SCHON DER LETZTE AKT IST EIN KUNSTWERK
KS Anna Netrebko gibt ein Solistinnenkonzert und kehrt als Manon Lescaut zurück
AL Welche Überlegungen gab es bei der Programmzusammenstellung für das Konzert am 19. Oktober? Gibt es vielleicht zu bestimmten Liedern einen besonderen, persönlichen Bezug?
AN Meistens wähle ich die Lieder mit Hilfe meiner langjährigen Lehrerin Elena Matusovskaya aus, die dieses Repertoire sehr gut kennt – wobei es Lieder sein müssen, die ich persönlich mag und die zu meiner Stimme passen. Die russischen Lieder von Rimski-Korsakow, Tschaikowski und Rachmaninow schätze ich deshalb ganz besonders, weil sie mit großer Liebe und vorwiegend für die Sopranstimme geschrieben wurden. Sie sind übrigens sowohl in als auch außerhalb von Russland sehr populär. In meinen Konzertprogrammen wähle ich darüber hinaus aber auch gerne Lieder aus, die nicht oft aufgeführt werden, weil ich sie dem Publikum vorstellen möchte – in der Hoffnung, dass sie aufgrund ihrer Schönheit ebenfalls auf Gefallen stoßen werden. In dem aktuellen russischen Programm am 19. Oktober werde ich Lieder singen, die ursprünglich für Koloratursopran, leichten lyrischen Sopran, dramatischen Sopran und Mezzosopran geschrieben wurden, also für vier verschiedene Stimmen. Aber ich werde sie natürlich mit meiner Stimme singen, auch wenn sie eine große Variationsbreite und unterschiedliche stimmliche Ansätze erfordern. Übrigens: Der Text dieser wunderbaren Gedichte von Puschkin und anderen Dichtern spielt eine wichtige Rolle – schon deshalb ist es für das Publikum sehr wichtig, die Übersetzung zu lesen.
AL Worin sehen Sie den Unterschied zwischen den drei Komponisten Rimski-Kosakow, Rachmaninow und Tschaikowski – abgesehen vom Stilistischen?
AN Die Lieder von Rimski-Korsakow, die im Allgemeinen für leichten oder Koloratursopran geschrieben sind, besitzen diesen schönen, glockenartigen Klang. Rachmaninows Lieder hingen erwecken den Eindruck von großartigen Aquarellen. Und Tschaikowski erforscht auf wundervolle Weise versteckte Leidenschaften, die am Ende des jeweiligen Liedes meist wie in einer Explosion durchbrechen. Jedes dieser Lieder ist erstaunlich, einzigartig und besitzt seine eigene Geschichte. Einige sind von den Ausmaßen her sehr umfangreich, andere gleichen einer Mini-Arie (etwa Rimski-Korsakows Mitternachtssommertraum, der eine ganze Geschichte erzählt), wieder andere erfordern einen großen Stimmumfang. Für alle gilt, dass sie sehr schwer zu singen sind.
AL Bei einem Konzertabend hat ein Sänger, eine Sängerin in Summe meist mehr zu singen als an einem Opernabend, man steht auch viel persönlicher vor dem Publikum und kann sich nicht hinter einer Rolle verstecken – wo liegt der Reiz des Soloabends im Gegensatz zu dem eines Opernabends?
AN Ich trete in der Tat meistens in Opernhäusern auf oder gebe Konzerte mit Orchester. Bis 2009 habe ich grundsätzlich nicht sehr oft Liederabende mit Klavier gesungen, bis die Salzburger Festspiele und die Deutsche Grammophon die wunderbare Idee hatten, dass ich diesbezüglich mit Maestro Barenboim auftreten könnte. Wir haben ein russisches Programm zusammengestellt – Rimski-Korsakow und Tschaikowski – es gibt sogar eine Aufnahme davon.
AL Wie sieht die gemeinsame Arbeit mit dem Pianisten aus? Wie sieht der künstlerische Dialog bei der Vorbereitung aus?
AN Der Pianist macht die Hälfte des Erfolgs eines Konzerts aus. Deshalb ist es wichtig, einen fantastischen Partner am Klavier zu haben, der der Sängerin, dem Sänger zuhört, aber auch hilft, seinerseits durch das Klavier Vielfalt zu zeigen, Farben, Phrasierungen beizusteuern. Es ist jedenfalls ein Dialog zwischen zwei Künstlerinnen bzw. Künstlern. Die Vorbereitungsarbeit dauert aber in der Regel gar nicht so lang, weil wir uns verstehen, einander zuhören und uns gegenseitig mit unserer Energie aufladen.
AL Sie haben an der Wiener Staatsoper sowohl die Puccini’sche als auch die Massenet’sche Manon gesungen. Abgesehen vom Stil: Wodurch unterscheidet sich der Charakter bei den beiden Versionen und worin ist er gleich. Was schätzen Sie an der Puccini’schen Version?
