Musik, die berührt
Der große Arthur Schnitzler lässt eine seiner Bühnenfiguren feststellen, dass alle Künstlerinnen und Künstler durch ihr Wirken letztlich nach Unsterblichkeit streben. Geht es Ihnen auch so?
Für mich sehe ich dies nicht, jedenfalls hoffe ich, dass ich damit nicht einer Selbsttäuschung zum Opfer falle… Meine Rolle ist vielmehr die eines Katalysators zwischen den Komponisten von damals und dem Publikum von heute. Wenn mich die Leidenschaft für eine bestimmte Musik packt, will ich den Leuten im Saal zurufen: »Hört doch diese
phantastische Musik…«! Ich wünsche mir, dass der Opernkomponist Vivaldi unsterblich wird, der italienische Gluck, dass Salieri rehabilitiert wird oder Haydn – nicht ich. Unsterblich sollte die klassische Musik sein, weil sie die Menschen berühren kann.
Was war Ihrer Meinung nach der Grund, dass Barockopern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder einen wichtigen Stellenwert in den Spielplänen bekommen haben?
Es gibt eine Reihe von Gründen. Zunächst ganz praktische: Ursprünglich war die historische Aufführungspraxis ein Sektor für vielfach belächelte Nerds und Amateure. Selbst die Anfänge des Concentus Musicus Wien oder einige Jahrzehnte später, ebenfalls inspiriert von Nikolaus und Alice Harnoncourt, das Zürcher Orchestra La Scintilla: Gleichgesinnte setzten sich zusammen, probierten Dinge aus, lernten, feilten, forschten, bauten sich Instrumente und wagten sich schließlich auf die Bühne. Oder man denke an die ersten Barocksänger und Countertenöre, deren technische und expressive Möglichkeiten noch weit entfernt von dem waren, was wir heute erleben dürfen. Inzwischen gibt es an allen großen Musikhochschulen hervorragend geführte Abteilungen für Alte Musik. Sogar wer sich nicht speziell dort eingeschrieben hat, muss sich zumindest mit Fragen der Aufführungspraxis auseinandersetzen: junge Pianistinnen und Pianisten ornamentieren Klavierkonzerte von Mozart oder Beethoven, dasselbe tun wir Sänger – das gehört inzwischen einfach dazu. Damals, Mitte des 20. Jahrhunderts, waren kaum Noten verfügbar und schon gar keine kritischen Ausgaben. Die umfangreiche Vivaldi-Edition war noch nicht begonnen. Als die Callas sich für Bellinis Norma einsetzte, hatte sie keinen Zugang zu den Manuskripten. Eine Urtextedition wurde vom Verlag Bärenreiter erst produziert, nachdem ich vor über 15 Jahren eine rekonstruierte Fassung dieser Oper vorgelegt und in zahlreichen Städten aufgeführt hatte. Digitalisierung und Internet erleichtern den Zugang zu Bibliotheken und allerhand Ausgaben inzwischen ungemein, es liegt quasi alles unter unseren Fingern. Dazu kam wahrscheinlich eine gewisse Ermüdung der CD-Industrie: von allen bekannten Werken gab es bereits mehrere, maßstabsetzende Aufnahmen. Da musste neues Repertoire her. Für die Theater war das praktisch, weil gewisse Fächer kaum noch adäquat zu besetzen waren, während auf dem Gebiet der Barockoper reihenweise fantastisch ausgebildete, hochmusikalische und charismatische Solistinnen und Solisten sowie Dirigentinnen und Dirigenten heranwuchsen. Zufällig vollzogen sich in der Popmusik ähnliche Veränderungen, welche die barocke Oper prägen: die Mischung von Musik und Tanz, die wenig linearen Erzählweisen, sich ähnelnde Geschichten in neuem Gewand, das Ersetzen von Realismus durch Strass und Glitzer. Das Schillernde, Androgyne, Überbordende – wie bei Michael Jackson, Freddy Mercury, David Bowie. Aber auch Cher, Madonna oder Lady Gaga. Neben der Üppigkeit fürs Auge brachte uns die barocke Bewegung eine umwerfende neue Palette an Farben, Dynamiken und Details fürs Ohr, aber auch Leichtigkeit und Tempo. Ich stelle mir das so vor wie man heute viel seltener Viergänger und schwere Saucen isst, sondern farbige, frische Salate, weg von dem Schlagobers, hin zu neuen Geschmacksrichtungen und knackigen Texturen! Und schließlich spricht die barocke Musik viele junge Menschen an, weil ihre Strukturen (Wiederholung, Symmetrie, Rhythmus, Improvisation) der Popmusik und dem Jazz entsprechen.
