© Michael Pöhn
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ELEONORA BURATTO als berührende AMELIA in Verdis Meisterwerk SIMON BOCCANEGRA, 2019
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AMBROGIO MAESTRI in einer seiner Paraderollen als QUACKSALBER DULCAMARA in Donizetti L'ELISIR D'AMORE, 2023
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MICHAEL VOLLE, hier als gefeierter HANS SACHS in DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG, 2022
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ANJA KAMPE, hier als phänomenale ISOLDE in Wagners TRISTAN UND ISOLDE, 2023

PANOPTIKUMS DES LEBENS

Anja Kampe, Michael Volle, Eleonora Buratto und Ambrogio Maestri singen in Puccinis Trittico führende Rollen. Im Gespräch mit Oliver Láng erzählen Sie über ihre Annäherungen an die Rollen, die Psychologie Puccinis und Momente, die sie besonders berühren.

OL Wenn Sie sich einer Partie nähern: Entwickeln Sie – vor jedem Inszenierungskonzept – ein Psychogramm der Figur? Eine interne Geschichte für sich selbst, aus der Sie dann auch musikalische Facetten ableiten?

AK Das Psychogramm ergibt sich aus der Partitur. Das, was ich ableite, kommt ja jedenfalls vom Komponisten. Aus dem Text und der musikalischen Umsetzung entwickelt sich dann eine Vorstellung der Figur und der Möglichkeiten ihrer Interpretation.

MV Klar, und das natürlich auch beim Michele, eine Rolle, die ich zum ersten Mal mache. Zuvor lese ich die Geschichte, höre die Musik an und überlege mir, wie diese Figur im Inneren aussieht. Was treibt ihn an? Wie kann man ihn anlegen? Im Falle der aktuellen Produktion ist es so, dass sich die Vorstellungen über die Figur und die Oper zwischen mir und Regisseurin Tatjana Gürbaca überschneiden. Uns ist allen klar: Im Zentrum steht die Beziehung von Michele und Giorgetta.

EB Für mich beginnt das Einstudieren einer Rolle mit der Lektüre des Librettos und dem ausführlichen Anhören bzw. Anschauen unterschiedlicher Audio- und Videoaufnahmen. Wenn möglich, lese ich auch das Buch, dem die Geschichte zugrunde liegt. Im Laufe dieser Arbeit entdecke ich die verschiedenen Nuancen der Interpretation, die die Musik und die Worte einem eröffnen. Während ich singe, stelle ich mir vor, dass ich auf der Bühne stehe – manchmal übe ich sogar vor einem Spiegel. Auch meine Suor Angelica harmoniert übrigens perfekt mit der von Tatjana Gürbaca geschaffenen Figur.

AM Puccinis Musik ist mein erster Wegweiser zum Charakter Gianni Schicchis, gefolgt von Forzanos Libretto. Natürlich habe ich im Laufe der Jahre meine eigene Analyse von seinem Charakter entwickelt. Diese Überlegungen beschäftigen mich seit 30 Jahren, also seit ich die Rolle des Simone in dieser Oper erstmals gesungen habe. Wie ein guter Wein ist die Rolle des Schicchi über viele Jahre in mir »gereift«. Die Darstellung der Figur auf der Bühne ändert sich hingegen laufend, je nach Inszenierung. Ich orientiere mich an den Vorstellungen der Regie und ich suche gerne nach neuen Nuancen. Jedes Mal, wenn ich die Rolle spiele, macht sie mir noch mehr Spaß!

OL Zum Tabarro: Wenn wir uns die ersten Worte von Giorgetta anschauen, das »O Michele? Michele?« Ist das auf die Gesamtsituation bezogen zu verstehen? In dem Sinne, dass Sie ihn um Zuwendung, um Glück anfleht?

AK Sie versucht immer wieder mit ihm ins Gespräch zu kommen und auf ihn zuzugehen, aber er hat nach dem Tod des gemeinsamen Kindes zugemacht und sich ihr gegenüber völlig verschlossen. Er macht sich selbst oder auch sie verantwortlich für diese Tragödie und daran zerbricht ihre Beziehung. Diese Situation lässt Giorgetta verzweifeln und treibt sie wohl in die Affäre mit Luigi, eine Flucht aus der Realität, in Träume, wo sie sich noch lebendig und als Frau begehrt fühlt.

