Musik ist ein Wegweiser

Zu Lebzeiten Puccinis haben sich manche Größen der Musikwelt wie Gustav Mahler, Felix Mottl oder Julius Korngold sehr abfällig über seine Musik, insbesondere über die Tosca geäußert. Das hat sich geändert, Puccinis geniale Meisterschaft steht heute außer Zweifel. Die Frage ist, warum die Anerkennung der Fachwelt auf sich warten ließ?
KS Thomas Hampson: Puccini ist ja nicht der einzige, dem dieses Schicksal widerfahren ist. Gehen wir beispielsweise zurück ins Jahr 1847, als Giuseppe Verdi die ganze Opernlandschaft erschüttert hat mit seinem für die damaligen Ohren völlig unkonventionellen und neuartigen Macbeth, der aus heutiger Sicht für viele Musikwissenschaftler die Post-Belcanto-Zeit eingeläutet hat: Die allgemeine Akzeptanz dieses unerwarteten Realismus auf der Bühne war vorerst … enden wollend. Ähnliches galt später auch für Puccinis veristisch-melodramatischen Ansatz und gilt heute für bestimmte Inszenierungsstile. Da spielen Zeitgeist und angestammte Hörgewohnheiten und Sichtweisen sicherlich eine Rolle. Doch letztlich konnte an der Wirkungsmacht von Puccinis Musik nicht dauerhaft gezweifelt werden! Gehen wir kurz zu einem ganz anderen Kunstsektor – zum Film und bedenken, welchen Stellenwert hier die Musik haben kann: Dass Menschen zum Beispiel von einem traurigen Film zu Tränen gerührt werden, geht oft zu großen Teilen auf den guten Soundtrack zurück. Ließe man ihn weg, fiele die Reaktion der Zuseher unter Umständen ganz anders aus. Ich möchte nun nicht Filmmusik und Puccini beziehungsweise die Oper an sich auf eine Stufe stellen, sondern nur auf die besondere Kraft, Grundstruktur und Eigenschaft hinweisen, mit der Musik in der Lage ist an unsere Emotionen anzudocken. Und die Intensität mit der dies geschieht, ist für mich ein sehr aussagekräftiger Qualitäts-Gradmesser – allein diesbezüglich ist Tosca unbestritten ein Meisterwerk.

Die Ohren bilden gewissermaßen einen direkten Zugang zum Herzen…
KS Thomas Hampson: … auf jeden Fall. Und deshalb ärgert mich die Musik-Berieselung in öffentlichen Räumen, der Umstand, dass Musik nicht wahrgenommen, sondern beiläufig konsumiert wird. Das ist ein Krebs unserer Zeit. Musik ist in Wahrheit vielmehr eine überaus wichtige Sprache. Eine Sprache, die wir unseren Kindern zu lehren nicht verabsäumen sollten. Und die Gattung Oper hat die schöne Aufgabe, durch diese Sprache wie ein Wegweiser menschliche Erfahrungen darstellen und erläutern zu können.

Nun verfügen Komponisten über handwerkliche Methoden, nennen wir sie Vokabel, mit denen sie diese Sprache gestalten. Wie viel muss der Interpret von diesen Musik-Vokabeln exakt verstehen, um das Werk, seinen Part umsetzen zu können, inwieweit ist nicht das Bauchgefühl für eine Interpretation schon ausreichend?
KS Thomas Hampson: Wir Sänger sind im Allgemeinen keine ausgebildeten Komponisten, müssen aber dennoch verstehen, was der Schöpfer eines Werkes – im aktuellen Fall Puccini – gemeint und bezweckt hat. Man sollte wissen, welche Funktion ein Tonartenwechsel in einer bestimmten Szene hat, warum plötzlich ein harmoniefremder Ton erklingt, man sollte die musikalische Agogik durchschauen usw. Das macht in meinen Augen das A & O des Berufs eines Interpreten aus. Wenn ich schon als Sänger die Beweggründe eines Komponisten nicht erfasse, wie kann ich sie dann dem Publikum vermitteln?

