Rigoletto ist kein positiver Charakter

Ambrogio Maestri zählt heute weltweit zu den wichtigsten italienischen Baritonen – sängerisch wie schauspielerisch zieht der Charismatiker sein Publikum vom ersten Ton an in seinen Bann. An der Wiener Staatsoper begeisterte der 45-Jährige bislang in so unterschiedlichen Partien wie Amonasro, Alfio,Tonio, Falstaff, Dulcamara, Nabucco und Scarpia. Am 4. September singt er hier zum ersten Mal die Titelpartie in Rigoletto.

Sie singen komische Rollen, tragische Rollen, böse Charaktere: Welche von diesen sind – von den vokalen Herausforderungen abgesehen – leichter zu interpretieren? Eine komische Rolle wie Falstaff, eine dunkle Figur wie Tonio in Pagliacci oder ein Charakter wie Rigoletto?

Ambrogio Maestri: Auf jeden Fall die lustigen Rollen, weil sie meinem eigenen Charakter n.her sind und ich mich daher weniger anstrengen muss, mich in die Figur hineinzudenken.

Wo liegen die stimmlichen Herausforderungen bei Rigoletto?

Ambrogio Maestri: Da gibt es viele. Es ist ein sehr zarter, blumiger Gesang, der tief im 19. Jahrhundert verwurzelt ist. Für mich, der ich ein breites stimmliches Spektrum abdecke und Rollen von Scarpia bis Nabucco annehme, bedeutet dies, dass ich meine Stimme in einem sehr hohen Register trainieren muss.

Was sind die Ingredienzien des guten Verdi-Gesanges?

Ambrogio Maestri: Wie ich schon für die Verdi- Ausstellung an der Wiener Staatsoper erwähnt habe: Herz, Hirn und Lungen! Herz: Ein Bariton muss Verdi dankbar sein, da dieser für diese Stimmlage die schönsten Partiturseiten geschrieben hat. Also muss der Interpret sein ganzes Ich in die jeweilige Rolle einbringen, um diese wundervollen Charaktere zum Leben zu erwecken. Hirn: Der Sänger muss musikalische Intelligenz besitzen. Lungen: beste Technik, Atemkontrolle, kristallene Aussprache und eine raumfüllende Stimme!

Wo liegen die Unterschiede in den stimmlichen Herausforderungen zwischen Verdis Falstaff und Rigoletto?

Ambrogio Maestri: Es liegen fast 50 Jahre Musik dazwischen, was im 19. Jahrhundert, und vor allem bei Verdi, eine Ewigkeit ist. Falstaff ist meiner Meinung nach vor allem eine schauspielerische Herausforderung, Rigoletto eher eine stimmliche.

Was ist in Verismo-Opern erlaubt, was in Rigoletto nicht gestattet ist? Wie viel Verismo würde die Rolle des Rigoletto tolerieren, wie viel Verismo zum Beispiel die „Cortigiani“-Arie?

Ambrogio Maestri: Verdi hätte in diesem Sinn sicher keine Freiheiten zugelassen. Der Verismo ist nicht nur eine Art zu singen, sondern auch eine Art, die Gesellschaft und die Geschichte wahrzunehmen. Es hätte keinen Sinn, ihn in einer Oper wie Rigoletto anzuwenden, wo man sich streng an die Noten halten muss.

Gibt es eine musikalische Entwicklung in der Rolle des Rigoletto, die die charakterliche Entwicklung der Figur unterstreicht?

Ambrogio Maestri: Es gibt weniger eine Entwicklung, sondern vielmehr ein kontinuierliches Verschmelzen der Musik und des Gemütszustandes der Charaktere. Man könnte den Gemütszustand von Rigoletto auch verstehen, wenn er nicht sprechen würde.

Wo liegen die Qualitäten von Piaves Rigoletto- Libretto?

Ambrogio Maestri: Es kann das Wesen eines Charakters in einem einzigen Takt zusammenfassen.

Wo haben Sie bis jetzt Rigoletto gesungen?