OL Gleich die ersten Sätze im Tabarro erzählen sehr viel: Michele schaut in den Sonnenuntergang und Giorgetta sieht nur seine ausgegangene Pfeife. Betrachten die beiden die Welt an sich ganz unterschiedlich?

MV Diese Momente lassen sich ja sehr unterschiedlich deuten und gestalten. Aber hinter allem steht der Verlust des gemeinsamen Kindes. Ein absoluter Alptraum. Man kann es sich nicht vorstellen, was das an Schmerz bedeuten mag... Und es ist sicherlich auch denkbar, dass ein so traumatisches Erlebnis eine Beziehung verändern kann. Sie wird dann zerbrechlich, steht so nahe am Abgrund, dass jeder kleine Funken reicht, um alles ins Desaster zu stürzen. Was in diesem Falle auch passiert. Dazu kommt Micheles Eifersucht auf jeden und alle. Es ist ein Tanz auf dem Pulverfass.

OL Michele liebt Giorgetta, wie sieht es umgekehrt aus?

AK Sie liebt ihn natürlich noch und sie zerbricht fast an der Kälte, der Abwendung, der Verschlossenheit und der Nichtbeachtung durch ihn, seit die Katastrophe über die kleine Familie hereingebrochen ist.

MV Ich will der Inszenierung nicht zu sehr vorgreifen, aber ich sehe, dass sie ihn irgendwo noch liebt. Sie sagt es ja auch... Und wenn man die Musik liest und analysiert, wie Puccini die Figuren zeichnet, versteht man, was Giorgetta empfindet. Dass es auch eine Entfremdung gibt – wie gesagt, das mag am Verlust liegen, den die beiden durchleiden mussten. Man weiß, dass Menschen sich mitunter nach tragischen Erlebnissen gegenseitig die Schuld zuschieben. Und ob der Altersunterschied eine Rolle spielt? Kann sein, muss aber nichts zu bedeuten haben! Wahrscheinlich ist er so verhärmt, dass er auf ihre emotionalen Regungen einfach nicht mehr eingehen kann. Am Schluss, wenn es zu spät ist, sagt sie ihm, dass auch sie Sehnsucht empfindet. Es könnte also alles gut sein... aber es ist eben nicht Gianni Schicchi!

OL Inwiefern spielt auch die soziale Realität eine Rolle? Geht es ebenso um die Gesamtsituation, auch die wirtschaftliche? Oder ist die Gesamtsituation nur schlecht, weil die Liebe nicht mehr da ist?

MV Das ist natürlich auch ein Grund. Die beiden würden selbstverständlich lieber eine Unbekümmertheit ausleben können, eine gewisse Form von Luxus. Leichter mit Geld umgehen können. All diese Aspekte spielen zusammen. Aber wichtiger scheint mir doch das leider so schwer belastete, tief emotionale Verhältnis, das einfach nicht mehr gut werden kann.

AK Es ist immer wieder das tote Kind. Das hat ihr einen Inhalt, eine Aufgabe und eine Perspektive gegeben. Nach dessen Tod gibt es nichts mehr, nur Elend und Trostlosigkeit und keine Zukunft. Das ist für eine noch junge Frau wie Giorgetta viel zu wenig. Sie flieht in Luigis Arme, um sich selbst noch zu spüren, aber sie macht sich über seinen Charakter keine Illusionen...

OL Puccini setzt in der Musik, vor allem im Tabarro, realistische Klänge ein. Impliziert diese Anreicherung auch eine andere Art der musikalischen Interpretation?

MV Das kann man machen. Wenn ich an den wunderbaren Kollegen Andrea Giovannini denke, der den Tinca gestaltet: Es ist ein Kabinettstück, was er da zeigt, etwa sein fratzenhaftes Lachen. Das sind Momente, die in einer anderen Oper, etwa bei Verdi, nie vorkommen könnten. Aber hier passt es sehr gut. Michele selbst hat in dieser Hinsicht recht wenig, nur nach dem großen Duett, nachdem Giorgetta gegangen ist und sie gerade noch in höchsten Tönen die vergangene Liebe beschworen haben, kommt eine Generalpause und er stößt »Flittchen« hervor. Von solchen Einsprengseln abgesehen erfordert diese kurze, aber knackige Rolle ein enormes Konzentrieren auf Belcanto. Sehr anspruchsvoll...

