"Schubert ist wie Mozart eine Königsdisziplin"

Es ist ja nicht ungewöhnlich, dass Frauen die Winterreise singen – die Ahnenreihe der berühmten Interpretinnen ist lang und bekannt – nichtsdestotrotz stellt sich die Frage, wie man diesem Zyklus aus weiblicher Sicht beikommt. Handelt es sich zum Beispiel um eine Schubert’sche Hosenrolle?

KS Angelika Kirchschlager: Dem Entschluss, mich dieser ultimativen Herausforderung des Liedgesangs zu stellen, folgte eine längere Phase des Heranspirschens. Ich bin gewissermaßen um die Winterreise herumgeschlichen, wie der Wien-Tourist um die Flaktürme auf der Suche nach einem Eingang und die vermeintliche „Hosenrollen-Tür“ hat sich dabei als unpassierbar herausgestellt. Bei genauerem Hinsehen und vor allem Hinhören tat sich dann aber der logische Zugang wie von selber auf: Franz Schubert und der Dichter Wilhelm Müller erzählen im Grunde genommen weniger die Geschichte eines Mannes, der von einer Frau enttäuscht wurde, als jene eines Menschen, der sukzessive aus der Gesellschaft herausfällt und nicht imstande ist, diesen Prozess aufzuhalten. Es geht also, anders gesagt, in erster Linie um Vereinsamung und Orientierungslosigkeit – und davon können Männer und Frauen gleichermaßen etwas erzählen.

Diese Antwort fordert fast die Frage heraus, inwieweit der Sänger, die Sängerin der Winterreise in diese von Ihnen geschilderte tragisch-schmerzhafte, dunkle Seelenwelt hinabgestiegen sein muss, um sich einer Interpretation stellen zu können?

KS Angelika Kirchschlager: Ich würde grundsätzlich weniger von Interpretation als von Verstehen sprechen. Schubert hat diese Gedichte Wilhelm Müllers durch seine Komposition ohnehin bereits in seinem Sinne interpretiert – meine Aufgabe als Sängerin ist es, diese Interpretation nachzuvollziehen, zu erkennen, was er gemeint haben könnte. Dass dieses Erkennen jedoch eingefärbt, gefiltert ist durch den Erfahrungsschatz des jeweiligen Sängers, steht andererseits außer Zweifel. Es ist somit sicher nicht von Nachteil, wenn man eine gewisse Ahnung von der Innenwelt der Lieder hat, mit denen man vor das Publikum tritt. Natürlich ist mir das, was dem Winterreise-Wanderer oder der Winterreise-Wanderin widerfährt, in dem Ausmaß nicht begegnet, aber in manchen schweren Phasen meines Lebens hatte ich zumindest einen Fuß in der Tür, die zu dieser Welt führt und konnte erahnen, was sich für ein Abgrund hinter ihr befindet. Das wiederum hat mein Verständnis in vielen Aspekten und in vielerlei Hinsicht verändert, hat mich vor allem
vielen Komponisten auf eine ganz neue Weise nähergebracht – und dafür bin ich dankbar!

Hoffnung oder gar eine Utopie spielen demnach in der Winterreise von Anfang an keine Rolle?

KS Angelika Kirchschlager: Das Lied Nummer 16 heißt sogar Letzte Hoffnung – und gerade dieses ist voller Dissonanzen und harmonisch schräger Akkorde, changiert ohne festen Grund ständig zwischen Dur und Moll… und wenn man bedenkt, dass die Hoffnung hier mit einem Blatt gleichgesetzt wird, das sich schließlich vom Baum löst und zu Boden fällt, kann ich Ihre Frage klar mit einem „Nein“ beantworten: keine Hoffnung, keine Utopie. Wie immer man den Leiermann, quasi den Schluss- und Zielpunkt der 24 Lieder auch verstehen möchte – als Fiktion des Todes oder als reale Gestalt, mit dem sich der Wanderer zu einem furchtbaren, tristen Duo zusammenschließt –, etwas Buntes, Helles kann ich in diesem Zyklus nicht erkennen.

Ist die Winterreise eine Summe aus lauter kleinen Welten oder ein unteilbares Ganzes?

KS Angelika Kirchschlager: Gute Frage … Sicher haben alle diese 24 Lieder eine je eigene Atmosphäre. Zugleich stellt aber jedes Lied einen Schritt dar, der den hier porträtierten Menschen weiter wegbringt von der Gesellschaft und tiefer hineinführt in die vorhin beschriebene Vereinsamung. Wir haben also eine zusammenhängende Entwicklung vor uns, in der jedes Glied das andere bedingt, jedes Glied mit dem anderen verzahnt ist.

Und sind Sie beim Ergründen des Zyklus bei einzelnen Liedern hängengeblieben, bis Sie festen Grund unter den Füßen gespürt haben, oder versuchten Sie die Winterreise immer als Gesamtes zu erfassen?

KS Angelika Kirchschlager: Ich bin jeden denkbaren Weg gegangen. Habe die Lieder vom Anfang bis zum Schluss durchgearbeitet, vom Schluss im Krebsgang nach vorn, habe das letzte Lied mit dem ersten, das vorletzte mit dem zweiten usw. kombiniert – auch dadurch erschienen sie plötzlich in einem ganz anderen Licht.

Sie sprachen vorhin von der ultimativen Herausforderung des Liedgesangs: Was ist denn an der Winterreise für den Sänger tatsächlich so schwer und worin besteht die Faszination dieses Zyklus?

KS Angelika Kirchschlager: Ein musikalisches Meisterwerk kennzeichnet, dass es einen Sänger, Instrumentalisten, Dirigenten, kurz: einen Menschen benötigt, der es ausfüllt. Je konzentrierter, reduzierter, minimalistischer der Gehalt einer Komposition ist, umso schwerer fällt dieses Ausfüllen. Schubert und Mozart sind diesbezüglich am Herausforderndsten, denn beide haben niemals auch nur eine überflüssige Note geschrieben, alles scheint schlicht, fast harmlos – ohne es zu sein. Und wenn man nur den kleinsten Baustein aus einem ihrer Werke herausnimmt oder diesem Baustein ein falsches Gewicht zuordnet, bricht die Gesamtkonstruktion augenblicklich ein. Auch die langsamen Händel-Arien gehören in diese Kategorie: Wenn Händel als Besetzung zum Beispiel lediglich eine Viola da gamba, ein Cembalo und eine Singstimme vorschreibt, so haben wir im Grunde nur eine homöopathische Musik vor uns: Wenn es gelingt, das Stück mit Mensch zu füllen, wird etwas Geniales erlebbar. Gelingt dies nicht, wird es sofort langweilig und
zerfällt. Brahms wird schnell leidenschaftlich, Schumann automatisch romantisch. Puccini kann selbst dann gefallen, wenn mittelmäßige Vortragende am Werk sind und das Orchester zu laut ist, aber Schubert und Mozart … das sind
Königsdisziplinen!

Das Gespräch führte Andreas Láng


Solistenkonzert
Ankelika Kirchschlager | Julius Drake
11. Oktober 2018
KARTEN & MEHR