Macmillan | MacGregor | Ashton
Von Vätern und Söhnen.
"Je älter ich werde, desto mehr spüre ich mich dem Werk meines Vaters verpflichtet und desto stärker wird in mir das Gefühl, dass ich möglichst viele Menschen an dieser Musik teilhaben lassen sollte“, hielt der 1938 geborene Dirigent und Pianist Maxim Schostakowitsch bei einem Interview im Jahr 2006 für das Klassik & Jazz Magazin Rondo fest. „Viele Werke – Lieder, Filmmusiken und etliches mehr – entstanden, weil wir ganz einfach überleben mussten. Mein Vater hatte eine Familie zu ernähren, eine Frau, meine Schwester und mich, und so übernahm er fast jeden Auftrag, der ihm angeboten wurde“, stand da u.a. weiter zu lesen sowie „Ich habe keine wirklichen Lieblingswerke. Das liebste Werk meines Vaters ist mir das, an dem ich gerade arbeite.“
1957 war dies wohl das zweite Klavierkonzert in F-Dur, op. 102; ein Stück, welches Dmitri Schostakowitsch (1906 bis 1975) nicht nur für seinen Sohn zu dessen 19. Geburtstag geschrieben hatte, sondern das Schostakowitsch junior bei seiner Abschlussprüfung am Moskauer Konservatorium zugleich uraufführte.
Seitdem gilt das Werk als ein besonders „warmer“, gar „unbeschwerter“ Moment in Schostakowitsch’ Œuvre, wobei der Mittelsatz geradezu zärtliche Töne anschlägt. Die darin ausgegossene Stimmung wie die langgezogenen Phrasen des Andantes fanden neun Jahre später ihre erste choreographische Umsetzung, als Sir Kenneth MacMillan (1929 bis 1992) – damals Ballettdirektor der Deutschen Oper Berlin – das Klavierkonzert zur Grundlage „technischer Etüden“ für sein dortiges Ensemble erklärte. Die Inspiration für den Mittelsatz erwuchs ihm dabei aus Dehnübungen der Ballerina Lynn Seymour (geb. 1939), wobei dieser in späterer Folge eine solche Popularität erlangte, dass er für sich alleine stehend auch häufig als Pas de deux zur Aufführung kommt und in dieser isolierten Form als eine sehr effektive „Gala-Nummer“ gilt.
So intensiv sich das Verhältnis im realen Leben zwischen Vater und Sohn Schostakowitsch gestaltet, so tragisch wirkt es im Falle der Fiktion: Zu spät kommt der Vater im Laufe der Handlung des von Sir Frederick Ashton (1904 bis 1988) choreographierten Balletts Marguerite and Armand zur Einsicht; als er sein Eingreifen in die Beziehung zur „Kameliendame“ enthüllt, ist es bereits zu spät, und sie stirbt in den Armen des verzweifelten Sohnes.
Ließen sich derartige Ereignisse, gleich ob fiktiv oder real, vermeiden, ändern sich zwischen- menschliche Beziehungen und das Verständnis füreinander, sowie man das Erbgut künstlich verändert? Fragen dieser Art wirft EDEN | EDEN auf, dessen Choreograph Wayne McGregor (geb. 1970) den Körper als „lebendes Archiv“ begreift.
Wer immer möchte, kann auch den dreiteiligen Ballettabend des Wiener Staatsballetts als ein solches sehen: In der Weitergabe von Vätern zu Söhnen, der Abfolge von Generationen, die sich auch in der Altersstruktur der in der Werkfolge vertretenen Choreographen widerspiegelt, realisiert sich jene „Oral History“, die für den klassischen Bühnentanz, der zahlreichen Notationssystemen und der Verwendung multimedialer Verfahren zum Trotz immer noch zum größten Teil auf die unmittelbare Methode des „Vorzeigens und Nachahmens“ als Mittel seiner Weitergabe vertraut, so ungemein typisch ist. „Wie schon Mnemosyne die Mutter der neun Musen war“, schreibt der deutsche Aphoristiker Peter Rudl, „so ist Gedächtnis der Schoß aller Kunst.“
Oliver Peter Graber
MACMILLAN | MCGREGOR | ASHTON
7., 16., 21. Juni 2019