Oper des Verlustes
Es gibt Rollen, die man auf einer Bühne gestaltet, die etwas aussagen, durch die man etwas erzählen will. Und es gibt Partien, die einem wie auf den Leib geschneidert erscheinen, Bühnencharaktere, die wie ein Alter Ego wirken. Es gibt aber noch eine kleine, dritte Gruppe: Rollen, die weit über das hinausreichen, die mehr sind, als nur eine Darstellung oder Identifikation. Sie weisen über sich, über das Werk, über den Interpreten, über Zeit und Gesellschaft hinaus.
Eine solche Rolle ist Eléazar.
Das erste, was ich von dieser Rolle wusste, war, dass es sich um eine Lieblingsrolle Enrico Carusos handelte, dass große Tenöre durch die Zeiten sie gestaltet hatten, dass die große Arie Rachel, quand du seigneur von berühmten Sängern gesungen und aufgenommen worden war.
Immer, wenn ich mich mit einer Oper beschäftige, versuche ich, möglichst viel über sie zu lesen, ich höre alte Aufnahmen, recherchiere. Nun lese ich oft, dass man mir nachsagt, dass ich mich meinen Bühnencharakteren über den Kopf annähere, dass ich einen Weg durch den Intellekt suche, um mir eine Partie zu erwerben. In Wahrheit aber bin ich einer, denke ich, der diese Aneignung sehr emotional stattfinden lässt, „con sangue“, mit meinem Blut und mit meinem Herzen. Mitunter, bei manchen Partien gelingt es mir, dass eine solche Aneignung so emotional-stark, so fokussiert passiert, dass ich in meiner Gestaltung die emotionale Intelligenz mancher Zuhörer berühre, und – im Idealfall – den einen oder anderen zum Nachdenken bringe. Zumindest ist es das, was ich mit meiner ganzen Kraft versuche. Gerade in einem Stück wie La Juive…
Warum? Weil La Juive von Intoleranz handelt, vom Nicht-Akzeptieren des Anderen, den man nicht kennt, nicht versteht, nicht kennen und nicht verstehen will. Und damit ist diese Oper von Halévy mehr als jedes andere ein zeitgenössisches Werk, eine Oper, die obwohl 1835 uraufgeführt, direkt ans Heute andockt. Wir schlagen in der Früh die Zeitung auf, und wovon lesen wir? Von Intoleranz. Wir schalten am Abend die Nachrichten ein, und was sehen wir? Intoleranz. Genau das, was Halévy uns in seiner Oper vor Augen führt; heute sind es vielleicht andere Namen und andere Gesichter, aber selbst das muss nicht immer sein, wenn wir an die jüngsten Geschehnisse in Paris denken.
Als Sänger habe ich die Verantwortung, vielleicht die Bürde, dass ich auf der Bühne aufzeigen kann, wohin eine solche intolerante Geisteshaltung führt. Denn in La Juive erleiden alle Verlust, Tod, Zerstörung. Eléazar stirbt. Rachel stirbt. Brogni zerbricht unter den Ereignissen.
La Juive ist also eine Oper des Verlustes …
Ich stelle mich der Verantwortung, durch meine Stimme, mein Schauspiel dies so eindringlich wie möglich mitzuteilen. Ich sagte vorhin, dass die Partie des Eléazar zu jenen Rollen gehört, die weit mehr sind als nur eine Darstellung, als nur Theater: sie ist für mich die Pflicht, meine Seele und meinen Geist zu öffnen, mehr noch: Gefäß zu werden für das, was diese Oper und diese Partie in sich bergen. Ich sprach von der Verantwortung des Sängers, die Katastrophe aufzuzeigen, die die Haltung der Verständnislosigkeit, Ausgrenzung und Verfolgung nach sich zieht. Meine Aufgabe ist es, jene im Publikum, die es hören wollen, zu erreichen, und nicht nur zu mahnen, sondern sie tatsächlich zu verändern. Natürlich weiß ich um die enorme Schwierigkeit dieses Unterfangens. Menschen kommen in die Oper, sie alle haben ihr Leben, das sie mit Unzähligem ausfüllt, beschäftigt, herausfordert. Jeder trägt seine Sorgen, seine Probleme mit sich; aber wenn es mir nur gelingt, ein Dutzend unter ihnen, zehn unter ihnen, die bereit sind, mir wirklich zuzuhören, zu erreichen, dann war ich erfolgreich. Ich? Nein, die Rolle des Eléazar macht das möglich. Aber Zehn sind zu viele. Vielleicht sind es weniger, viel weniger…
