PROBENTAGEBUCH von Emily Hehl
Die Dramaturgin und Regieassistentin Emily Hehl gibt in ihrem Probetagebuch Einblicke in die Arbeit an der Staatsoper-Erstaufführung von Le Grand Macabre.
Samstag, 04.11. 10.00 Uhr
Im Zuschauerraum kann man heute zum ersten Mal erahnen, was das Publikum bei der Premiere erleben wird. Demzufolge sitzen viele Mitarbeitende aus der Wiener Staatsoper und den Werkstätten im Parkett, um diese Klavierhauptprobe zu sehen. Solist*innen, Tänzer*innen und der Slowakische Philharmonische Chor sind in Kostüm und Maske, Licht und Video fluten die Bühne. Das Brueghelland erwacht langsam zum Leben, eine große Farbpracht bewegt sich auf der Bühne, die Körper sind selten still. Wie in den Gemälden von Pieter Brueghel existieren in dieser Inszenierung konstant verschiedene Handlungen und Erzählungen nebeneinander. „Ambiguität“ ist das Wort, das Regisseur Jan Lauwers seit vielen Wochen immer und immer wieder erwähnt. „Brueghel’s paintings are ambiguous. And so is Ligeti’s score!“
Dieses Breughelland, das Jan Lauwers, Lot Lemm, Ken Hioco und Paul Blackman geschaffen haben, wird heute fotografiert. Denn die Frist für den Druck des Programmhefts rückt in unmittelbare Nähe - und damit wird dies auch die letzte Episode des Tagebuchs. In einer Woche wird in diesem Zuschauerraum das Premierenpublikum sitzen, und Sie werden dieses Programmheft in den Händen halten!
Dienstag 31.10. 10.30 Uhr
Wenn zwei Hände zu einhundert werden und statt 88 Tasten ein gesamtes Orchester erklingt, dann erreicht eine Opernproduktion langsam die Zielgerade.
Bisher haben alle szenischen Proben mit Klavier stattgefunden. Die Pianisten Peter Tilling und Anton Ziegler haben alles gegeben, um dieser dichten und komplexen Partitur von Ligeti auch am Flügel Klang zu verleihen. Doch heute begegnen sich Inszenierung und Orchester bei der Bühnenorchesterprobe zum ersten Mal. Alle Blicke fallen gespannt in den Orchestergraben: Neben den Instrumenten, die dort wenig überraschen, hält „Le Grand Macabre“ dabei einige Schmankerl bereit. Türklingeln, Autohupen, Kuckucks-Flöten, Wecker, eine Sirene, ein Metronom, Sandpapierblöcke, zerrissene Papierbögen, zerknüllte Papierbögen, Küchentöpfe, quakende Enten, brüllende Löwen… Diese Auflistung ist tatsächlich keine ausgefallene Requisitenliste, sondern ein Auszug aus der Auflistung der beteiligten Instrumente.
Montag, 30.10. 10.30 Uhr
György Ligeti komponiert in „Le Grand Macabre“ einige Stellen für Bühnenmusik. Das bedeutet, dass Musikerinnen und Musiker nicht im Graben spielen, sondern auf und hinter der Bühne sind. Oder in diesem Fall sogar im Zuschauerraum spielen sollen. In unserer heutigen Bühnenprobe widmen wir einen großen Teil genau diesen Momenten. Wo klingt es am besten? Und was bedeutet es für die Inszenierung, wenn Musik plötzlich von anderen Orten erklingt? Wohin wandert die Aufmerksamkeit des Publikums? Fragen, die Dirigat und Regie gleichermaßen betreffen. Das Bühnenorchester der Wiener Staatsoper steht heute bereit, um alle Möglichkeiten auszuprobieren. So lange, bis die Erwartungen an Klang und Szene übereinstimmen. Eine dreistündige Probe verfliegt da besonders schnell.
Mittwoch, 25. Oktober 17.00
Seit mehr als 14 Tagen finden in Israel und Gaza Kämpfe statt. Wie sehr beeinflussen solche Neuigkeiten diesen Probenprozess? „Le Grand Macabre“ erzählt vom drohenden Untergang der Welt, der Tod alias Nekrotzar verkündet das unmittelbar bevorstehende Ende der Menschheit. In solch einem Stück hallen die dunklen Geschehnisse der Welt besonders wider. Doch das Ende, das Ligeti komponiert, wirft Fragen auf. Fragen, die sich das Regieteam und die Sänger*innen gemeinsam stellen. Denn in einem spanischen Volkstanz erklingen plötzlich reine Harmonien und die Überlebenden verkünden unerwartet ein Happy End. „Fürchtet den Tod nicht, gute Leut’! Irgendwann kommt er, doch nicht heut’! Und wenn er kommt, dann ist’s so weit… Lebt wohl solang, in Heiterkeit!“ Diese Sätze scheinen in diesen Tagen unglaublich zynisch. Ein Ende für das Ende zu finden - das war der Versuch der heutigen Probe. Und es wird nicht der letzte gewesen sein.
