Rigoletto ist ein Hitchcock-Film!
Vom Belcanto über Mozart bis hin zu Verdi, aber auch in veristischen Partien – KS CARLOS ÁLVAREZ konnte an der Wiener Staatsoper sein Publikum stets begeistern. Nun singt er im Haus am Ring erstmals die Titelpartie
in Verdis Rigoletto. Im Vorfeld zu der Vorstellungsserie im Jänner sprach er mit Andreas Láng.
Darf man mit Rigoletto am Ende der Oper Mitleid haben? Weist er nicht einen ähnlich mäßigen Charakter auf wie die Höflinge, die er verachtet? Schließlich wird er am Beginn der Handlung nicht gerade positiv gezeichnet …
KS Carlos Álvarez: In all den Jahren meiner professionellen Sängertätigkeit habe ich nach und nach gelernt, die Charaktere, die ich verkörpere, grundsätzlich nicht zu verurteilen. Rigoletto ist einfach ein Mensch, der in eine Situation gedrängt wurde und sich, den daraus erwachsenden Umständen geschuldet, auf ganz bestimmte Weise benimmt. Gibt es überhaupt solche, die man von Vornherein und so ohne Weiteres als nur gut oder nur böse klassifizieren darf? Jeder einzelne wird Momente aufweisen, in denen er warmherzig ist, mitleidig, liebesfähig. Das ist bei Rigoletto nicht anders. Sofern Gilda nicht das Ergebnis einer Vergewaltigung ist – was ich nicht glaube, da Rigoletto offenbar nur schöne und zärtliche Erinnerungen an ihre Mutter hat – stellt Gilda für ihn eine Insel der Zärtlichkeit und den einzigen Sinn dar. Sie zu behüten ist zu Rigolettos Lebensaufgabe geworden. „Beruflich“ ist er ein professioneller Unterhalter – so wie wir Sänger übrigens auch – aber in dem Moment, in dem er nach Hause kommt, verschieben sich die Gewichtungen. Auch ich bin daheim kein Rigoletto, Scarpia oder Jago und ebenso wird Rigoletto, wie ich annehme, innerhalb seiner vier Wände nicht der Spaßmacher des herzoglichen Hofes sein.
Aber macht sich Rigoletto nicht dadurch schuldig, dass er seine Tochter zu sehr unter Verschluss hält?
KS Carlos Álvarez: Rigolettos Verhalten ist zumindest nachvollziehbar und in der Zeit, in der die Geschichte spielt, durchaus eine Usance. Nichtsdestotrotz mündet das Ergebnis dieser Einstellung in einer Katastrophe, wobei andererseits ohne Gildas Liebe und Unkenntnis über die Identität und den wahren Charakter des Herzogs vermutlich gar nichts passiert wäre.
Wo sind, von der konkreten Handlung abgesehen, die wesentlichen Unterschiede zwischen "Traviata" und "Rigoletto" – wir haben in beiden Fällen problematische Vaterfiguren?
KS Carlos Álvarez: Es gibt, wenn man diese beiden Opern vergleicht, im Musikalischen mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede. Erstens gehören beide Werke in dieselbe Schaffensperiode. Zweitens versucht Verdi jeden Akt als einheitliches Ganzes mit komponierten Übergängen zwischen den einzelnen Szenen zu formen, dennoch sind die Akte noch nicht wirklich durchkomponiert und weisen nach wie vor mehr oder weniger geschlossene Nummern auf – Arien oder Ensembles. Drittens kann man, wenn man will, sagen, dass Verdi damit experimentiert hat, Situationen und Personen ganz bestimmte Melodien zuzuweisen, womit wir bei Vorformen des Leitmotiv-Gedankens wären. Und bezüglich der problematischen Vaterfiguren würde ich meinen, dass Verdi insofern ins Schwarze getroffen hat, als er in einer Zeit, in der Väter gesellschaftlich gesehen Repräsentanten des Rechts, der Macht und des Establishments waren, mit Rigoletto einen väterlichen Außenseiter zeigte, der nicht in dieses Schema passt: Rigoletto ist missgebildet, ein Hofnarr, machtlos ... insofern haben wir hier einen deutlichen Unterschied zu Vater Germont.
Sind Verdi-Opern für einen Sänger emotional oder stimmlich eine größere Herausforderung?
