Nicht alles lässt sich in Worte fassen
Neil Shicoff ist mit gemeinhin üblichen Parametern nicht zu fassen und so ist man schnell gewillt, den Begriff „Ausnahmetenor“ zu bemühen. Freilich, diese Kennzeichnung wird einem guten Sänger dieses Stimmfaches gern und rasch umgehängt und damit als Beschreibungskriterium inflationiert. Wie könnte man Shicoffs Künstlertum also sonst beschreiben, um seine Besonderheit, ja Einzigartigkeit zu unterstreichen? Sicher ist, dass er auf seine Weise das Ideal wirklichen Musiktheaters verkörpert: Er singt nicht bloß seine Rollen, er spielt nicht bloß seine Rollen, nein er ist die Person, die er im wahrsten Sinn des Wortes auf der Bühne für die Dauer von drei, vier Stunden zum Leben erweckt.
Eine Shicoff-Vorstellung lässt das das antike griechische Ziel der aufführungsbedingten Katharsis weit hinter sich, eine Shicoff- Vorstellung beschäftigt den Zuschauer, lässt ihn nie mehr los, geht ihm unter die Haut – man nimmt das Erlebte für immer mit nach Hause. An der Wiener Staatsoper genießt und genoss Shicoff gewissermaßen eine Art Heimatrecht, er gehört sozusagen auf diese Bühne und, wie man hier im Zuschauerraum etwas possessiv, aber sehr stolz zu betonen pflegt: „Er gehört zu uns, er ist unser Shicoff!“ Formal wird dies durch den Kammersängertitel und, noch mehr, durch die Ehrenmitgliedschaft dokumentiert. Emotional, durch die Art und Weise, wie man sich auf eine Shicoff- Vorstellung bereits im Vorhinein einstellte, sie erlebte und schlussendlich für sich persönlich immer und immer wieder in Erinnerung rief (und ruft).
Wer Shicoffs Peter Grimes nicht gesehen hat, kann sich in Wahrheit nicht als wirklicher Wiener Opernbesucher bezeichnen. Wer Shicoffs Eléazar nicht erlebt hat, an dem ist unvergleichliche Wiener Interpretationsgeschichte vorbeigegangen. Wer Shicoffs Hoffmann versäumt hat, ja, den kann man als Opernliebhaber nur bedauern. Der unbeschreibliche Erfolg der Billy Budd-Neuproduktion im Jahr 2001 wäre ohne Shicoffs Porträtierung des widersprüchlich-zerrissenen Kapitän Vere mit Sicherheit nicht so legendär ausgefallen. Ob Verdi, Puccini, ob italienisches, französisches, russisches oder englisches Fach: wenn Shicoff angekündigt war (seine Absagen hat man ihm letztendlich stets verziehen), war die Aufführung veredelt. Dass Shicoff jeden seine Auftritte im persönlichen inneren Ringen sich selber abtrotzt und unter großem seelischem Kampf realisiert, nimmt man im Publikum mit einer egoistischen Dankbarkeit zur Kenntnis, gleichwohl man zwangsläufig mit ihm gemeinsam den jeweiligen, stets im Moment neu entstehenden Bühnen- Charakter, durchleidet.
Wie sollte man also Shicoffs Künstlertum beschreiben? Wahrscheinlich gar nicht. Außerordentliches entzieht sich bekanntlich dem verbalen Definitionsversuch. Man könnte Shicoffs Künstlertum nur umschreiben, aber in Wahrheit kann man nur eines: es erleben.
Andreas Láng
Neil Shicoff – 40 Jahre Bühne
3. Mai 2015, 18.30 Uhr
Szenische Ausschnitte aus La Juive, Pique Dame, Les Contes d’Hoffmann und Carmen.
Dirigent: Frédéric Chaslin
Mit: Neil Shicoff, Ferruccio Furlanetto, Krassimira Stoyanova, Anja Silja, Marcus Pelz, Elena Maximova, Paolo Rumetz, Stephanie Houtzeel, Thomas Ebenstein, Clemens Unterreiner, Carlos Osuna, Hyuna Ko, Simina Ivan, Juliette Mars