© Tillmann Franzen
Ballettdirektor und Chefchoreograph Martin Schläpfer

Martin Schläpfers erste Saison beim Wiener Staatsballett

Die ersten Tage der neuen Saison standen in den Ballettsälen von Staats- und Volksoper unter dem Zeichen des Sich-Kennenlernens. Wie gelang es Ihnen, mit allen 102 Mitgliedern der Compagnie möglichst bald persönlich zu arbeiten?

Für mich ist das Kreieren eines neuen Stückes hierfür ein zentrales Instrument. Die Entstehung einer Uraufführung beruht auf intensiver Kommunikation, ist ein kreativer Dialog – und die Ausgangssituation für alle gleich: das Material, die Musik, der Text, alle Parameter sind für jeden neues Terrain, ob er bereits Mitglied der Compagnie war, neu in Wien ist, schon mit mir gearbeitet hat oder noch nicht. Als Choreograph kann ich die Tänzerinnen und Tänzer sofort spüren, sehe, wo ihre Stärken liegen, und umgekehrt lernen die Tänzerinnen und Tänzer auch mich direkt kennen. Mein erstes Wiener Ballett – die Uraufführung 4 zu Gustav Mahlers 4. Symphonie mit dem Staatsopernorchester im Graben und Axel Kober am Dirigentenpult – wollte ich daher für das gesamte Ensemble choreographieren. Jeder hat seinen Platz darin. Darüber hinaus ist aber das Schöne an der Ballettkunst, dass wir – anders als ein Sänger oder ein Musiker, der seinen Part zunächst für sich studiert – bereits den Tag gemeinsam mit dem Training beginnen. Dies schafft sehr schnell Bindungen, denn die Sprache des Balletts ist für jeden klassisch ausgebildeten Tänzer verständlich, egal aus welchem Teil der Welt er kommt. Wenn es dann noch gelingt, eine inspirierende Atmosphäre zu schaffen, dann kann es nach meiner Erfahrung sehr schnell gelingen, ein Ensemble auf einen gemeinsamen Weg zu bringen.

Ihre bisherigen Compagnien kamen ohne hierarchische Strukturen aus. Alle Tänzerinnen und Tänzer waren Solisten. Und wenn Sie als Choreograph auch mit Ensembles wie dem Bayerischen Staatsballett, Stuttgarter Ballett oder Het Nationale Ballet Amsterdam gearbeitet haben, ist diese Organisationsform für Sie als Direktor doch neu.

Sicher werden sich meine Arbeiten dadurch verändern, dass ich stärker für einzelne Solisten gegenüber einer Gruppe choreographieren muss. Letztlich geht es aber nicht darum, sondern darum, ein gutes Stück zu machen. Zugleich ist es mir ein großes Anliegen, den Corps de ballet zu stärken. Eine Compagnie ist immer so gut wie ihre Basis. Man kann ein Ensemble nicht nur von der Spitze her denken. Natürlich sind die Solisten Ausnahmekünstler, aber es ist ein Fehler, zu meinen, es reiche, dass die Künstler oben sitzen. Wir brauchen diese auch bei den Halbsolisten und im Corps de ballet. Auch kleinere Rollen oder Gruppenauftritte haben eine große Bedeutung und Wirkung. Jeder in einer Compagnie wird gebraucht und ist wichtig. Das war eines der Geheimnisse des Stuttgarter Balletts unter John Cranko.

Sie werden den Spielplan zum einen mit Ihren eigenen Werken prägen, als Ballettdirektor haben Sie sich aber auch mit einem erstklassigen und in seiner Bandbreite einzigartigen Repertoire profiliert und wurden für Ihre Spielplangestaltung mehrfach ausgezeichnet.

