Möbelrücken in der neuen Wohnung

Es hat einen eigentümlichen Reiz, als erster durch eine weiße, unberührte Schneefläche zu gehen. Eben den Reiz des Unberührten. Kennen Sie als Uraufführungs-Dirigent dieses Empfinden? Die Freude, ein Werk zu leiten, das noch nie jemand vor Ihnen dirigiert hat?
Ingo Metzmacher: Ja, sicherlich. Dieses Neuland-Betreten ist sicherlich etwas besonderes. Aber ich denke, es geht noch weiter: eine Uraufführung ist immer eine außergewöhnliche Situation, weil der gesamte Ablauf ein anderer ist. Man befindet sich ja ein wenig in einem Workshop-Zustand, es gibt einen Austausch zwischen Komponist und Interpreten. Und bis zu dem Moment, an dem alle Beteiligten das Werk erstmals spielen, hat es ja tatsächlich noch nie jemand gehört. Man ahnt, wie das Ergebnis klingen wird, aber man weiß es nicht.

Wie sieht dieser Austausch mit dem Komponisten nun aus? Wieweit darf, kann und will der Uraufführungs-Dirigent Einfluss nehmen?
Ingo Metzmacher: Das hängt sicherlich vom jeweiligen Komponisten ab – wie auch von der Gesamtsituation. Ich kann mich an Arbeiten mit Karlheinz Stockhausen erinnern, da stand nicht einmal der Bruchteil eines Millimeters zur Diskussion. So wie er ein Werk geschrieben hatte, so war es für ihn perfekt und so wollte er es auch aufgeführt wissen. Andere Komponisten wie Wolfgang Rihm sehen das anders – auch Johannes Maria Staud. Ich habe mit Staud eine sehr gute Gesprächsebene und eine große Offenheit gefunden. Wobei es ja um keine willkürlichen Eingriffe meinerseits geht, sondern um ganz praktische Fragen.

Zum Beispiel?
Ingo Metzmacher: Es kann um Details gehen, oft aber auch um handwerkliche Fragen. Zum Beispiel: Staud schreibt immer wieder ungewöhnliche Taktarten, etwa einen 3/4-Takt mit einer zusätzlichen Achtel. Das könnte – theoretisch – ja auch ein 7/8-Takt sein. Aus seiner Musiksprache heraus, da es ihm manchmal um das Moment einer plötzlichen Beschleunigung bzw. eines beschleunigt klingenden Akzents geht, ist der 3/4-Takt mit einer zusätzlichen Achtel richtiger. So etwas ist Gegenstand eines Gesprächs.

Nimmt einem die Verfügbarkeit eines Komponisten nicht auch eine Freiheit als Interpret? Dass man immer nachfragen kann: Wie hast du es eigentlich gemeint?
Ingo Metzmacher: Ich glaube nicht. Denn es geht letztlich doch immer darum, die Musik eines Komponisten – Wagner, Schönberg, Brahms oder Staud – zum Sprechen zu bringen. Und so zum Sprechen zu bringen, dass sie dem Komponisten entspricht. Das ist meine Forderung an mich, egal bei welchem Komponisten und bei welchem Werk. Es geht dabei also gar nicht um meine Freiheit!

Mit Freiheit war gemeint: Wenn man bei einem Werk eines toten Komponisten an eine unklare Stelle kommt, dann muss man sich alleine – und daher frei – damit auseinander setzen. Im Falle eines lebenden Komponisten kann dieser die Frage ja abschließend beantworten.
Ingo Metzmacher: Ich würde sagen, dass Komponisten in Tönen denken und an sich eine gänzlich andere Zugangsweise zu Musik und ihrem Ausdruck haben als ausführende Musiker. Was die Musik soll, wohin sie will – das sind Fragen, die von einem Komponisten anders wahrgenommen und empfunden werden als etwa von mir als Dirigenten. Insofern muss ich mir ein Werk in jedem Fall erarbeiten, inklusive aller Fragen, die sich stellen. Natürlich würde es mich interessieren, was Brahms oder Beethoven zu mancher ihrer Kompositionen zu sagen haben. Aber meine eigene Arbeit muss stattfinden, egal, ob ein Komponist Stellung nehmen kann oder nicht.

Wie sah diese Auseinandersetzung im Falle der Weiden aus? Am Anfang stand, nehme ich an, das Libretto?
Ingo Metzmacher: Diesmal bin ich sogar schon früher dazugestoßen. Ich habe immer wieder Sujet-Entwürfe, Szenenentwürfe etc. erhalten und habe mich durchaus auch an der Diskussion um einzelne Aspekte beteiligt. Natürlich ist der Ausgangspunkt immer das Libretto, da ja der Text die Musik evoziert und ich als Dirigent nachvollziehen will, warum der Komponist basierend auf diesem Text diese spezielle Musik entwickelt hat. Dann folgt immer das genaue Studium der Musik, später die Arbeit mit den Sängern und dem Orchester, wobei sich – wie schon gesagt – der Gesamteindruck ja tatsächlich erst einstellen kann, wenn man eine Probe mit Orchester und Sängern (und Elektronik, in diesem Fall) erlebt.

Kann es bei solchen ersten Gesamtproben zu Überraschungen kommen, bei aller Erfahrung und allem Wissen, das Sie als Dirigent haben?
Ingo Metzmacher: Absolut. Das ist aber auch das Spannende daran. Dass sich alles erst jetzt, in den Probenwochen, so nach und nach zusammensetzt. Es ist ein wenig wie in einer neuen Wohnung – alles ist schon eingerichtet, aber man rückt manche Möbelstücke noch ein wenig herum, bis sie wirklich richtig stehen. Das kann man aber erst machen, wenn alle Möbel angeliefert und aufgestellt sind. Manches geht nur in der Praxisanwendung.

Dieses Möbelherumrücken ist im Falle eines Werkes für die Opernbühne...
Ingo Metzmacher: Das sind zum Teil – wie schon angedeutet – ganz handwerkliche, praktische Fragen. Oder an sich Spannungsbögen, Übergänge und so weiter. Musik hat ja auch sehr viel mit Architektur zu tun: Wenn man an dieser Stelle ein bisschen langsamer ist, muss man vielleicht an einer anderen beschleunigen. Vieles steht in einem großen Zusammenhang – und das erspürt man nicht in Einzelproben, sondern erst, wenn man einen kompletten Durchlauf macht.

Wieviel von diesem Möbelherumrücken bleibt eigentlich im Alltag erhalten?
Ingo Metzmacher: Es gibt diese bekannte Aussage von Furtwängler: Er wurde einmal gefragt, warum er heute bei einer Stelle ein so viel größeres Ritardando gemacht hat als am Vortag bei derselben Stelle. Er antwortete: „Heute klang es anders“. Das bedeutet: Der Zeitverlauf hängt vom Klang ab. Und das betrifft nicht nur eine Uraufführung oder Premiere, sondern jede einzelne Vorstellung.

Das Gespräch führte Oliver Láng


Die Weiden | Johannes Maria Staud - Durs Grünbein
Uraufführung: 8. Dezember 2018
Reprisen: 11., 14., 16., 20. Dezember 2018

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