Offenheit & Neugierde
Stets wird im Publikum an dieser Stelle schwer geschluckt. Violetta, am Ende von Verdis La traviata an der Schwelle des Todes, lässt das Leid scheinbar hinter sich: »Die Schmerzen weichen / Meine Kräfte scheinen zurückzukehren / ich kehre ins Leben zurück. Dann ein letztes Mal ein Höhenflug: »Oh Freude!« Doch alle Hoffnung ist vergebens: die Krankheit siegt, Violetta stirbt. Die junge Sopranistin Kristina Mkhitaryan, die im Oktober erstmals im Haus am Ring auftreten wird, ist hier, im Moment des Todes der Bühnenfigur, zwar bewegt, das aber durchaus im positiven Sinn: »Eigentlich fühle ich immer eine Art des Glücks am Ende. Denn ich denke, dass Violetta im Augenblick des Todes froh ist – weil sie hofft, nun zu Gott zu kommen. Kein Tragödienmoment also, sondern Hoffnung.« Und auch an der Wiener Staatsoper steht am Ende der Oper kein absolutes Dunkel, sondern ein Licht, in das die Titelfigur der Oper eingeht: ein szenisch eindringliches Finale, das Regisseur Simon Stone, dessen Traviata-Produktion seit eineinhalb Jahren am Staatsopern-Spielplan steht, geschaffen hat. Nach den irisierenden Bildern einer digital überladenen Gegenwart, die Stone immer wieder platziert, erfolgt am Schluss die Reduktion auf das Minimum: man ist ganz bei Violetta, Alfredo und Vater Germont. Die grelle Gegenwart, der Druck der sozialen Medien, das Ausgeliefertsein, die Aufmerksamkeitswirtschaft – all das ist am Ende ausgeblendet.
Kristina Mkhitaryan als neue Wiener Violetta also: Die Partie gehört zu ihren zentralen Rollen, die sie international an vielen Orten gesungen hat. Und doch kann sie nicht genug von ihr bekommen und hat sich eine Offenheit bewahrt: »Ich kann nicht aufhören, immer etwas Neues finden zu wollen, neue Farben, Möglichkeiten. Denn in jeder Produktion kommt etwas dazu, musikalisch wie szenisch. Das erzeugt stets einen frischen Blick auf die Figur.« Und so sind für sie auch nach etlichen Produktionen dieser Oper bei weitem nicht alle Fragen beantwortet. Etwa, wie es nun wirklich mit der Liebe zwischen Violetta und Alfredo ausschaut? Mkhitaryan schwankt: »Manchmal glaube ich, dass sie ihn liebt wie ein Kind. Normalerweise spielt in einer Beziehung ja vieles in die Gefühlswelt hinein, die Sexualität und anderes. Violetta aber empfindet für Alfredo die reine, pure Liebe, eben wie zu einem Kind. Aber dann denke ich mir wieder: Vielleicht sucht sie nur einen Mann, der ihr Gesundheit geben kann, einen Plan für ihr Leben? Beides ist denkbar!. Und dennoch, trotz aller offenen Fragen, gibt es für die Sängerin Konstanten, etwa, wenn es um die ihr besonders nahegehenden Augenblicke der Oper geht. Diese findet sie etwa im Amami, Alfredo, jenem Moment, in dem Violetta ihren Geliebten Alfredo verlässt, um dessen Ruf und Familie zu schützen. »Hier verstehen wir, dass Violetta alles zu geben bereit ist, ihr Leben, einfach alles, weil sie ihn so sehr liebt.»
Und Mkhitaryan nennt als besondere, sie stets berührende Opernstelle auch ihre große Arie im dritten Akt, Addio, del passato: »Das verklingende Ende: es ist so einzigartig!« Mkhitaryans Offenheit, mit der sie den unterschiedlichsten szenischen Konzepten entgegentritt, spiegelt sich auch der Breite ihres Repertoires wider. Dieses reicht von der barocken Literatur über Mozart, Belcanto und Verdi bis Puccini und Strauss. Nach Möglichkeit achtet sie auf einen stetigen Wechsel der Partien: »Wenn ich eine Violetta gesungen habe, möchte ich wieder zu Barock zurückkehren, etwa zu einer Händel’schen Alcina oder Cleopatra. Und ich freue mich auf eine Adina in L’elisir d’amore, die ich im Februar/M.rz an der Wiener Staatsoper singen werde: wiederum eine ganz andere, helle Farbe!«
Kristina Mkhitaryan studierte in Moskau. Sie ist Preisträgerin wichtiger Wettbewerbe wie etwa des Operalia- oder Neue Stimmen-Bewerbs. Zu ihren jüngsten Erfolgen zählen ihr Debüt an der Metropolitan Opera als Lauretta (Gianni Schicchi), ihr Debüt am Royal Opera House, Covent Garden als Micaëla (Carmen), ihre Gilda (Rigoletto) an der Opera Australia und der Hamburgischen Staatsoper, die Titelrolle in Alcina an der Opéra National de Lorraine und Armida (Rinaldo) beim Glyndebourne Festival.
LA TRAVIATA
29. / 31. Oktober / 3. / 6. / 8. November 2022
Musikalische Leitung Thomas Guggeis
Inszenierung Simon Stone
Mit u.a. Kristina Mkhitaryan / Dmytro Popov /
Amartuvshin Enkhbat / Szilvia Vörös