KS Carlos Álvarez: Ohne Zweifel beides gleichermaßen. Vokal sind einerseits Kraft und Ausdauer gefragt, andererseits zählen Schöngesang, das Ausformen zahlloser Feinheiten und das Transportieren unterschiedlichster emotionaler Färbungen zu den unabdingbaren Voraussetzungen. Gleichzeitig existiert bei Verdi das, was wir Metatheater nennen: Der dargestellte Charakter spielt den anderen Charakteren innerhalb der Handlung etwas vor. Rigoletto zeigt also verschiedene unechte Gesichter und Gefühle, und, quasi in Klammern gesetzt, kommt erst sein wirkliches Ich zum Vorschein, seine Liebe, sein Leid, seine Rachsucht.
Inwieweit kann die Oper "Rigoletto" noch zum Belcanto gezählt werden?
KS Carlos Álvarez: Belcanto ist nicht nur eine musikalische Manier, sondern eine grundsätzliche Übereinkunft darüber, wie man Singen sollte: Legato, textverständlich und präzis im Umsetzen der Vorgaben in der Partitur – Verdi bat übrigens, dass die Sänger auf das übliche Portamento verzichten sollten, also wirklich nur das wiedergeben, was in den Noten steht. Und all diese Parameter treffen auch auf Rigoletto zu, obwohl das Stück nicht explizit in die Belcanto- Periode gehört.
Wo sind für Sie die Schlüsselmomente in "Rigoletto" und wo die großen Herausforderungen?
KS Carlos Álvarez: Monterones Fluch und Gildas Verschleppung in 1. Akt, das Duett Rigoletto- Gilda mit Rigolettos Vendetta im 2. Akt sowie das berühmte Quartett im 3. Akt. Das sind die Schlüsselmomente innerhalb einer Oper, die von Andeutungen, Überraschungen und handlungsbedingten Umschwüngen so überquillt wie ein Film von Alfred Hitchcock. Und hinsichtlich der Herausforderungen? Sehr fordernd und zwar in vielerlei Hinsicht ist das „Figlia! Mio padre“- Duett im 1. Akt. Aber die Rigoletto-Partie ist als solche eine einzige Herausforderung! Sie ist lang, voller unterschiedlicher Arien, Szenen und Ensemblenummern.
Wo überall haben Sie den Rigoletto bisher schon gesungen?
KS Carlos Álvarez: In der Oper Rigoletto wirkte ich erstmals 1988 mit, damals sang ich noch im Chor in Málaga, meiner Heimatstadt – und raten Sie, wer die Titelpartie gab? Ein ehemaliges Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper: Georg Tichy! Den Rigoletto selbst singe ich seit 2001, die erste Produktion war im Teatro Real in Madrid, danach folgten Aufführungen in London, Washington, Barcelona, Florenz, Chicago, Oviedo, Santander, Hamburg, Málaga … also weltweit (lacht).
Wenn Sie alle wichtigen Verdi Rollen miteinander vergleichen, die Sie gesungen haben, welche ist die facettenreichste und warum?
KS Carlos Álvarez: Wenn wir über die Qualität des menschlichen Verhaltens eines Charakters reden und wie er seine Ideale zu verwirklichen sucht, vielleicht Rodrigo in Don Carlos. Er ist, und hier komme ich ein bisschen zu meiner ersten Antwort zurück, der einzige, den man tatsächlich als guten Menschen klassifizieren könnte. Aber sobald man Gefallen daran findet, auf der Bühne in die Haut von fragwürdigeren Figuren zu schlüpfen – quasi als Katharsis-Möglichkeit für uns Interpreten – wird man merken, dass das in Wahrheit viel interessanter ist: Jago, Macbeth, das hat etwas! Väter-Figuren hingegen nehmen eine Sonderstellung ein, vor allem wenn man selbst die Erfahrungen der Vaterschaft gemacht hat: Nette Herausforderung für einen Sänger sind Simon Boccanegra, Miller, Germont, Giacomo in Giovanna d’Arco, Stankar in Stiffelio, Ford in Falstaff – aber unter all diesen bleibt Rigoletto stets „the one and only!“
Giuseppe Verdi: Rigoletto
22. Jan. 2016 | 19.30
25. Jan. 2016 | 19.00
28. Jan. 2016 | 19.00
31. Jan. 2016 | 18.30
Besetzung:
Evelino Pidò | Dirigent
Pierre Audi | Regie
Christof Hetzer | Ausstattung
Bernd Purkrabek | Licht
Bettina Auer | Dramaturgie
Juan Diego Flórez | Herzog von Mantua
Carlos Álvarez | Rigoletto
Olga Peretyatko | Gilda
Ain Anger | Sparafucile
Nadia Krasteva | Maddalena
Sorin Coliban | Conte di Monterone
Marcus Pelz | Conte di Ceprano
Lydia Rathkolb | Contessa di Ceprano
Mihail Dogotari | Marullo
Carlos Osuna | Borsa
Margaret Plummer | Giovanna
Andrea Carroll | Page