Ewige Frage: Wie intensiv soll sich das Publikum auf die Aufführungen vorbereiten?
KS Thomas Hampson: Selbstverständlich ist Vorbildung keine Voraussetzung für einen Opernbesuch. Ich kann auch in ein Museum gehen und die Farben und Sujets auf den Bildern eines berühmten Malers bewundern ohne kunstgeschichtlich vorbelastet zu sein. Aber wenn ich zum Beispiel durch einen Audioführer mein Wissen etwas ergänze und sich mir daraufhin neue Zusammenhänge erschließen, kann das einen großen, durchaus erfüllenden Gewinn bedeuten. Und genauso ist es in der Oper: Ein Hörer muss nicht wissen, was ein Kontrapunkt ist, geschweige ihn im Stück erkennen, aber jedes zusätzliche Wissen hinsichtlich Aufbau, Formen und Struktur vertieft unsere Freude am Werk.

Kommen wir doch zum konkreten Fall Scarpia: Was sagt uns seine Musik? Was sollte sich der Scarpia-Interpret vergegenwärtigen?
KS Thomas Hampson: Da könnte man eine ganze Dissertation füllen. Nur ein Beispiel: Scarpia besitzt die Fähigkeit andere perfekt manipulieren zu können. Er ist ein überaus intelligenter Menschenkenner und den anderen geistig immer um zwei Schritte voraus. Diese Manipulationsfähigkeit ist musikalisch im zweiten Akt im Gespräch mit Tosca sehr schön aus der Partitur herauszulesen: Scarpia beginnt die Phrasen – inhaltlich wie musikalisch – wie ein Raubtier, eine herannahende Schlange in einer tieferen Region und Tosca beendet sie, reagiert gewissermaßen ausbruchartig, schreiend auf das eben Gehörte auf dem höchsten Gipfel der Phrase. Deren Verlauf ist also durch den Inhalt bestimmt und vergegenwärtigt ihn akustisch-emotional. Diese sich unfassbar aufbauende Auseinandersetzung zwischen den beiden ist übrigens wohl gleichermaßen aufregend für die Sänger auf der Bühne wie für das Publikum. Ein zweites Beispiel: Wie der große Tito Gobbi schon richtig geschrieben hat, gibt es auch eine Gesamtentwicklung Scarpias vom ersten Akt an bis zu seinem „Quest’ora io l’attendeva!“ All sein Handeln, jedes kleinste Detail – wie etwa sein Mitsingen beim „Te Deum“ – zielt fluchtpunktartig auf diese Arie hin. Nicht umsonst bewegt sich Scarpia hier mit seinen eingestrichenen es, fes und f musikalisch in den höchsten Regionen der Baritonstimme – Scarpia meint hier ja fälschlich, dass er den Gipfel seiner Wünsche erreicht hat: Tosca gehört endlich ihm! Die hohen Töne symbolisieren also das vermeintlich höchste Glück Scarpias. In diesem Moment fällt jede Maskerade, jedes Als-ob, jedes strategische Spiel: Er steht breitbeinig mit glitzernden Fangzähnen, triefendem Speichel in seiner ganzen verachtenswerten, furchtverströmenden bösen Pracht über seinem Opfer, das nun endlich sein ist. Sie sehen allein an diesen beiden Beispielen, dass nichts zufällig in der Partitur steht – und das Wissen um das Warum gehört, wie gesagt, zu den Aufgaben des Interpreten.

Nun hat Puccini mit der Tosca mehr oder weniger subkutan an der politischen Situation des Italiens von 1900 Kritik geübt. Ist so ein Faktum überhaupt noch relevant bei einer heutigen Aufführung?
KS Thomas Hampson: Relevant ist die grundsätzliche Aussage: Der notwendige Kampf um die Freiheit, die Gefahr der Übermacht der Polizei in einem diktatorischen System, das Recht des Einzelnen usw.. Ob man dies jetzt via Regie an eine bestimmte Zeit knüpft oder nicht, ist Geschmackssache, aber die eigentliche gesellschaftspolitische Botschaft der Tosca ist zeitlos.

Das Gespräch führte Andreas Láng


Tosca | Giacomo Puccini
7., 10., 14., 17. Februar 2019
KARTEN & MEHR