© Sasha Vasiljev

MARIE ist die pure Einsamkeit

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Es gibt von Adorno den bekannten Satz, dass Bergs Musik ein Bild des Verschwindens sei, eine Komplizität mit dem Tod habe. Das hat auch Regisseur Simon Stone zu Probenbeginn so ähnlich beschrieben. Empfinden auch Sie Wozzeck als ein laufendes Dunklerwerden ohne Ausweg?

Anja Kampe: Ja, das Stück zielt ohne Zweifel aufs Dunkle. Das ist im menschlichen und sozialen Leid Wozzecks unübersehbar, ebenso im Schicksal Maries. Aber auch in den Umständen, in denen das Kind aufwachsen muss. Diesem wird von Beginn an jede Chance genommen, aus dem tragischen Kreislauf auszubrechen. Das ist übrigens die konkreteste Aktualität: Wir erleben in unserer heutigen sozialen Realität nur zu oft, dass Kinder, die keine Chance auf Bildung haben, aus der Armutsfalle nur schwer herauskommen. Der Weg nach oben, oder zumindest hinaus aus dem Kreislauf, ist ja eine entsprechend gute Ausbildung. Ob das Kind in Wozzeck echte Chancen hat? Man muss auch um seine Zukunft bangen!


Lesen Sie Wozzeck also als kämpferischen sozialen Aufschrei? Oder soll die Oper unser Herz rühren?

Anja Kampe: Es ist beides, aber das hat die Sozialkritik ja so an sich. Wenn man sieht, wie die Menschen leiden, wenn man mitleidet, dann entspringt daraus oftmals eine Kritik, ein Wunsch und Wille, das zu ändern.


Mit Büchners Woyzeck beschäftigten Sie sich im Rahmen Ihrer vorwissenschaftlichen Arbeit zur Matura. Wie wichtig ist für Sie eine Kenntnis der außermusikalischen Quellen einer Oper?

Anja Kampe: Wenn man sich mit einer Oper befasst, dann muss man sich auch mit der Vorgeschichte befassen, mit den Vorlagen, deren Unterschieden, den Quellen und der wesentlichen Sekundärliteratur. Das ist für meine Arbeit ein ganz wichtiger Aspekt, dieses Nachforschen, Besprechen, Nachdenken, Austauschen. Mir geht es dabei um keine penible Vollständigkeit, sondern vor allem um eine grundlegende intensive Auseinandersetzung mit dem Umfeld eines Werks. Nur so kann man einen schärferen Einblick in die Beziehungsstrukturen und Persönlichkeitsschichten bekommen. All das Wissen befruchtet einen, macht die eigene Interpretation reicher.


Nun wirft das Verhältnis des Paares Marie-Wozzeck Fragen auf. Was bindet sie aneinander? Das gemeinsame Unglück?

Anja Kampe: Man weiß nicht, was die beiden eigentlich zusammenhält. Ist es vielleicht das Kind? Wozzeck und Marie sind wie zwei Ertrinkende, die sich aneinanderklammern, damit sie nicht untergehen. Ich frage mich immer wieder, was die beiden am Anfang füreinander empfunden haben? Von ihrer Seite war sicherlich Sympathie da, ob es aber auch Liebe gab? Jedenfalls im Moment wo wir die beiden zum ersten Mal zusammen sehen, wirkt er schon verhetzt und versponnen und sie kann zunächst nur hilflos darauf reagieren und in der Folge des Geschehens geht sie mit Wozzeck ja nicht mehr gut um, sie weist ihn geradezu ab und hält Distanz.


Vielleicht muss man annehmen, dass er ihr eine minimale soziale Sicherheit bieten kann und sie sich daher geradezu an ihn binden muss? In einer Gesellschaft in der, egal wie schlecht es um einen Mann bestellt ist, es seiner Frau noch schlechter geht.

Anja Kampe: Ich habe mich immer gefragt, warum sie keiner Beschäftigung nachgeht? Wahrscheinlich vor allem, weil sie das Kind hat. Sie ist ja beinahe eine alleinerziehende Mutter, weil Wozzeck kaum zu Hause ist. Vielleicht bleibt sie wirklich nur mit ihm zusammen, weil er sie – und das Kind – aushält? Vermutlich hat sie gar keine andere Chance? Ich glaube übrigens auch nicht, dass das Kind ein Wunschkind war. Denn auch dieses Verhältnis ist verschattet, etwa wenn sie ihm Angst macht. Andererseits liebt sie ihr Kind sicherlich – wohlgemerkt die kleine Person, nicht aber ihre Mutterrolle. Ohne Kind hätte sie ja wahrscheinlich andere Möglichkeiten, ihr Leben zu leben.


Und Wozzeck bemüht sich um sie?

Anja Kampe: Ja, das schon. Ich glaube, dass sie eine Art Anker für ihn ist. Gerade, weil es mit ihm den Bach runtergeht, psychisch als auch physisch. Er klammert sich an die Hoffnung, dass es mit ihm und seiner kleinen Familie besser werden könnte.