Die sorgfältige und intelligente Auswahl der Gastchoreographen und des historischen Repertoires liegt mir sehr am Herzen. Ich möchte auch Handschriften zeigen, die mit dem Wiener Staatsballett noch nie oder lange nicht zu sehen waren. In meiner ersten Spielzeit ist es z.B. die Volksopern-Premiere Promethean Fire, in der erstmals Werke der beiden herausragenden American Modern Dance-Künstler Paul Taylor und Mark Morris zu sehen sein werden; für die zweite Staatsopern-Premiere Tänze, Bilder, Sinfonien konnte ich Alexei Ratmansky – einen der großen, weltweit gefeierten Stars des zeitgenössischen Balletts – für Wien gewinnen und spreche derzeit mit ihm über eine weitere Zusammenarbeit. Dies und vieles andere ist für die Saison 2020/21 der erste Ansatz einer Schraube, an der ich in den kommenden Jahren weiter drehen möchte, um für unser Publikum und die Tänzerinnen und Tänzer das Wiener Staatsballett zu einem Zentrum der internationalen Ballett- und Tanzkunst in Europa weiter auszubauen.

Als Ballettdirektor gelten Sie auch als ein besonderer Ensemblegestalter …

… mich interessieren Künstler, die eine starke Persönlichkeit haben, die – natürlich mit allem Respekt, Wissen und Bewusstsein für den Stil der jeweiligen Werke – ihren Charakter zeigen, Interpreten sind, die in jedem Moment wissen, was sie tun und idealerweise zu einer vollkommenen Verkörperung einer Rolle finden. Daran mit meinen Tänzerinnen und Tänzern zu feilen, geben mir vor allem meine eigenen Werke den Spielraum. Ich werde mich aber auch in die Neueinstudierungen und die Pflege des Repertoires involvieren, das, was ich aus meiner eigenen Karriere als Tänzer und Ballettdirektor, meiner jahrelangen Lehrtätigkeit und dem intensiven Studium anderer Choreographen weiß, einbringen. Wir brauchen bei den Klassikern den Bezug von damals zu heute, wir müssen sie mit Leben und mit Körperlichkeit füllen. Gerade die alten Erzählballette, die Märchen erstarren so oft nur in Posen und transportieren dadurch nichts mehr von den ihnen zugrundeliegenden Archetypen.

Die Staatsopernsaison begann mit George Balanchines Jewels – eine Wiederaufnahme aus dem Repertoire von Manuel Legris.

Da ich für meine erste Kreation Probenzeit brauchte, konnte ich nicht direkt mit einer Premiere starten. Jewels ist ein Werk, das eine sehr große Besetzung integriert – also direkt einen Großteil der Company zum Tanzen bringt, und das in drei energetisch völlig unterschiedlichen Bildern, die sich zu einem großen abstrakten und doch äußerst sinnlichen abendfüllenden Ballett fügen. Jewels war ein wunderbarer Einstieg in die Saison, ein brillantes Tanzfest!

Balanchine war für Sie immer ein wichtiger Bezugspunkt. Welche Relevanz hat sein Werk für uns heute?

Eine große! Es liegt etwas unter diesen Stücken, was nach wie vor eine starke Wirkung hat und das Publikum weltweit immer noch euphorisiert. Seine Werke haben diese unglaubliche Noblesse und Schönheit, aber auch Humor, Sexyness, Coolness und eine ganz spezielle Sorglosigkeit, vorausgesetzt sie werden wirklich frei, mit Mut und Attacke – also von großen Interpreten – getanzt. Hinzu kommt seine Musikalität, sein Gespür für den Raum, für Strukturen und Architektur. Balanchine ist kein Choreograph, der bohrt, hinterfragt, in wirklich existenzielle Tiefen vordringt. Aber: Balanchine hat dem akademischen Tanz das Gefängnis genommen. Für seine Zeit war er völlig »outstanding« und ist auch heute noch ein Großer, dessen Schaffen in jede Ballettcompagnie gehört. Balanchine zu tanzen, tut einem Ensemble gut. Es spitzt nicht nur die Technik an, sondern fördert auch die künstlerische Ausdrucksfähigkeit. Ich freue mich sehr, in Wien nun auch die ganz großen Stücke zeigen zu können und werde mit Symphony in Three Movements meine zweite Staatsopern-Premiere im Juni 2021 eröffnen!

