Musik, die man sehen kann
Die Zusammensetzung des Repertoires ist und war auch an der Wiener Staatsoper einem ständigen Wechsel unterworfen. Das hatte natürlich immer wieder auch politische Gründe – sei es im 1. Weltkrieg, als Werke lebender Komponisten aus »Feindstaaten« zeitweilig mit einem Aufführungsverbot belegt waren, sei es zwischen 1938 und 1945, als Werke jüdischer Komponisten zu verschwinden hatten. Aber es gab auch andere Ursachen. Internationale Hörgewohnheiten, das Angebot an bestimmten Stimmtypen, das Hinterfragen stilistischer Aufführungstradition und Ähnliches führten regelmäßig zu deutlichen Aktenzverschiebungen im Angebot. So beliebt Donizetti und Rossini beispielsweise um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren, so verächtlich wurden sie am Beginn des 20. Jahrhunderts als zweitrangige Tonschöpfer abgetan, bis sie durch Sängerpersönlichkeiten wie Maria Callas oder später Luigi Alva, Edita Gruberova, Cecilia Bartoli oder Juan Diego Flórez auch in Wien wieder rehabilitiert wurden. Und die historisch informierte Aufführungspraxis führte bekanntlich unter anderem zur Auferstehung der Barockoper, die sich im Haus am Ring zuletzt in gefeierten Monteverdi-Erstaufführungen widerspiegelte.
Doch es gibt auch die unerklärlichen Phänomene. Jahrzehntelange Kassenschlager, die zum absoluten Bestand des sogenannten Kernrepertoires zählten, verschwanden ohne triftigen Grund von einem Tag auf den anderen, manchmal für mehrere Generationen. So auch Roméo et Juliette. Das neben Faust zweite Erfolgsstück des Franzosen Charles Gounod wurde 1869 schon in der Eröffnungswoche der neuen Hofoper am Ring aus dem alten Kärntnertortheater übernommen und blieb bis 1918, also rund ein halbes Jahrhundert lang, eines der populären Zugstücke, in dem die bedeutendsten Interpretinnen und Interpreten regelmäßig zu erleben waren. Und dann verschwand die Oper. Keiner – weder vor noch hinter den Kulissen, hatte nach der letzten Vorstellung damit gerechnet, das Stück an diesem Haus nie wieder zu erleben. Dass Richard Strauss, Staatsoperndirektor von 1919 bis 1924, kein Interesse an Roméo et Juliette hatte, lag an dessen persönlicher Abneigung gegen Vertonungen berühmter Schauspiele. Aber nach 1924? Nun, es gibt die unterschiedlichsten Gründe, warum ein Werk letztlich nicht zur Neuproduktion gelangt, auch wenn das grundsätzliche Interesse vorhanden ist: Termin- oder Besetzungsschwierigkeiten, finanzielle Probleme, persönliche Vorlieben der Theaterleiter etc. Und irgendwann »vergisst« man ein Stück, denkt einfach nicht mehr daran. Bei Roméo et Juliette dürfte es eine Mischung aus alledem gewesen sein.
Es war Direktor Ioan Holender der in seiner Amtszeit eine Vielzahl an früheren Klassikern wiederbelebte. So auch 2001 Roméo et Juliette – wobei mit der bis heute zu sehenden Neuproduktion gleich zwei »Premieren« über die Bühne gingen: Roméo et Juliette wurde erstmals an diesem Haus im französischen Original gegeben (bis in die Mitte der 1950er Jahre war ja Deutsch als Aufführungssprache obligatorisch), und außerdem in einer vollkommen neuen und ungewohnten Inszenierungsform: Anstelle eines Bühnenbildes erwartet das Publikum eine beeindruckende Lichtarchitektur des berühmten englischen Lichtdesigners Patrick Woodroffe, die auf jede kleinste Veränderung der musikalischen Textur augenblicklich reagiert. Auf diese Weise wird die akustische Wahrnehmung 1:1 in eine ebenbürtige optische umgesetzt, also wirkungsvoll verstärkt, wodurch dem Publikum ein intensiveres Eindringen in die Oper ermöglicht wird. Rudolf Fischer, Beleuchtungschef der Wiener Staatsoper, erinnert sich, dass für das detailreiche Lichtkonzept nicht nur Lichttürme konstruiert und spezielle Scheinwerfer samt einem Lichtpult angeschafft werden mussten, sondern auch ein eigener Programmierer für die Moving-Lights engagiert wurde. Die einzelnen Aktionen und Lichtstimmungen sollten schließlich auf die Sekunde genau die gewünschte Atmosphäre verbreiten. Der Erfolg der Produktion gab den Anstrengungen und komplexen Vorbereitungen jedenfalls recht, und bis heute hat diese unorthodoxe szenische Lösung, obwohl seit der Premiere schon fast ein Vierteljahrhundert ins Land gezogen ist, nichts an Attraktivität verloren.
Die Oper Roméo et Juliette selbst war von der Uraufführung an erfolgreich. Charles Gounod hatte schon seit seinen Studententagen mit dem Gedanken gespielt, Shakespeares vielleicht bekanntestes Schauspiel zu vertonen. Doch über erste Skizzen kam er vorerst nicht hinaus. Zu groß war die Konkurrenz der Dutzenden Vertonungen dieses Stoffes, nicht zuletzt Berlioz’ gleichnamige dramatische Symphonie oder Bellinis Oper I Capuleti e i Montecchi wirkten vorerst erdrückend für einen unerfahrenen und im beinharten Musikgeschäft des 19. Jahrhunderts unvernetzten Newcomer.
Aber aufgegeben hatte Gounod das Projekt keineswegs. Und so wandte er sich Jahre später, nicht zuletzt angestachelt durch die neue und hochwertige Französisch-Übersetzung der Shakespeare-Dramen durch François-Victor Hugo, erneut dem berühmtesten Liebespaar der Literatur zu. Doch diesmal war er bereits ein arrivierter, durch den Erfolg des Faust selbstbewusster gewordener Komponist. Die Qual der Wahl für Gounod und seine beiden Librettisten Jules Barbier und Michel Carré war es allerdings, eine Auswahl unter den zu vertonenden Szenen zu finden, um die Länge der Oper nicht ausufern zu lassen. Schließlich einigen sie sich, um das Private, die persönlichen Gefühle und Beziehungen der Handelnden besser herausstellen zu können, neben dem Prolog und einigten dramatischen Abschnitten vor allem vier Duette des Protagonistenpaares ins Zentrum zu stellen, die dramaturgisch geschickt miteinander verknüpft wurden. Der Erfolg der Uraufführung, die im Zuge der Pariser Weltausstellung 1867 in einen besonderen Fokus gerückt war, übertraf sogar die kühnsten Erwartungen. Dennoch überarbeitete Gounod das Werk mehrfach für weitere Pariser Bühnen, die form- und gattungstechnisch andere Anforderungen an eine Opernpartitur stellten. Heute pflegt man international – und auch an der Wiener Staatsoper – die dritte, für die Grand Opéra entstandene Fassung zu spielen.
Lichtdesigner Patrick Woodroffe (geboren 1954) arbeitete mit zahllosen Pop-Größen (u.a. ABBA, Bob Dylan, Lady Gaga, Rolling Stones, Michael Jackson, Paul McCartney) und Filmgrößen wie Martin Scorsese zusammen, beleuchtet seit 1995 die Vanity Fair Oscar-Parties in Los Angeles und Cannes, 2012 die Zeremonien rund um die Olympischen Spiele in London, ist aber auch im Musiktheaterbereich tätig.