Musik und Liebe auf den ersten Blick

Wenn Sie einen schnellen Blick auf Otello werfen: Was ist es, das Ihnen als Erstes ins Auge sticht? Die Liebe? Die Eifersucht? Trauer? Intrige?

Aleksandrs Antonenko: Die Liebe, die sehe ich zweifellos als Allererstes. Unbedingt! Natürlich erblicke ich auch vieles andere, aber an erster Stelle steht für mich in dieser Oper die Liebe. Als zweites dann aber gleich die Eifersucht. Diese beiden hängen bei Otello eng zusammen: die zentralen Emotionen, aus denen sich die Handlung des Otello speist.
Olga Bezsmertna: Die unglaubliche Musik. Ich stelle mir immer aufs Neue die Frage, wie Verdi das in seinem Alter, nach so einem reichen Schaffen zuvor, gelingen konnte? Otello war ja anfangs nicht unbedingt sein Lieblingsprojekt – und dann diese Musik! Mit so viel innerer Kraft. Und Spannung. Und Intensität. Natürlich kommt in dem Stück vieles vor, Liebe, Leidenschaft, Eifersucht. Aber die Musik, sie umfasst das alles und macht es zu einem Ganzen. Daher steht sie für mich immer im Vordergrund und auf sie fällt mein erster Blick. Damit meine ich nicht einmal nur meine Partie, sondern die gesamte Oper.

Wie stark ist für Sie Desdemona? Sie entscheidet sich mit vollem Herzen für einen Mann, lässt sich auf ihn ein. Und dann scheint sie so schicksalsergeben.

Olga Bezsmertna: Ich weiß nicht, ob sie stark ist. Vielleicht weiß sie nicht einmal selbst, ob und wie viel Stärke sie in sich trägt – und was diese Stärke überhaupt ist? Sie kommt aus einer „guten“ Familie, ihr Vater hat sie verwöhnt, sie lebte in Venedig in einer geschlossenen Gesellschaft. Und dann plötzlich diese verrückte Liebe aus dem Nichts. Alle fragen sich: Was hat er an sich? Was ist mit ihr passiert? Wie kann man so sehr lieben? Aber es ist – anfangs – eine schöne Liebe. Eine echte, auf den ersten Blick, die in die Tiefe geht und nicht nur so ein Gefühl der Verliebtheit. Es tut ihr gut. Und wenn eine Liebe so tief ist wie die ihre, dann bleibt sie für immer.

Und wie stark ist Otello? Halten sich seine Stärken und Schwächen die Waage?

Aleksandrs Antonenko: Ich glaube, wir haben hier ein Verhältnis von 50:50. Natürlich ist er grundsätzlich sehr stark, aber es gibt immer wieder Momente, in denen er sich selbst verliert. Wichtig scheint mir, dass er sich aber nach diesen Phasen immer wieder findet. Man sieht das nach dem Mord an Desdemona: Da findet er wieder einen Weg und läuft nicht einfach davon. Er bleibt nicht im Moment des Mordes stehen, sondern erkennt seine Schuld – und trägt auch die Konsequenz für das, was er getan hat: Er tötet sich selbst. Ich sehe darin einen Menschen, der die Stärke hat, seinen Weg weiter zu beschreiten und mit sich selbst hart ins Gericht zu gehen.

Das heißt, am Ende gewinnt er wieder seine Stärke zurück?

Aleksandrs Antonenko: Wenn ich auf der Bühne diese Rolle gebe, dann suche ich nach dem Tod der Desdemona stets wieder eine Annäherung an die Geliebte zu schaffen. Bei seinem Schluss- monolog muss Otello wieder ganz er selbst sein, geradezu einen Moment der Katharis erreichen. Wenn nicht, dann bleibt er ein dummer eifer- süchtiger Kerl, der eine unschuldige Frau umge- bracht hat. Wer will das schon sein? Mir ist das zu wenig, zu eindimensional. Daher ist es mir wichtig, ihm am Schluss wieder eine Größe zu verleihen, eine Stärke in seinem Wesen. Er muss da zum Richter über sich selbst werden.

Ist Otello für Desdemona ein Ausbruch aus ihrer „geschlossenen Gesellschaft“?

Olga Bezsmertna: Ja, schon. Ich glaube aber, dass sie sich solche Fragen nicht stellt. Auch nicht, wie es weitergehen wird. Wo werden wir wohnen? Wie wird es mit uns sein? Nein, das in- teressiert sie nicht. Die Antwort ist immer: Otello. Sie liebt ihn, und daher ist heute alles gut und wird morgen alles gut sein. Zumindest glaubt sie das. Weiter denken will sie nicht. Die Liebe zu Otello ist alles, was sie hat.