AK All das finden Sie bei anderen Komponisten genauso. Beginnend bei Mahler dann Berg, Varèse usw. Puccini war ein moderner Komponist am Puls seiner Zeit. Halt eben als Italiener und mit seinen ureigensten Mitteln. Für diese Rolle braucht man dann auch das ganze Spektrum aller stimmlichen Ausdrucksmittel, das, was die jeweilige Situation eben gerade erfordert. Schöngesang in großen Bögen bei ihren Träumen und Schwärmereien mit Luigi, bis zur Hässlichkeit gehender Ausdruck in den Auseinandersetzungen mit Michele, die Wut und Verzweiflung aus ihr herausschleudern.

OL Nun eine Frage an alle: Gibt es für Sie eine Aussage, einen Satz, der für das Stück oder für Ihre Figur steht?

AK Im Falle vom Tabarro sagt Giorgetta den Satz »Wie schwer es ist, glücklich zu sein«. Das ist es.

MV Das finde ich auch sehr treffend! Und Michele erinnert sich etwas später, im großen Duett mit ihr, an die schönen Zeiten zu Dritt: »Ich war so glücklich, ach, so glücklich«. Aber war. War! Das ist keine Anklage, sondern einfach die Feststellung, diesem Schicksal ausgeliefert zu sein. Enorm heftig in der Aussage!

EB In Suor Angelica: »Aber ein Opfer kann ich nicht bringen: Der sanften Mutter der Mütter kann ich niemals die Erinnerung an meinen Sohn opfern!« Ich bin zutiefst berührt davon, wie zerrissen Suor Angelica innerlich ist.

AM Ich denke, es gibt zwei Stellen, die zeigen, wer Schicchi ist und auf seine Gerissenheit und Witz hindeuten. Erstens: Schon beim Eintreten versteht er sofort, dass Buoso verstorben ist und dass dessen Familie jetzt nur das Erbe beweint und nicht den Tod des Familienmitglieds. Und am Ende der Oper meint er, dass er – also Schicchi – für seinen Streich zwar in der Hölle gelandet ist, aber er immerhin vielleicht das Publikum unterhalten hat und Buosos Erbe letztlich an die Richtigen gelangt ist: ans junge, verliebte Paar. Am Ende triumphiert immer die Liebe. Ein bisschen so wie in Falstaff!

OL Frau Buratto, wie für Michael Volle ist die von Ihnen gesungene Partie der Angelica ein Rollendebüt. Lesen Sie in so einem Fall zusätzlich auch weiterführende Literatur, wie zum Beispiel Briefe von Puccini etc.?

EB Ja, die Angelica ist für mich ein Debüt – und ein sehr wichtiges! Wie bereits erwähnt lasse ich mich immer von den großen Sängerinnen der Vergangenheit und von den musikalischen Interpretationen der großen Dirigenten inspirieren. Aufführungsgeschichte ist, wie jede andere Form der Geschichte, extrem wichtig.

OL Gibt es einen zentralen Moment in Suor Angelica, der Ihnen besonders am Herzen liegt und auf den Sie das Publikum aufmerksam machen möchten?

EB Abgesehen von dem Satz, den ich zuvor erwähnt habe, fallen mir die letzten, herzzerreißenden Worte an die Heilige Jungfrau ein: »Oh, Muttergottes, rette mich! Eine Mutter betet zu dir, eine Mutter fleht dich an!« Diese Worte enthalten die ganze Verzweiflung und die aus tiefstem Herzen kommende Bitte einer Mutter an die Heilige Jungfrau um Vergebung: ein Gebet von Mutter zu Mutter.

OL Und in Gianni Schicchi?

AM Besonders gut gefällt mir Schicchis Arie »In testa la cappellina«, die damit endet, dass alle anderen »Schicchi! Schicchi! Schicchi!« rufen. Als würden sie ihren Lieblingssportler im Stadion anfeuern! (lacht) Sie ahnen nicht, dass sie sich von diesem Moment an in einem größeren Schlamassel befinden, als sie sich jemals vorstellen konnten. (lacht)

OL Frau Buratto, wenn man eine so berühmte Arie wie »Senza mamma« singt – wird das zu einer noch größeren Herausforderung, weil so viele im Publikum die Arie kennen?