Eine lange Zeit spielte man barocke Musik romantisch, dann mischten Dirigenten wie Nikolaus Harnoncourt die Welt auf und lehrten uns, Alte Musik neu zu hören. Wie historisch informiert muss/darf/soll barocke Musik heute klingen?
Man muss stets vollumfänglich informiert sein, wissen, was man tut und wieso. Aber die Zeiten der Authentiker, die nur die geschriebene Note gelten ließen, sind vorbei. Was eh absurd war, wenn man weiß, wie viel die Komponisten im 18. Jahrhundert NICHT aufschrieben, weil die Musiker es ohnehin wussten oder weil man davon ausging, dass frei ornamentiert wurde. Dies habe ich übrigens von Harnoncourt gelernt. Heute switchen die besten Musiker zwischen Perioden, Stilen und Genres, ohne die eigene Persönlichkeit zu verleugnen. Darum arbeite ich so gerne mit dem Dirigenten Gianluca Capuano. Er ist unglaublich gebildet – nächtens schreibt er ja philosophische Traktate –, aber in der Aufführung kommt das spontan Musikantische zum Vorschein und ein mitreißendes Temperament. In Monte-Carlo produzieren wir übrigens im nächsten Winter Das Rheingold mit Les Musiciens du Prince und Gianluca Capuano, die erste vollumfängliche Inszenierung einer Wagneroper, die von historischen Instrumenten
begleitet wird. Zwischen den Vorstellungen aber können Sie sich mit dem Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo unter Philippe Jordan eine konzertante Version des 2. Akts von Tristan und Isolde anhören und somit die beiden Zugänge direkt vergleichen. Das ist es, was mich wirklich interessiert, und ich bin extrem stolz auf dieses Projekt!
Schon bei der Uraufführung war Giulio Cesare beim Publikum ein Hit, zudem ist das Werk nie ganz aus den Spielplänen verschwunden. Woran liegt das Ihrer Meinung nach? An der Geschichte? Der Musik?
Die durch den Titel hervorgerufenen Assoziationen und die Namen der Hauptfiguren – die übrigens mit ihren historischen Vorbildern kaum etwas zu tun haben, sondern vielmehr mit romantisierten Abbildern in der Kunst wie Shakespeares Tragödie Antonius und Cleopatra – spielten da schon eine wichtige Rolle. Und welche Sängerin träumt nicht von Elizabeth Taylors umwerfenden Kostümen… Aber Händels Musik ist in dieser Oper extrem abwechslungsreich, das Werk enthält fantastische Arien, auch spektakuläre, und darüber hinaus sehr schöne Duette und ungewöhnliche Einfälle wie die Zaubermusik auf dem Musenberg Parnass oder die kriegerischen Rufe des
Chors hinter der Bühne.
Händel, der Komponist des Giulio Cesare, war einem beinharten Konkurrenzkampf unterworfen und daher auch zu Zugeständnissen an den Publikumsgeschmack gezwungen. Die große künstlerische Freiheit à la Wagner und Beethoven beispielsweise war das dann nicht, oder doch?
Nein – das waren keine romantischen Künstler, die sich und ihr »Genie« verwirklichen wollten, sondern Handwerker, oder später Unternehmer bzw. Impresari. Kein Hauch von Übernatürlichem. Vielleicht kommen wir hier zu Ihrer allerersten Frage zurück. So, wie wir uns heute als Katalysatoren für die Komponisten sehen, waren damals Komponisten die Katalysatoren für das unglaubliche Talent bestimmter Bühnenkünstler, den oder die man aus Begeisterung und Leidenschaft im besten Licht zeigen wollte. Ok, Händel wollte einmal seine Primadonna aus dem Fenster werfen, aber generell hat er wohl kaum darunter gelitten. Komponist oder Musiker zu sein war wohl ein Beruf wie jeder andere.
Vor zwei Jahren waren Sie mit Rossini Mania in Wien zu Gast. Wodurch unterscheiden sich Rossini’sche Koloraturen von Händel’schen? Hat man mehr Freiheiten?