Die Erkenntnis der Realität ist wie ein Weckruf.

Olga Bezsmertna: Sie versteht nicht, warum er so wütend auf sie ist. Jede Frau bekommt es mit der Angst zu tun, wenn sich der Partner plötzlich, ohne Grund, so verhält und solche Anschuldigungen vorbringt. Er nennt ja auch keine Gründe. Er sagt Cortigiana zu ihr, also Hure. Das ist wie ein Todesstoß für sie. Wenn ein Mann das zu einer Frau, die ganz unschuldig ist, sagt, dann ist es mehr als nur ein Wort, es ist das Ende. In diesem Moment merkt sie, wohin die Reise geht.

Doch ist das alles nur eine unglückliche Kombination von handelnden Personen und ihren jeweiligen Charaktereigenschaften? Hätte es gut ausgehen können, wenn Jago nicht mitspielte?

Aleksandrs Antonenko: Desdemona hatte alle Brücken hinter sich verbrannt, sie kann nicht mehr zurück: so sehr liebt sie ihn. Es hätte gut gehen können!
Olga Bezsmertna: Ich denke auch, es hätte gut ausgehen können. Ich finde es ja besonders, dass Jago Desdemona attraktiv findet – und manchmal frage ich mich, wieweit Jago diese In- trige von Anfang an bis ins letzte Detail durchgeplant hat ...

Soll Ihre Desdemona in der Charakter-Farbigkeit komplementär zu Jago sein?

Olga Bezsmertna: Ja, sie ist ja engelsgleich. Das ist sie einfach!

Und ihr Ave Maria ist demnach das Gegengebet zu Jagos Credo?

Olga Bezsmertna: Indirekt vielleicht die Ant- wort darauf. Sie ist tiefgläubig, und schon darum ist ihre Untreue undenkbar. Wer ehrlich glaubt, der hintergeht den Geliebten nicht einmal in Gedanken. Jago und Desdemona sind zwei un- terschiedliche Welten: er geht seinen Weg und sie ihren.

Jago „betet“ sein teuflisches Credo, Desdemona ein Ave Maria. Wo steht Otello in diesem Verhältnis?

Aleksandrs Antonenko: Er betet zu Gott, spricht vom grausamen Kreuz, das er tragen muss. Es hat aber keine so zentrale Bedeutung. Man muss daran denken, dass bei Shakespeare Gott na- mentlich gar nicht vorkommt.

Eine kurze Beschreibung des Otello aus Desdemonas Sicht?

Olga Bezsmertna: Er ist stark. Sehr stark. Aber auch voller innerer Empfindsamkeit. Desdemona liebt ja auch seine viele Stärken – und sie bewundert ihn. Ebenso nimmt sie seine große Liebe wahr. Dass seine Eifersucht auch vernichtend groß ist – das wusste sie nicht.

Liebt er sie zu wenig oder zu viel?

Olga Bezsmertna: Vielleicht ist seine Liebe zu groß. Aber man darf nicht vergessen, dass die beiden einander gar nicht so gut kennen und viel Unausgesprochenes zwischen ihnen steht. Natürlich ist da viel Liebe, aber es waren noch nicht genug der Worte. Und manches bespricht man ja auch nicht einfach so – vor allem nicht in diesem Liebeszustand: „Weißt du, wenn ich eifersüchtig werde, dann wird das so oder so sein.“ Wahrscheinlich wusste ja nicht einmal Otello, dass er zu so etwas in der Lage ist.
Aleksandrs Antonenko: Ich weiß nicht, ob man das einfach so beantworten kann. Er liebt sie sehr, das ist eine Tatsache. Dass er sie umbringt, weil er denkt, dass sie ihn betrügt: das ist eine andere Sache. Es geht ihm da auch, und er scheint hier wie ein Priester, darum, dass ihre Seele nicht verloren gehen soll. Wir dürfen nie vergessen: Otello ist eine Geschichte aus dem 16. Jahrhundert, Shakespeare brachte sie Anfang des 17. Jahrhunderts heraus; und dann wurde sie durch die Brille von Verdi, also aus dem 19. Jahrhundert, betrachtet. Wobei: Das Thema „funktioniert“ so und so: Denn es sind zeitlose Themenstellungen und Motivationen, die wir erleben: Eifersucht und Neid. Das ist nicht etwas, was es nur in einer Epoche gegeben hätte. Daher können wir die Otello-Geschichte auch heute verstehen und sie ist ebenso aktuell, wie sie es zu Zeiten Shakespeares oder Verdis war. Nur sind die Umstände anders ausgestaltet. Ich weiß nicht, wie die Geschichte im Handy-Zeitalter verlaufen wäre...

Doch schwingt da nicht auch Unsicherheit mit? Warum glaubt er dem Bösen mehr als dem Guten?

