Reinheit & Dramatik
Da betritt eine Sängerin oder ein Sänger die Bühne – und alles verwandelt sich. Das Publikum kann den Blick nicht abwenden, ein Fluidum strömt durch den Saal, man lauscht und staunt. Gesang und Schauspiel werden eins, alles ist Ausdruck. Um das zu beschreiben, fehlen einem die richtigen Worte. Oder doch, es gibt ein Wort: Charisma! Jene Ausstrahlung, die magisch in den Bann zieht und Theater zum Ereignis macht. Zu erleben etwa bei der jungen Sopranistin Federica Lombardi, die im April die Amelia in Giuseppe Verdis atemberaubender Oper Simon Boccanegra singt und und als Figaro-Gräfin sowie in der Così fan tutte-Premiere auf der Bühne stehen wird. Mit Oliver Láng sprach die italienische Sängerin über den Zauber der Oper, den Energieimpuls großer Partien und wie Simon Boccanegra auf »Opernneulinge« wirkt.
Ihr letzter Auftritt an der Wiener Staatsoper war die Donna Elvira in Don Giovanni. Ihr Gesang und Ihre Ausstrahlung faszinierten und begeisterten. Ersteres kann man studieren, doch wie sieht es mit Zweiterem aus? Ist Charisma angeboren? Oder lernt man es?
Ich denke, beides. Man darf nie vergessen, dass wir Sängerinnen und Sänger viel und hart arbeiten, aber auch vom Bühnenleben profitieren, indem wir auf die Energien der dargestellten Figuren zugreifen. Ich versuche ja nicht, eine Figur nur zu spielen, sondern sie wirklich zu sein! Wenn ich also zum Beispiel einen sehr starken Charakter gebe, eine Figur, die dramatisch und leidenschaftlich ist, macht das nicht nur Spaß, sondern ich bekomme von diesem starken Bühnencharakter einen Energieimpuls. Dieser speist sich dann auch aus den Gefühlen, um die es geht: Sie sind nämlich fast immer höchst intensiv! Zum Beispiel Donna Elvira: Als Sängerin muss ich ihr Ringen zwischen Liebe und Hass spüren – und spürbar machen.
Sie schöpfen also die Intensität aus der Musik und dem Text…
… aus der Musik, dem Libretto, aber ich habe sie auch aus der wunderbaren Besetzung gewonnen, mit der ich auf der Bühne stehen durfte. Das alles hilft, Charisma zu entwickeln. Die Inszenierung von Barrie Kosky inspirierte mich, wie auch die Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Philippe Jordan. Es war die ganze Zeit wie eine angeregte Konversation zwischen Orchestergraben und Bühne. Und natürlich kommt noch eines dazu: Wir alle schöpfen bei den Rollen aus unseren persönlichen Erfahrungen. Also, zum Glück blieben mir bisher die Probleme der Donna Elvira erspart, aber dennoch greift man auf sein eigenes Leben zurück. All das wirkt zusammen…
»Ich finde es spannend, dass diese Frau, Amelia, inmitten mehrerer, dunkler Stimmen das Lichte darstellt, überhaupt das Helle in diese doch eher düstere Oper einbringt, mit warmen und leuchtenden Linien und Phrasen.«
Die Interpretation der Musik Mozarts hat sich in den letzten Jahrzehnten, besonders angefeuert durch die Originalklang-Bewegung, deutlich verändert. War beziehungsweise ist Verdi einem ebensolchen Wandel unterworfen?
Ich denke, ja. Wobei wir in der Musik ja ohnedies immer in einer Entwicklung stehen. Das betrifft schon das eigene, tagtägliche Singen: Jede und jeder bringt laufend etwas Neues ein, fügt etwas hinzu, verändert etwas. Oft entsteht etwas aus dem Moment, man denkt: Das sollte ich anders, besser machen! Und schon hat sich wieder etwas verändert und weiterbewegt. Da ist es ganz egal, ob es sich nun um Mozart oder Verdi handelt.
Simon Boccanegra ist nicht die bekannteste Oper von Verdi, aber eine seiner am meisten berührenden und schönsten. Was macht den Zauber dieser Oper aus?