Wie wurde Ihre große Begeisterung für die amerikanische Neoklassik geweckt?

Ich war als Tänzer sehr viel in New York, habe dort intensiv trainiert. Vor allem einige Tänzerinnen des New York City Ballet wie Patricia McBride, Suzanne Farrell oder Darci Kistler haben mich sehr fasziniert mit ihrer ungewöhnlichen Freiheit und Weiblichkeit. Interpreten wie ihnen ist es gelungen, anstelle der Inhalte die Mittel des Tanzes zu erweitern und zu erhöhen. Sie tanzten Ballett, dies aber mit einer völlig ungewöhnlichen Modernität und Menschlichkeit. Aber auch die Tatsache, dass es gelingen kann, die ganz großen Häuser bis auf den letzten Platz nicht durch die Handlung eines Stückes, sondern durch puren Tanz zu füllen, hat mich fasziniert.

Ein anderer wichtiger Bezugspunkt ist für Sie Hans van Manen, der auch im Spielplan des Wiener Staatsballetts weiterhin eine zentrale Rolle spielen wird. Wie kam es zu dieser engen Verbindung?

Ich selbst habe nur zwei seiner Stücke getanzt: Große Fuge und Fünf Tangos. Aber Hans van Manen war zu meiner Tänzer-Zeit sehr oft in Basel, da Heinz Spoerli viele seiner Stücke programmiert und auch die Rolle des Falstaff für ihn kreiert hat. Mein persönlicher Kontakt entstand erst, als ich die Berner Ballettdirektion übernahm und ihn fragte, ob er mir seine Große Fuge anvertrauen würde. Ich hatte eigentlich gar nicht die Tänzer für dieses Stück, aber Hans van Manen sagte sofort sehr generös zu und wir konnten schließlich eine sehr schöne Einstudierung zeigen. Er schaute sich dann auch meine ersten Choreographien an, ermutigte mich immer wieder, weiterzumachen. Heute sind wir sehr gute Freunde und pflegen einen intensiven Dialog: Mit wenigen anderen kann ich über Kunst, Ballette-Machen, Ballerinen, Kolleginnen und Kollegen so sprechen wie mit Hans.

Hans van Manen hat in seinem Werk eine Sprache gefunden, die überall auf der Welt unmittelbar verstanden wird und zu berühren vermag. Wie gelingt ihm dies?

Seine Stücke sind fast alle Psychogramme, aber in ihrer Architektur von jedem Schnickschnack befreit. Kein Schritt ist bei Hans van Manen dazu da, um einfach nur etwas zu überbrücken. Jeder Schritt ist Träger von Emotion, hat ein »Untendrunter «. Es geht bei ihm immer um Ab- oder Zuwendung, das permanente Fragen »Bist Du OK oder bist Du es nicht?« – aber in einer derartigen Bandbreite, dass man sich an seinen Stücken nie sattsieht. Er hat ein ganz genaues Auge für die Menschen und ihre Bewegungen im Alltag. Er gewinnt sein Material aus dem Leben und macht daraus diese in ihrer konsequenten Reduktion so einzigartigen Ballette, in denen es ihm nur um das geht, was zwischen Menschen auf der Bühne passiert. Nie richten sich Hans van Manens Tänzer direkt an das Publikum. Immer bleiben sie unter sich – und daraus entsteht diese eigenartige Hermetik, das Geheimnisvolle seiner Stücke. Nachdem Paul Taylor gestorben ist, ist Hans van Manen der einzige große noch lebende Choreograph seiner Generation – und ich freue mich sehr, sein wunderschönes Repertoire