Hoffmann, eine für mich sicherlich eminent wichtige Rolle, steht mir unglaublich nahe. In seiner Schwierigkeit, mit seinem Talent, mit seiner Kreativität zurecht zu kommen, ist er mir eine Art Freund, ist er mir verwandt. Wie könnte ich ihn auch anders auf der Bühne leben, wenn er das nicht wäre? Wenn ich als Hoffmann auftrete, dann schlüpfe ich nicht in ein Kostüm, ich schlüpfe in seine Haut. Eléazar aber ist größer als ich. Ich fühle ihn immer um mich, ich sehe seine Geschichte stets, wenn auf der Welt etwas Schreckliches aus dem Wegstoßen des Anderen passiert. Und so ist La Juive für mich auch mehr als eine Oper, mehr als ein Drama. La Juive ist Lebenssituation. Allgemeine tragische Lebenssituation, aber auch ganz persönliche. Aufblitzende Bilder erzählen von meinen Großeltern, die im Holocaust ihre Geschwister verloren haben, erzählen von der Angst meiner Großmutter. Doch inmitten dieses Persönlichen erweitere ich La Juive, und sehe die Aussage allgemeingültig: Egal um welche Religion es sich handelt. Egal um welches Land, um welchen Kontinent.
Die Beziehung zu Günter Krämer, der die Produktion inszenierte, war es sicherlich auch, die in mir das Feuer für diese Rolle entzündete. Er wagte inmitten unserer Arbeit lange nicht, mir sein Konzept der Arie Eléazars zu eröffnen; bis zehn Tage vor der Generalprobe ließ er es im Dunkel. Er war besorgt, denn sein Gestaltungsvorschlag erinnerte an eine Holocaust-Szene, das Ablegen der Weste, Ausziehen der Schuhe, der Socken, und er wusste nicht, wie ich zu einer solchen Auslegung stehen würde. Er hatte geahnt, dass mir, beim Gestalten der Arie, Erinnerungsbilder von meiner Familie kommen würden, und vom Schrecklichen, das ihnen angetan worden ist.
Es scheint fast paradox, dass ich am Premierenabend – und ich bin bekannt dafür, nervös zu sein – weniger angespannt war, als sonst. Weil ich mich als Stimme jener Seelen sah, die uns brutal genommen worden waren. Das mag metaphysisch klingen, aber es war damals in meinem Geist, und ist es bis heute bei jeder Aufführung.
Die Gestaltung der Arie – und ich muss bekennen, dass das Meiste im Szenischen von Günter kam – ist in dieser Wiener Produktion (ich habe diese Oper in mehreren spannenden Inszenierungen gesungen) die eindringlichste, beste. Ich kann mich an die Premiere erinnern, an den Erfolg: doch es war mehr als nur ein Erfolg, es war in der Verbindung zwischen uns Sängern, dem Orchester, dem Haus und dem Publikum eine Gefühlserfahrung, wie ich sie vielleicht nie zuvor und nie wieder erlebt hatte.
Selbst Wochen nach einer Aufführungsserie merke ich immer wieder, wie ich mich in einzelnen Momenten, in ganz alltäglichen Situationen, wie Eléazar bewege. Er ist in mir, vor allem aber in meinem Kopf, meiner Psyche. Ich bin in diesen Phasen nach La Juive-Aufführungen oftmals traurig. Trotz meines starken Glaubens an Gott enttäuscht darüber, dass Religionen einander bekämpfen, oder genauer: dass Menschen einander bekämpfen, auch im Namen der Religion. Ich würde gerne sagen können, dass mich Eléazar letztlich hoffnungsvoller macht, weil wir uns vom Leid der La Juive bewegen lassen und weil ich sagen kann, dass sich die Menschheit ändert. Aber wenn ich in die Welt schaue, bleibt die ernüchternde Wahrheit, dass sie sich nicht zu ändern scheint …
Neil Shicoff
Jacques Fromental Halévy
27. Februar, 3., 7. März 2015
Dirigent: Frédéric Chaslin
Regie: Günter Krämer
Mit: Neil Shicoff, Olga Bezsmertna, Aida Garifullina, Alexandru Moisiuc