Das Interessante an diesem Werk ist unter anderem sein Ausbrechen aus dem üblichen Opernschema der damaligen Zeit. Simon Boccanegra ist ungewöhnlich, weil das Hauptthema nicht lautet: Zwei Liebende, Sopran und Tenor, gehen durch Schwierigkeiten und Probleme und der Tenor muss sich dem Gegenspieler, einem Bariton, stellen. Nein, hier ist der tatsächliche Antagonist des führenden Baritons kein Tenor, sondern ein Bass in der Figur des Fiesco. Und die Frau, die im Zentrum steht, ist deren Tochter bzw. Enkelin. Ich finde es spannend, dass diese Frau, Amelia, inmitten mehrerer, dunkler Stimmen das Lichte darstellt, überhaupt das Helle in diese doch eher düstere Oper einbringt, mit warmen und leuchtenden Linien und Phrasen. Das Wunderbare an dieser Oper geht natürlich in erster Linie von der Musik aus, die einfach so bewegend und schier unbeschreiblich ist. Nur ein Beispiel: Das Duett, das Amelia mit ihrem Vater Simon Boccanegra singt, gehört zum Allerschönsten überhaupt. Oder das Finale des ersten Akts! Dazu kommt, dass in diesem Finale der Moment, in dem Boccanegra um Frieden fleht, für uns heute eine besondere Bedeutung bekommt.
Für Sie ist Oper also hochaktuell, keine historische Form.
Ja, sie ist immer aktuell!
Sie sprachen davon, dass Amelia etwas Helles in die Oper einbringt. Was hören Sie noch aus der Musik, die Verdi dieser Figur gab, heraus?
In Amelias Arie am Beginn des 1. Akts erinnert sie sich an ihre Vergangenheit, die ihr letztendlich nicht ganz klar ist. Ich fühle eine große Melancholie in der Musik, aber auch eine Hoffnung: dass die Zukunft heller sein könnte. Und die Liebe zu Gabriele Adorno lässt sie ebenfalls auf das Kommende hoffen. Als sie erfährt, dass Simon Boccanegra ihr Vater ist, löst dieses Wiederfinden in ihr große Freude und Glück aus. Gleichzeitig ist ihr aber bewusst, dass ihr Geliebter der Feind ihres Vaters ist. Diese Verwobenheit der privaten und der politischen Handlung ist ungemein spannend. Ich sehe Amelia als einen starken Charakter, gleichzeitig ist sie aber auch sanft und feinfühlig: Das macht die Figur so interessant, und genau darum schätze ich die Rolle so sehr. Und auch, weil Verdis Musik ein wunderbarer Spiegel ihres Charakters ist.
Sie sangen Amelia erstmals vor zwei Jahren. Wie sah der Annäherungsprozess aus? War das Werk zunächst ein Rätsel, das sie lösen mussten und das dann zu einem guten Freund geworden ist? Haben Sie die Oper irgendwann »überwunden«?
Nun, die Annäherung ist ein langer Prozess. Ich beginne immer mit dem Libretto und studiere es genau. Denn auch wenn ich die infrage kommenden Werke natürlich kenne, will ich sie im Detail erforschen. Mir geht es nicht nur darum, was »meine« Figur fühlt, sondern ich muss die Emotionen aller Charaktere begreifen. Musikalisch ist es ebenso ein intensiver Prozess, denn ich möchte die Musik in meinem Instrument, also meiner Stimme, fühlen. Und ganz klar: Umso öfter ich eine Rolle singe, desto sicherer werde ich. Und umso sicherer ich bin, desto mehr kann ich mich fordern. Meine erste Amelia war im Zuge einer Neuproduktion, daher gab es viele Proben und ich konnte die Rolle ergründen und ganz erfühlen. Das macht es leichter, in weitere Produktionen, wie etwa in Wien, einzusteigen. Auf den Wiener Simon Boccanegra bin ich sehr gespannt, denn mit einer anderen Besetzung und einem anderen Dirigenten wird natürlich vieles ganz neu. Ich bin neugierig, wo die Unterschiede liegen: Im Hinblick auf die musikalische Interpretation, aber auch in Bezug auf die szenische Sicht. Ich finde das so spannend!
Letzte Frage: Ihr Ratschlag an jemanden, der oder die noch nie Simon Boccanegra erlebt hat. Worauf soll man achten?
Zuallererst natürlich auf die Musik, sie ist so unglaublich schön! Das Interessante ist, dass es wenige wirklich berühmte Arien gibt, aber dennoch will man in jedem Augenblick einfach nur zuhören. Simon Boccanegra ist die perfekte Kombination aus Dramatik und vollkommener Reinheit. Ich habe Freunde, die nicht opernaffin sind und denen ich eine Aufnahme dieser Oper gab: Sie waren zutiefst berührt von dem, was sie hörten und von den Gefühlen, die sie beim Erleben dieses Meisterwerks überkamen. Simon Boccanegra ist einfach ein außergewöhnliches Meisterwerk!