EB Es ist anspruchsvoll, weil diese Arie Angelicas letzter Dialog mit einem Sohn ist, der ihr genommen wurde und den sie nur ein einziges Mal gesehen und geküsst hat. Sie hat ihn immer heimlich geliebt und konnte sich nicht von ihm verabschieden. Die Schwierigkeit liegt nicht darin, wie bekannt oder weniger bekannt die Arie ist, sondern darin, ein solch bewegendes, schmerzhaftes Erlebnis zu interpretieren und es dem Publikum verständlich zu machen.

OL Sie haben mehrere Puccini-Rollen gesungen, mit welcher ist Suor Angelica vergleichbar? Cio-Cio-San?

EB Ja, auf jeden Fall. Beide sind großartige, von Puccini beschriebene Mütter, auch wenn ihre Geschichten sehr unterschiedlich sind. Beide Opern sind Tragödien, und sie lassen uns über die Komplexität der weiblichen Lebensrealität und vor allem der Mutterschaft nachdenken. Ich finde es bewegend, dass ein Komponist wie Puccini, der so starke Gefühle der Liebe und sexuellen Anziehung zu Frauen verspürte, ein so tiefes Wissen über den weiblichen Geist an den Tag legt. Und in der Lage ist, tiefes Mitgefühl für seine Heldinnen zu zeigen und immer auf ihrer Seite zu sein.

OL Worin liegt Ihrer Meinung nach der besondere Humor in Gianni Schicchi? In der Musik? Im Text? In der Figuren-Charakterisierung?

AM ...in allen drei Punkten! Die Musik fängt die Gedanken und die Gemütslage der Figuren perfekt ein. Noch lustiger als die Figur des Gianni Schicchi finde ich die ganze Familie, die verzweifelt versucht, Buosos Erbe zu bekommen. Aus diesen Charakteren könnte man ganz leicht einen Film machen, indem man einfach ihren Text rezitiert! Die Geschichte, die dieser Oper zugrunde liegt, ist freilich zeitlos: Wie viele Familien streiten sich auch heute um Geld und Besitz! Puccini hat es verstanden, das alles einzigartig in Musik zu fassen. Von dem Moment an, in dem Gianni Schicchi die Bühne betritt, legt Puccini genau die richtigen Farben in das Orchester, damit man sich in die Figur hineinversetzen kann. Wenn ich dem Orchester zuhöre, kann ich mir dieses alte Haus in Florenz vorstellen, mit gedämpftem Licht, geschlossenen Fenstern und Jalousien, die verhindern, dass man von außen sieht, was im Inneren vor sich geht.

OL Ist Gianni Schicchi »nur« eine Komödie? Oder ist es mehr?

AM Schicchi ist eine Komödie in ihrer reinsten und brillantesten Form! Puccini hat lange nach einer dritten Oper gesucht, um den Trittico zu vervollständigen, und sie musste genau das sein: eine Komödie! 

OL Letzte Frage: Worin liegen die Herausforderungen Ihrer jeweiligen Rolle?

AM In meinem Fall muss ich zwei Rollen singen: Gianni Schicchi und Buoso Donati! Man muss genau die richtige Stimme für die Rolle des Buoso finden – und das kann schwierig sein. Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstanden habe, wie man das macht, ohne zu ermüden, und wie man den Wechsel zwischen den beiden Stimmen gut hinbekommt. Da Gianni Schicchi nur aus einem Akt besteht, muss man außerdem alles »komprimiert« darstellen. Man muss also das Publikum in kurzer Zeit überzeugen!

EB Die größte Herausforderung besteht für mich darin, meine Emotionen zu kontrollieren. Einige Textmomente sind so berührend, dass es schwer ist, an dieser Stelle nicht zu weinen. Auf technischer Ebene ist die Passage unmittelbar nach der großen Arie, mit dem Sprung von G nach C in einem anhaltenden Pianissimo, die schwierigste.

P U C C I N I
IL TRITTICO

4. 7. 13. 16. 20. 23. OKTOBER 2023

Musikalische Leitung PHILIPPE JORDAN
Inszenierung TATJANA GÜRBACA
Bühne HENRIK AHR
Kostüme SILKE WILLRETT
Licht STEFAN BOLLIGER

IL TABARRO

MICHAEL VOLLE
ANJA KAMPE
JOSHUA GUERRERO u.a.

SUOR ANGELICA

ELEONORA BURATTO
MICHAELA SCHUSTER
MONIKA BOHINEC u.a.

GIANNI SCHICCHI

AMBROGIO MAESTRI
SERENA SÁENZ
BOGDAN VOLKOV