Aleksandrs Antonenko: Er glaubt, aber er glaubt auch nicht. Er fordert ja Beweise. Aber dann natürlich... Er sieht, was er sehen möchte.

Und vertraut Desdemona nicht.

Aleksandrs Antonenko: Das ist ein interessanter psychologischer Aspekt. Die ganze große Liebe von Desdemona, das scheint ihm so unwirklich. Er kann es nicht glauben, dass er so ein Glück hat, von ihr geliebt zu werden. Er fragt sich, wodurch er das verdient hat und fürchtet, dass dieser Traum gleich wieder zu Ende sein könnte. Schließlich ist er 48 Jahre alt und zum ersten Mal in seinem Leben wirklich verliebt. Das Ganze ist wie ein Geschenk, von dem er fürchtet, dass er es gleich wieder zurückgeben muss, weil es gar nicht für ihn gedacht war.

Aber eine Flucht aus seinem Leben ist diese Liebe nicht?

Aleksandrs Antonenko: Nein, das denke ich nicht.

Sie sangen die Desdemona bereits 2017 hier am Haus. Inwiefern wurden Ihre Erwartungen, die Sie im Studium der Rolle aufbauten, erfüllt?

Olga Bezsmertna: Es war mehr als ich erwarte- te. Schöner! Anfangs muss man immer mit Herausforderungen rechnen, jede neue Rolle ist wie eine neue Stufe, die es zu erklimmen gilt. Und Desdemona braucht einen gänzlich anderen Zugang: also denkt man am Anfang viel über die Rolle nach. Im Grunde muss man aber, wie bei jeder Partie, einfach anfangen zu lernen. Und plötzlich merkte ich, es geht viel einfacher, als ich gedacht hätte. Die Partie liegt so gut in der Stimme. Kein Problem!

Nun ist der Otello keine neue Rolle für Sie. Lassen sich Ihre Erfahrung kurz zusammenfassen?

Aleksandrs Antonenko: Grundsätzlich bin ich immer froh, wenn eine Neuproduktion ins Haus steht, denn dann geht man noch einmal ganz an die Basis des Werks und erarbeitet es mit ausreichend Zeit neu. Es ist auch immer wieder ein Glück, bei Werken, die auf Shakespeare basieren, mit englischen Regisseuren zu arbeiten. Adrian Noble ist – neben seinem Opernwissen – ein Fachmann für den originalen Text und gemeinsam erarbeiten wir uns das Stück aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln. Für den Tenor ist der Otello bekanntlich eine schwierige Rolle. Vor allem, wenn man die Oper nur mit einer statt zwei Pausen spielt. Denn wenn man in diesem Fall nicht ganz genau weiß, wie man die Partie anlegt, hat man keine Chance.

Empfinden Sie eine Parallele zu einer anderen von Ihnen gesungen Rolle?

Olga Bezsmertna: Musikalisch ist die Desdemona ganz etwas Unvergleichliches, alleinstehend. Da sehe ich keine Verbindung zu anderen Frauenrollen. Vom Typ und Charakter her: All die zärtlichen, liebenden, tragischen Figuren, ob sie nun Mimì oder Rusalka heißen.
Aleksandrs Antonenko: Hermann in Pique Dame.

Noch einmal die Frage nach dem schnellen Blick: Wenn Sie einen solchen in Ihren Klavierauszug werfen. Was fällt Ihnen auf?

Olga Bezsmertna: Ich bin immer wieder überrascht, dass ich so viel Piano und Pianissimo sehe. Man denkt sich unwillkürlich: das wird zu leise sein! Wie soll das funktionieren? Wird man mich hören? Aber Verdi hatte nicht nur eine große Seele, sondern auch einen klaren Kopf und er wusste genau, wie man diese leisen Stellen setzt. Natürlich, es gibt auch die große Emotion – aber dann wieder das Piano. Wenn man es richtig macht und das Ganze aufgeht, dann wird es wunderbar. Zart, fein – und einzigartig. Als Künstlerin macht mich Verdi mit der Desdemona einfach nur glücklich!
Aleksandrs Antonenko: Mir fällt die Intensität der Rolle auf, die sehr herausfordernd ist: man hat das große Potenzial an Eifersucht, dieses übergroße Maß an Emotion. Wenn man das als Sänger nicht kontrolliert, dann kommt man ins Schreien. Und das ist ganz schlecht für die Stimme. Daher muss man als Otello immer ein wenig auf der Bremse stehen.

Das Gespräch führte Oliver Láng


Otello | Giuseppe Verdi
Premiere: 20. Juni 2019
Reprisen: 24., 27., 30. Juni 2019

KARTEN & MEHR 

Einführungsmatinee: 16. Juni 2019

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