© Gregor Hohenberg_Sony Music Entertainment

Mission: Liebe

Bei der ersten Premiere der Saison 2021/22 erlebte man Juan Diego Flórez in seinem ureigensten Belcanto-Fach als brillanten Conte dʼAlmaviva. Wenig später sprang er als Faust in Gounods gleichnamiger Oper ein, eine Rolle, die er in der Vorsaison in der Premierenserie gesungen hatte. Und nun gibt er sein Staatsopern Rollendebüt in Jules Massenets »Werther«. Also in jener auf Goethes Briefroman basierender Oper, die 1892 im Haus am Ring uraufgeführt wurde. Im nachfolgenden Gespräch berichtet der Kammersänger über die Zeitgenossenschaft der Werther-Figur und die tägliche Dosis an Drama.


Bei unserem letzten Interview erzählten Sie, dass man für den Rossini-Gesang ganz spezielle Muskel benötigt, die sonst nicht gebraucht werden. Wie sieht es mit Massenet aus? Gibt es da auch eine fachspezifische Muskulatur?

JUAN DIEGO FLÓREZ: Hm, nein. Vielleicht ist diese Muskulatur tatsächlich eine Eigenheit des Rossini-Gesanges. Dieser ist ja ausgespro- chen herausfordernd und heikel, aber wenn man sich gut vorbereitet und ausreichend übt und trainiert, dann läuft die Sache gut und macht ganz großen Spaß! Mit Massenet verhält es sich völlig anders. Bei seinen Opern soll man sich, meiner Meinung nach, weniger über technische Schwierigkeiten den Kopf zerbrechen als versuchen, ›natürlich‹ zu singen. Das klingt jetzt vielleicht einfach, ist es aber selbstverständlich nicht! Es geht um eine gute Legatokultur und vor allem um den Ausdruck – jede Menge Ausdruck! Massenet braucht eine überaus genaue Textausdeutung, man muss dem Publikum den exakten Bedeutungsinhalt des Gesungenen nahebringen. Das ist bei Des Grieux in Manon so, das ist bei Gounods Roméo so. Und bei Werther, würde ich sagen, muss man sogar noch genauer arbeiten, da es sich um eine so sensible und feinfühlige Figur voller Details handelt. 


Lässt sich beschreiben, was das explizit Französische an der Musik Massenets ist? Der Umgang mit einer Tradition? Die Kolorierungstechnik?

JUAN DIEGO FLÓREZ: Das hängt von vielen unterschiedlichen Faktoren ab. Grundsätzlich ist es ja so, dass die Komponisten dieser Zeit mehr oder weniger dieselben Dinge erforscht haben: die Palette der Farben in der Instrumentation, die Gefühlslandschaften, die vom Orchester gemalt werden, die differenzierten Leidenschaften und Emotionen, die die Sängerinnen und Sänger, aber auch das Orchester vermitteln. Nicht ohne Grund nannte man Massenet den französischen Puccini, denn es gibt eine Verwandtschaft im Umgang und in der Annäherung an diese Fragen. Massenet ist ein Forscher, ein Experimentator, der auf eine geniale Art und Weise Klang-Möglichkeiten und -Schattierungen untersucht hat.


Und wenn man ihn mit seinem Kollegen Gounod, dessen Faust Sie zuletzt sangen, vergleicht?

JUAN DIEGO FLÓREZ: Der größte Unterschied liegt in der Tessitura. Im Faust ist der Tenor eine Art Bariton mit einem hohen C. Mit anderen Worten: Er singt über weite Strecken ungewöhnlich tief, braucht aber die extreme Höhe. Mitunter, wie zum Beispiel im Terzett mit Valentin und Mé- phistophélès, liegt die Tenorstimme zum Teil sogar unter der Bariton- und sogar unter der Basspartie. Wenn man das mit dem Roméo von Gounod vergleicht, dann sieht man, wie anders dieser mit dem Tenor dort umgeht: er legt die Rolle viel höher an. Bei Werther wird die Tessitura noch einmal etwas höhergeschraubt. Für mich liegt die Partie sehr gut, schön im Zentrum. Schon allein deshalb liebe ich es, Werther zu singen. 


Wenn wir uns Werthers Persönlichkeitsstruktur anschauen: Ist er ein Stürmer und Dränger des 18. Jahrhunderts? Ein verschatteter Romantiker des 19.? Oder ein Bild eines zeitlosen, daher auch zeitgenössischen Menschen?