Einerseits gibt es eine starke Verbindung, denn Rossini hielt ja die Kunst der Kastraten für die höchste Form von Belcanto und schrieb selber ab und zu noch für Kastraten, während er sich zum Beispiel über manche Tenöre seiner Zeit lustig machte. Es ist schwierig zu verallgemeinern, denn sowohl im Barock als auch bei Rossini gibt es Stellen, wo die Koloraturen ausgeschrieben sind, während an anderen einfach klar ist, dass man ornamentieren muss. Und Händel wie Rossini schrieben ihre Partien in der Regel ihren Solistinnen und Solisten auf den Leib. Ich habe aber schon das Gefühl, dass Rossini dazu tendierte, die Koloraturen immer genauer aufzuschreiben, wie zum Beispiel im ersten Teil des Rondos »Nacqui all’affanno« in La cenerentola. Und es ist wohl kaum möglich, sich hier originellere und perlendere Koloraturen vorzustellen, als Rossini vorgibt. Aber wenn er hervorragende Musikerinnen und Musiker auf der Bühne hatte, wie seinen Freund Manuel García oder dessen hochbegabten Töchter Maria Malibran und Pauline Viardot, kümmerte ihn die genaue Beachtung des Notentexts wohl weniger. Angeblich hat ja nach dem Misserfolg bei der Uraufführung erst die Improvisationskunst Garcías den Barbier von Sevilla zum Triumph geführt.
Wie viel von den Koloraturen ist überliefert, wie viel ist »original Bartoli«, muss/kann man heute andere Koloraturen präsentieren als zur Entstehungszeit? Wo finden sich die Richtlinien für all die Ausziehrungen?
Über Stil und Verzierungen kann man viel lesen und man lernt natürlich auch in der Praxis, in der Zusammenarbeit mit großen Dirigenten und Kolleginnen und Kollegen. Es gilt, zunächst den Notentext genau zu studieren, um sich danach davon zu befreien und der Fantasie freien Lauf zu lassen, immer im Rahmen des Stils. Also nicht wirklich anders, als beim Musizieren überhaupt. Ich selber singe gerne beim ersten Mal die Noten, die geschrieben sind, und variiere sie erst bei der Wiederholung, aber andere sehen das anders und verzieren von Anfang an. Dies ist eine Frage des Geschmacks und der künstlerischen Persönlichkeit.
Die Wiener Staatsoper ist ein Bauwerk aus dem späten 19. Jahrhundert, wobei der Zuschauerraum sogar ein Werk des mittleren 20. Jahrhunderts ist. Inwieweit ist dieses Haus trotzdem ein »passendes Gefäß«, in dem ein Barockspektakel stattfinden kann?
Szenisch ist das überhaupt kein Problem, und eine barocke Oper muss ja ein Spektakel sein, d.h. man soll bzw. darf den Raum entsprechend füllen. Ich bin überzeugt, Sie werden von Davide Livermores einfallsreicher, spektakulärer und ironischer Inszenierung begeistert sein. Akustisch sind solche Räume so oder so nicht einfach zu bespielen, ganz unabhängig vom Repertoire. Daher bereiten wir uns immer sehr aufmerksam vor und arbeiten intensiv an der dynamischen Balance zwischen Orchester und Solisten und ihrer räumlichen Positionierung im Haus.
In der Besetzung wird die Cleopatra als Sopranistin ausgewiesen. Wie hoch liegt die Tessitura der Partie?
In der damaligen Zeit gab es ja noch keine Stimmfächer im heutigen Sinn. Alle – selbst Kastraten – waren Soprane; wenige Ausnahmen mit einer tiefer gelegenen Stimme waren Alti. Unterteilt wurden die Solistinnen und Solisten vielmehr nach ihrem »box office value«: also Primadonna (erste Dame), dann zweite Dame usw. Die erste Cleopatra war die Cuzzoni, deren Tessitur sich angeblich vom ein- zum dreigestrichenen C erstreckte. Ich betrachte mich zwar eindeutig als Mezzosopran, aber ihre Rollen liegen mir in der Regel sehr gut in der Kehle, genauso übrigens wie das Repertoire von Händels anderer Primadonna, der Strada del Pò, die unter anderem die erste Alcina war und die Cleopatra in der Londoner Wiederaufnahme von 1730. Sie wissen ja sicher, dass ich mich gegen das strikte Fachdenken wehre, sondern finde, man sollte das singen (und spielen!), wozu einen seine Physis führt.