Wie alt ist Marie eigentlich? Womöglich treibt sie eine Art Torschlusspanik um – und daher begehrt sie den Tambourmajor?

Anja Kampe: Natürlich spielt das auch eine Rolle. Und: Sie ist eine Frau mit Bedürfnissen. Und da Wozzeck für diese offenbar nicht mehr taugt oder zur Verfügung steht, sucht sie sich einen anderen. Marie nimmt sich, was sie braucht. Sie prostituiert sich dabei ja nicht, sondern will einfach einen Mann haben und wenn der etwas mehr hermacht als Wozzeck – nur gut! So lässt sie sich vom Tambourmajor verblenden.


Aber ist es auch eine Flucht? Aus der Einöde ihres Lebens?

Anja Kampe: Klar, sie will raus aus dem grauen Alltag. Sie sucht nach einer Fluchtmöglichkeit aus ihrem tristen Schicksal.


Ist sie im Moment des Betrugs glücklich? Oder stört bereits da das schlechte Gewissen?

Anja Kampe: Es sind kleine Momente des Glücks, die sie sich stiehlt. An das große Glück – eine funktionierende, gute Beziehung mit dem Tambourmajor – glaubt sie ja nicht. So dumm ist sie nicht. Marie will einfach nur wieder einmal einen Moment, in dem sie sich als Frau und wieder begehrenswert fühlt. Da spielt es auch keine Rolle, ob sie den Tambourmajor sympathisch findet oder nicht. Er hat einen Status, er ist der Klischeetyp des starken Mannes. Und das schlechte Gewissen: Ich weiß nicht, ob sie wirklich Mitleid mit Wozzeck hat. Ich würde nicht völlig ausschließen, dass sie zuvor auch schon was mit anderen hatte.


Das bringt uns zu einer Kernfrage: Warum ist sie, wie sie ist? Weil sie keine anderen Chancen hatte? Oder weil das einfach ihre Art ist? Vielleicht ist sie einfach ein mittlerer Mensch, wie viele andere.

Anja Kampe: Viele Chancen hatte sie sicher nicht, aber sie ist einfach eine Person mit Schwächen und mit Wünschen. Eine, die wahrscheinlich in einem ähnlich kargen Umfeld aufgewachsen ist wie Wozzeck und womöglich nichts anderes als diese bedrückende, leidvolle Welt kennt. Für mich ist sie Opfer und Täterin in einem. Sowohl Wozzeck als auch dem Kind gegenüber.


Wozzeck gehört, obwohl Mörder, in seinem Leid unser Mitgefühl. Marie auch?

Anja Kampe: Absolut. Weil man sie aus ihrer ausweglosen Situation heraus begreift, auch in ihrer Sehnsucht nach Glück. Wobei es mehr Empathie als Sympathie ist. Man empfindet mit ihr mit. Man hat Mitleid. Und man muss ihr zugutehalten, dass sie niemanden manipuliert oder benutzt. Sie ist nicht böse an sich. Sondern verzweifelt, schwach, sehnsuchtsvoll. Eben: Ein Mensch wie viele. Den Kontrast bilden der Doktor, der Tambourmajor und der Hauptmann: das sind reine Typen, die nichts Berührendes an sich haben, sondern nur eine Funktion erfüllen – daher haben sie ja auch keine Namen.


Wie spannend ist für Sie diese Figur in ihren Entwicklungsmöglichkeiten? Marie ist ja relativ festgelegt in ihren Motivationen, Handlungen.

Anja Kampe: Das sehe ich nicht so. Ich finde schon, dass sie ein vielschichtiger Mensch ist, der sich Gedanken macht, sich mit der Bibel hinsetzt und übers Leben nachdenkt, über das Richtige und Falsche. Da hat sie schon viele Facetten. Besonders auffällig empfinde ich, dass Marie tatsächlich niemanden hat, keine Freundin, keine Vertrauensperson, der sie sich anvertrauen könnte. Sie ist die pure Einsamkeit.


Zuletzt tötet Wozzeck Marie. Ist das ein Femizid?

Anja Kampe: Natürlich, denn bei diesem Mord spielt die enttäuschte Männlichkeit eine große Rolle. Es geht meiner Meinung nach nicht nur darum, dass er niemanden außer Marie hat und er sie durch ihren Betrug verliert. Denn immer noch bliebe ihm das Kind als letzte Bezugsperson. Sondern es geht auch darum, dass er von allen gedemütigt, beschämt und schlecht behandelt wird und es an einer schwächeren Person – Marie – auslässt. Es ist nicht ein Mord an einer nahestehenden Person, sondern ein Mord an einer Frau, die ihm unterlegen ist. Es geht also auch um das Frau-Sein an sich. Und das macht Wozzeck, weil wir vorhin von Mitgefühl sprachen, klein und nimmt ihm die Sympathie. Auch wenn er aus einer Hilflosigkeit heraus handelt. Er spricht die Sprache der Gewalt, die er als einzige Lösung für seine Probleme sieht.