JUAN DIEGO FLÓREZ: Ich denke, all dies zusammen. Werther ist für mich ein Mensch, der eine unglaublich dünne Haut hat und alles, was ihn emotional berührt, durchbricht diese Haut sofort und dringt tief in ihn ein. Er kann nicht über Emotionen, Erlebnisse und Umstände hinwegsehen, alles nimmt ihn unglaublich stark mit. Er empfindet einfach zu sehr. Massenet drückt diese emotionale Hochspannung in der Musik bravourös aus: Es liegt so viel Ausdruck in Werthers Gesangspas- sagen – und auch im Orchester. Nehmen wir zum Beispiel seine erste Arie, ›O nature, pleine de grâce‹, in der er die Natur preist: da wird im Orchester mit großer Intensität gezeigt, was in seinem Kopf, seinem Herzen vorgeht.


Massenet zeigt aber auch die Extreme in Werthers Charakter.

JUAN DIEGO FLÓREZ: Ja, man erkennt das schon in den dynamischen Anweisungen in der Partitur. Werther wird einerseits große Lautstärke abverlangt, andererseits aber auch sehr viel Pianissimo. Massive Gegensätze!


Weil Sie meinten, dass er zu viel empfindet: Liebt er Charlotte als Person, oder ist sie für ihn einfach ein Objekt für seine Liebe?

JUAN DIEGO FLÓREZ: Ich glaube, beides. Es geht um Charlotte, aber Werther hat auch eine Mission, und die lautet Liebe. Er hat beschlossen, dass Charlotte die richtige ist und er für sie sterben muss. Er ist wie ein Don Quixote der Liebe.


Und wenn sie ihn erhört und alle Bindungen und Konventionen hinter sich gelassen hätte? Wäre die Mission erfüllt gewesen?

JUAN DIEGO FLÓREZ: Gute Frage! Aber wer kann das beantworten? Vielleicht wäre eine mehr oder weniger konventionelle Ehe daraus geworden und alles wäre halbwegs gut ausgegangen. Denn er liebt die Familie, das Familienleben. Hätte er diese Geborgenheit, wäre vielleicht alles gut. Andererseits muss ich noch einmal unterstreichen: Werther braucht das Drama. Das ist seine Welt! Auf die tägliche Dosis Drama, auf die könnte er nie verzichten. 


Was empfinden Sie für die Figur? Sympathie? Mitgefühl?

JUAN DIEGO FLÓREZ: Ich würde sagen: Mitgefühl. Werther ist ein Opfer seiner Psyche, seiner Wesensart. Er fühlt auf diese intensive Art und Weise. Es gibt viele Menschen, denen es geht wie ihm. In unterschiedlichen Formen und Abstufungen, aber dieser Intensitätsgrad, damit ist er nicht alleine. 


George Bernard Shaw meinte, dass Werther nur zwei Momente hat, in denen er selbsttätig wird, beim Versuch, Charlotte zu einem Kuss zu bewe- gen und beim Selbstmord. Wie sieht es also mit seiner Stärke aus?

JUAN DIEGO FLÓREZ: Ich weiß nicht... Er schwimmt einfach in dieser Suppe aus Sentiment und Drama. Das ist sein Leben. Ich persönlich halte ihn nicht für schwach, denn irgendetwas in ihm will dieses besondere Dasein. 


Und Charlotte?

JUAN DIEGO FLÓREZ: Oh, sie ist sehr stark! Sie kümmert sich um die Kinder. Sie hält sich daran, was sie ihrer Mutter versprochen hat. Natürlich, sie empfindet etwas für Werther, sie liebt ihn. Aber sie hat einen enormen Sinn für Pflicht. Und dieser Sinn ist stärker als die Liebe. Abgesehen davon erwartet sie nicht, dass er sich tötet.


Um zuletzt zur bekanntesten Arie dieser Oper zu kommen, die auch durch sämtliche Opern Best-Ofs gegangen ist: ›Pourquoi me réveiller‹. Auf diese Arie wartet stets das ganze Publikum. Auch der Tenor?

JUAN DIEGO FLÓREZ: Natürlich auch der Tenor! Aber ich erwarte stets auch mit Hingabe und Freude die erste Arie, das bereits erwähnte ›O nature, pleine de grâce‹. Ganz allgemein muss ich sagen, dass Werther eine Partie ist, die nicht nur von den Zuschauerinnen und Zuschauern, sondern auch von den Tenören geliebt wird.

WERTHER
15. / 18. / 20. Jänner 2022
Musikalische Leitung Giacomo Sagripanti Inszenierung Andrei Serban
Bühne & Kostüme Peter Pabst
Kostümmitarbeit Petra Reinhardt

Werther Juan Diego Flórez
Albert Etienne Dupuis
Charlotte Julie Boulianne
Sophie Slávka Zámečníková
Le Bailli Hans Peter Kammerer
Schmidt Andrea Giovannini
Johann Michael Arivony