PHILIPPE JORDAN ÜBER DEN NEUEN MOZART-ZYKLUS
Immer wieder kehren Opernhäuser, aber auch Künstlerinnen und Künstler zu Mozarts Da Ponte-Opern zurück. Warum gerade zu diesen?
Weil diese drei Werke nicht nur im Mozart-Repertoire, sondern ganz generell im Opernrepertoire zentral sind. An ihnen misst sich alles, sie sind Ausgangspunkt und Grundstein und müssen daher immer und immer wieder erarbeitet und – musikalisch wie szenisch – aufs Neue befragt werden. Mit Don Giovanni fangen wir eine Reise an, deren Auswirkungen womöglich das Potenzial entfalten, das gesamte Repertoire zu beeinflussen.
Gibt es nun innerhalb des gesamten (Mozart-) Repertoires ein Alleinstellungsmerkmal von Don Giovanni, einen Aspekt, der in den anderen beiden Da Ponte-Opern so nicht vorkommt?
In Don Giovanni stehen die Figuren in ihrer Existenz noch weiter am Abgrund als bei den anderen beiden Da Ponte-Opern. Es ist die erste ganz große Oper, die in Richtung Verdi und Wagner weist. Da überschreitet Mozart eine Grenze, die er bei Nozze di Figaro noch eingehalten hat. Er setzt bei Don Giovanni einen Impuls, der nicht nur eine Entwicklung zum Höhepunkt führt, sondern auch das Kommende beeinflusst: Zauberflöte, Fidelio, Freischütz, Holländer und Ring des Nibelungen – sie alle sind die Folge von Don Giovanni.
Man merkt es zum Beispiel im Orchesterpart: Er erfordert mehr technischen Einsatz und auch mehr Engagement seitens jedes einzelnen Musikers und jeder Musikerin.
Sie sprachen in Ihrer ersten Antwort von der Notwendigkeit, Werke regelmäßig neu zu befragen: Bedeutet das, dass jede Zeit ihre Wahrheit hat? Oder gibt es – musikalisch – etwas zeitlos »Richtiges«?
Für mich persönlich liegt die Wahrheit in Mozart selbst. An diese Basis kehre ich immer wieder zurück, lese den Text genau, verzichte auf große, hinzugefügte Verzierungen, Appoggiaturen, Manierismen. Man darf ja nicht vergessen, dass die Emotionen bei Mozart sehr pur, direkt und unverstellt sind – je weniger man also hinzufügt, desto lebendiger sprechen sie von der Bühne zu uns. Kurzum: Weniger ist mehr. Gleichzeitig ist es so, dass heute – auch bei Mozart – fast alles möglich ist und gemacht wird. Das Spannende an einem internationalen Ensemble, wie es die Wiener Staatsoper hat, ist demnach, dass man, obwohl die Künstlerinnen und Künstler aus allen Ecken der Welt kommen, aus den unterschiedlichsten Schulen und Traditionen, dennoch einen gemeinsamen Nenner finden muss. Eine gemeinsame Antwort.
Damit ist das Ensemble angesprochen: Sie denken ja nicht nur an eine lokale Gruppe von Sängerinnen und Sängern, sondern größer und weiter.
Es geht mir nicht um eine genau definierte Zahl oder eine bestimmte Zugehörigkeit zu einem Haus. Sondern um einen gemeinsamen Geist und eine musikalische Intelligenz: Wie geht man mit dem Text um? Mit den Rezitativen? Findet man eine Sprache, einen Ausdruck? Sich nur auf einen schönen Klang zu beschränken ist mir zu wenig. Es muss um ein Zusammenfinden und Zusammenpassen gehen, um eine regelmäßige gemeinsame Arbeit und eine langfristige Dimension. Wichtig ist also auch der Zeitfaktor: Man darf nicht in einzelnen Saisonen denken, sondern übergreifender und mit einem weiten Horizont.
Don Giovanni ist eine Opera buffa, also eine heitere Oper. Sind die dramatischen Teile der Partitur auch von diesem Blickwinkel aus zu lesen?
Nein, denn gerade die großen Komödien haben stets eine enorme Tiefe, denken Sie nur an Falstaff oder die Meistersinger. Wie ja auch Nozze di Figaro seine Abgründe hat. Don Giovanni ist zweifellos eine schwarze Komödie, ein Nachtstück, das mit den Schattenseiten spielt. Es darf also dramatisch werden
Der Don Ottavio-Sänger der Uraufführung, Antonio Baglioni, sang vier Jahre später als erster die Titelfigur in La clemenza di Tito. Heute werden diese Partien oft stimmlich weit auseinanderliegend gesehen. Hat sich hier ein von Mozart nicht intendiertes Schubladendenken herausgebildet?
Das hängt immer vom Sänger ab, es gibt auch heute Tenöre, die parallel beide Partien singen. Mozart zeigte sich prinzipiell sehr offen, er teilte zum Beispiel nicht in Sopran und Mezzosopran ein, sondern schrieb nur Sopran. Ich fordere hier stets eine größere Flexibilität und kein starres Rasterdenken. Eine Susanna muss in ein paar Jahren natürlich eine Fiordiligi singen können und dann eine Gräfin Almaviva. Eine Dorabella kann Sopran oder Mezzo sein, ebenso wie die Donna Elvira. Mein Traum sind zwei Sänger, die in einer Vorstellungsserie alternierend Leporello und Giovanni gestalten, nicht aus Jux, sondern weil diese beiden Charaktere zwei Seiten einer Medaille sind, nicht zuletzt im 2. Akt, wenn die beiden Charaktere ihre Rollen tauschen. Das auch durch eine Besetzung abzubilden, evoziert eine dramaturgische Brillanz. Es geht noch weiter: Eine Susanna soll zur Tatjana heranwachsen, kann bald Mimì, Elsa oder Desdemona singen. Das ist alles möglich, solange die Mozart-Basis stimmt, zu der man auch immer zurückkehren soll. Ein Jago muss einen Figaro singen können, ein Hans Sachs den Grafen Almaviva.
Gilt das auch für Dirigenten? Diese Pflicht, immer wieder zu Mozart zurückzukehren?
Selbstverständlich! Das gilt für Sängerinnen und Sänger, Dirigenten, Instrumentalistinnen – und auch Regisseurinnen und Regisseure.