Ambrogio Maestri: Washington National Opera; Op.ra National, Paris; Deutsche Oper, Berlin; Teatro di San Carlo, Neapel; Teatro Regio, Parma; Hessisches Staatstheater Wiesbaden.

Hat sich Ihre Sicht auf Rigoletto geändert, seit Sie die Rolle zum ersten Mal gesungen haben?

Ambrogio Maestri: Ja, da ich noch sehr jung war, als ich sie zum ersten Mal in der Oper von Washington sang, ich war 29. Damals verfügte ich freilich noch nicht über all jene Lebenserfahrungen, die es mir heute ermöglichen, die tausend Nuancen des Charakters zu verstehen und somit wiederzugeben.

Haben Sie Hugos Originalstück gelesen?

Ambrogio Maestri: Nein, wenn eine Oper einen literarischen Ursprung hat, den ich noch nicht gelesen habe, lasse ich mich lieber nicht davon beeinflussen. Was die Konstruktion des Charakters betrifft, so verwende ich den Text des Librettisten als Grundlage. Sie ist nicht immer identisch mit jener des Schriftstellers. Oft ist diese nur eine Inspiration. Ich bleibe den Worten, die ich aussprechen muss, und vor allem der Musik, der wahren Regisseurin und Autorin der gesamten Oper, treu. Sie ist es, die Gemütszustände und Nuancen aufzeigt.

Wo sind die charakterlichen Differenzen zwischen Rigoletto und Leoncavallos Tonio? Ist Rigoletto ebenfalls ein mentaler, psychischer Krüppel wie Tonio oder ist er „nur“ physisch behindert? Oder wirkt Rigoletto nur deshalb positiver, weil er eine Tochter hat? Muss man überhaupt Mitleid mit Rigoletto haben? Ist er nicht bloß bis zum Schluss ein Egoist?

Ambrogio Maestri: Es handelt sich um zwei Charaktere, die nichts gemeinsam haben. Tonio ist geistig zurückgeblieben und hat ein schlechtes und neidvolles Wesen. Die Kürze der Rolle und der Oper an sich ermöglicht aber keine tieferen Einsichten oder Entwicklungen. Rigoletto ist ein intelligenter, scharfsinniger Mann mit einem großen Sinn für Sarkasmus und einer Art von Späßen, die ihn zum Hofnarr machen. Sein Humor kann grob oder fein sein, je nach Publikum und Stimmung des Hofs. Seine einzige Missbildung ist physischer Natur. Rigoletto ist mehr zynisch als bösartig. Ein Zynismus diktiert von einem tragischen Leben, welches nur durch die Geburt einer Tochter gemildert wurde, die er auf egoistische Weise so behandelt, als wäre sie ein wertvolles Schmuckstück. Aber Rigoletto ist niemals ein positiver Charakter. Er hat kein Mitleid, zum Beispiel mit Monterone, für den er Mitgefühl empfinden sollte, sich stattdessen jedoch nur mit dem Fluch beschäftigt. Wir empfinden weniger Mitleid mit ihm, als in Bezug auf die Handlung und die Ungerechtigkeiten des Lebens, welche sie symbolisiert, und vor allem mit Gilda, dem Opfer der Bosheit der Welt.

Hat Rigoletto irgendeine persönliche Zukunft nach dem Tod seiner Tochter?

Ambrogio Maestri: Ich glaube nicht. Ich glaube eher, dass Rigoletto seinem Leben ein Ende setzt oder zumindest beschließt, sich selbst mit einem Leben voller Entbehrungen und Bettelei zu bestrafen.

Sie singen viele Rollen in kurzer Zeit: Wie machen Sie es, die große Zahl an Partien gleichzeitig abrufbereit zu halten?

Ambrogio Maestri: Ich versuche, sie gleich zu Beginn sehr gut einzuüben. Ich nehme mir viel Zeit, sie in der Kehle und im Geist gut zu festigen. Auf diese Weise reicht mir auch eine nur kurze Wiederholung.

Andreas Láng