Die Kastraten hatten eine ganz spezielle Klangfärbung. Inwieweit entspricht das Zusammenspiel der heutigen Stimmen dem Original des 18. Jahrhunderts?
Also, es gibt ja Aufnahmen des letzten Kastraten Moreschi vom Anfang des 20. Jahrhunderts, die kann man sich auf YouTube anhören. Er war Solist in der Sixtinischen Kapelle, muss also ein sehr guter Sänger gewesen sein. Aber bei so alten Aufnahmen kann man die Qualität der Stimme nicht wirklich beurteilen, eher Fragen des Stils zum Beispiel. Ich versuche jeweils, mir aufgrund der Partituren ein Bild von der Stimme von Kastraten zu machen, weil die ja einem bestimmten Sänger auf den Leib geschrieben wurden. Man sieht da sehr deutlich, was für einen unglaublich langen Atem die Kastraten hatten, den Stimmumfang, ihre technischen Möglichkeiten. Mit unserer Physis können wir uns dem nur annähern, gerade wir Frauen, denn unsere Lungenkapazität lässt sich niemals mit den Kastraten vergleichen, deren Oberkörper als Folge der »Hormonverwirrung« nach der Operation oft überdimensionale Ausmaße annahm. Aber wir tun unser Bestes. Ich bin stolz, dass wir Ihnen mit grandiosen Countertenören wie Carlo Vistoli, Max Emanuel Cenčić und Kangmin Justin Kim einen zumindest annäherenden, spektakulären Eindruck von der Kunst dieser grandiosen Künstler vermitteln
können.
Mit Their Master’s Voice gibt es ein neues Werk. Wer hatte die Idee zu diesem Projekt? Haben Sie am Buch mitgearbeitet? Wie konnten Sie John Malkovich für das Projekt gewinnen?
Ich kenne John Malkovich natürlich aus dem Kino, aber er interessierte mich auch wegen seines Theaterprojekts mit Motiven von Casanova, Mozart und Da Ponte, denn ich hatte immer die Vorstellung, etwas Ähnliches zu machen mit einem Thema aus der Welt der Barockmusik. Ich glaube, auch er hatte Lust auf ein gemeinsames Projekt. Das Stück selber ist dann langsam gewachsen, auch während der Proben in Monte-Carlo haben wir viel ausprobiert und geändert. So, wie es jetzt zur Aufführung kommt, ist es ein Pasticcio, auf halbem Weg zwischen Sprechtheater und Oper mit zahlreichen Lieblingsarien aus meinem Repertoire. Ergänzt wird der Abend durch die Präsenz des jungen Countertenors Philipp Mathmann und die englische Schauspielerin Emily Cox, und auch der Chor der Opéra de Monte-Carlo singt ein paar eindrückliche Nummern.
Zum Abschluss gibt es ein Galakonzert: Wie sieht die Dramaturgie dieses Abends aus? Ist es ein Best-of? Oder gibt es einen roten Faden, der sich durch das Programm zieht?
Gerade im Bereich der barocken Oper liegt es nahe, ein Pasticcio zu erfinden, also die tollsten Nummern aus verschiedenen Opern an einem Abend zu vereinen, interpretiert von den größten Virtuosinnen und Virtuosen der Gegenwart. Damals gab es ja kein Copyright und keine Aufnahmen. Kaum war die Oper vorbei, war auch die Musik wieder weg, meist für immer. Die Verwendung von Musik eines Kollegen in einem neuen Werk wurde daher als Ehre angesehen, als Möglichkeit, das Leben eines Stücks Musik zu verlängern und war sehr populär, das kennen wir ja zum Beispiel auch von Bach. Der Abend wird eine Art Schaulaufen: Wir sind alle gute Freunde und freuen uns schon wahnsinnig, in Wien mit- und gegeneinander um die Wette zu singen, angefeuert vom begeisterten Publikum – nach dem Motto »anything you can do, I can do higher« bzw.
virtuoser… Die Opéra de Monte-Carlo mit ihrem Team, die Musiciens du Prince, der Chor der Opéra de Monte-Carlo, Gianluca Capuano und die Solistinnen und Solisten sind extrem stolz und können das Gastspiel in Wien kaum erwarten, allen voran ich selber!!