AN Wie Sie richtig feststellen, habe ich beide Manons gesungen – die von Massenet und, viel später, die von Puccini. Ich würde dieses fantastische Werk als eine meiner liebsten Puccini-Opern bezeichnen. Vielleicht sogar als meine Lieblingsoper überhaupt. Es ist eine der schönsten Beispiele für das Musiktheater, das je geschrieben wurden und sowohl für den Sopran als auch für den Tenor sehr schwer zu singen. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum sie viel zu selten aufgeführt wird. Sicher, hinsichtlich des Librettos wirkt manches ziemlich rudimentär und unklar, ganz anders als bei der Version von Massenet. Wir haben bei Puccini geradezu eine andere Geschichte vor uns, in der sich aber alles auf die einzigartige Musik konzentriert und aus ihr heraus erzählt wird. Schon der ganze letzte Akt ist ein Kunstwerk für sich. Es macht mich also unglaublich glücklich, dieses Werk zu singen. Das erste Mal konnte ich es 2014 unter Maestro Muti in Rom aufführen, wo ich auch meinen Mann kennengelernt habe. Nach der Generalprobe, lag ich erschöpft am Bett und dachte: »Mein Gott, ich kann nicht glauben, dass ich diese Musik gesungen habe.« Ich war so glücklich darüber! Seitdem habe ich das Stück viele Male aufgeführt, vieles hat sich weiterentwickelt und meine Liebe zum ihm ist ungebrochen. Die viel längere Manon von Massenet macht auch großen Spaß, nur ist die Titelpartie dort charakterlich ganz anders. Sie bietet mehr Möglichkeiten, schauspielerisches Können unter Beweis zu stellen, ist geradezu ein gewaltiges Feuerwerk, ist als Charakter gefährlicher, lebendiger – was aber eigentlich nicht der Art entspricht, wie Abbé Prévost die Figur in seinem Roman darstellt. Puccinis Manon ist näher an Prévosts Vorstellungen.
AL Die Oper hatte es früher leichter, da weniger andere Medien vorhanden waren. Was besitzt die Oper, was ein guter Film, You- Tube, TikTok etc. nicht hat? Warum wird die Gattung Oper überleben?
AN TikTok und andere Social-Media-Plattformen sind heute Teil der Öffentlichkeitsarbeit. Nicht zuletzt neue Opernwerke benötigen schließlich möglichst große Unterstützung. Ich denke, dass die Oper, wie alles andere auf dieser Welt, Veränderungen unterliegt. Der einzige Teil, der unveränderlich ist, ist die Musik. Daran müssen wir uns stets erinnern, daran müssen wir festhalten. Die Musik bleibt immer dieselbe. Man muss sie auf höchstem Niveau aufführen, in der Tradition der alten Schule, vielleicht mit ein paar neuen Kenntnissen, aber man darf nie vergessen, dass man schön singen und eine schöne Stimme haben muss. Es ist gut, dass es heute viele Sängerinnen und Sänger gibt, die schauspielern und tanzen können, die schön aussehen, aber leider haben einige von ihnen nicht die nötige fantastische Stimme oder schaffen es jedenfalls nicht, fantastisch zu singen. Ich denke, es braucht ein Gleichgewicht. Für jene Opern, die nur vom Schauspiel leben, ist das in Ordnung, aber für die größten Opern (jene mit einem großen »O«) wird es immer große Sängerinnen und Sänger brauchen. Und um ein großer Sänger zu sein, muss man talentiert sein und viel lernen.
AL Sie werden immer als Beispiel der Ausnahmekünstlerin angeführt. Es heißt immer: die Netrebko ist einer jener wenigen Künstlerinnen, die alle Menschen mitreißt, die automatisch Opernhäuser füllt: Hilft einem dieses Wissen oder erzeugt die daraus entstehende Erwartungshaltung ein zusätzliches Verantwortungsgefühl?
AN Ich kann wirklich nicht von mir sprechen. Wenn die Leute sagen, ich sei fantastisch, stimmt das vielleicht? (lacht) Ich denke nicht an Verantwortung. Ich denke nie über Verantwortung nach. Man muss an die Musik denken. Man muss sehr ehrlich zu dem sein, was man tut, und die Aufgabe auf die bestmögliche Weise erfüllen, die einem möglich ist. Das ist alles. So einfach ist das. Wenn man Talent hat, wenn man Charisma hat, wenn man klug genug ist, um gut zu singen, auf die Bühne zu gehen und das abzuliefern, von dem man weißt, dass man es kann – und dazu noch hunderte weitere Aspekte – dann ist man eine großartige Sängerin, ein großartiger Sänger. Wenn man das nicht tut, ist man nur ein Sänger. Wenn man nichts tut, kann man nicht singen. Das war’s.