort lautet: Wir beurteilen die Figuren nach ihrem Handeln, also aus einer Sicht von außen. Die Figuren singen aber ihre eigene Musik, sie singen ihre Sicht der Welt. Was von einem gedacht wird und was man von sich selber denkt ist ja selten dasselbe. Und Personen handelt mitunter böse, nicht weil sie böse sind, sondern weil sie verletzt sind, weil sie unglücklich sind. Ihre Musik, ihre Innensicht muss aber nicht zwangsläufig dunkel sein, weil sie sich selbst ja nicht als böse ansehen. Mussorgski schreibt, wie Wagner, die Musik aus der Sicht einer Figur, also sagt nicht per se: der ist gut und der ist böse. Sondern er beschreibt einfach einen Charakter. Schaklowity denunziert Chowanski – eine böse Tat, später aber singt er voller Schmerz und Leiden für sein Volk – ein Lamento, das einfach ans Herz geht. Mussorgski zeigt hier also einen Menschen mit vielen Eigenschaften, er malt nicht nur schwarz und weiß, sondern mit allen Graustufen dazwischen. So wie das Leben auch ist …
Das Gespräch führte Oliver Láng