Donnerstag, 19.10. 08.15 Uhr
08.15 ist für das Regieteam eine doch eher ungewöhnliche Uhrzeit für den Arbeitsbeginn. Heute stehen uns knapp 10 Stunden auf der Bühne der Wiener Staatsoper zur Verfügung, um das Licht für die Inszenierung zu kreieren. Wir setzen die Arbeit da fort, wo wir um 22.45 am Vorabend aufgehört haben. An einem Haus, das einen so vollen und abwechslungsreichen Spielplan anbietet, wird jede freie Minute auf der Bühne genutzt. Parallel findet im Funkhaus die erste Orchestersitzprobe statt: Sänger*innen und Orchestermusiker*innen proben gemeinsam mit dem Dirigenten Pablo Heras-Casado „im Sitzen“ - also ohne Szene, la prova all’italiana. An der Szene wird am Abend auf der Probebühne weitergearbeitet. Nach dem Ende der Beleuchtungsprobe springen wir also auf unsere Fahrräder und beginnen eine halbe Stunde später im Arsenal unsere szenische Probe. Dem Feierabend blicken heute alle freudig entgegen!
Montag, 16. Oktober
Heute ist ein Tag der Debüts. Während wir auf der Probebühne mit allen beteiligten Sängerinnen und Sängern an einer Szene des Stücks proben, wird auf der Bühne das Bühnenbild für Le Grand Macabre bei der technischen Einrichtung zum ersten Mal aufgebaut. Und im Orchesterprobensaal lässt das Wiener Staatsopernorchester unter der Leitung von Pablo Heras-Casado erstmalig dieses Werk von Ligeti erklingen. Nicht nur das erste Mal in dieser Produktion, sondern überhaupt das erste Mal in der langjährigen Tradition der Wiener Staatsoper! Und in weniger als einem Monat wird die Premiere von Le Grand Macabre auf der Bühne der Wiener Staatsoper zu erleben sein.
Dienstag, 10.Oktober
John Lee Hooker und The White Stripes dröhnen aus den Lautsprechern auf der Probebühne im Arsenal. Was diese Musik mit Le Grand Macabre von György Ligeti zu tun hat? Es ist der dritte Probentag mit dem Slowakischen Philharmonischen Chor und diese Frage stellt sich hier schon niemand mehr. Die morgendlichen Warm-Ups mit dem Choreographen Paul Blackman sind zur willkommenen Routine geworden. Über 50 Menschen vermischen sich in diesem Raum zu einer beeindruckenden Gruppe von individuellen Persönlichkeiten - Chorist*innen, Solist*innen und Tänzer*innen sind kaum mehr voneinander zu unterscheiden. Der vielleicht größte Anspruch, den Regisseur Jan Lauwers an seine Inszenierung von Ligetis Meisterwerk hat!
Montag, 02. Oktober
Nach zahllosen Monaten der Vorbereitung ist es heute endlich so weit: Die Proben für György Ligetis Le Grand Macabre beginnen an der Wiener Staatsoper. Viele Menschen tummeln sich auf der Probebühne im Arsenal. Neben den beteiligten Künstlerinnen und Künstlern finden sich auch zahlreiche Mitarbeitende des Hauses und der Werkstätten zusammen. Direktor Bogdan Roščić begrüßt die Runde und übergibt das Wort an den belgischen Regisseur Jan Lauwers: »Ich wurde in einer Kirche in Antwerpen getauft. Und genau diese Kirche ist auf einer Zeichnung des Malers Pieter Brueghel aus dem 16. Jahrhundert zu sehen.« Andere Gemälde dieses Künstlers waren wiederum eine wichtige Quelle für Ligeti, als er Le Grand Macabre komponierte und die Handlung im Brueghelland verortet. Und auch für Jan Lauwers bleiben sie die zentrale Inspiration für diese Inszenierung: »Alles entsteht aus diesen Bildern von Brueghel: die Farben, Kostüme, Szenen und Bewegungen auf der Bühne.« 6 Wochen haben wir nun, um diesem Brueghelland szenisch und musikalisch Leben einzuhauchen!