LOTTES KINDER
Informationen & Karten »Werther«
Jules Massenets Drame lyrique Werther ist ab 19. November wieder an der Wiener Staatsoper zu erleben. Ein Herzstück des Werks sind die Kinderchorszenen, genial erfunden von Massenet und seinen Librettisten. In der Vorlage, Johann Wolfgang von Goethes »Die Leiden des jungen Werthers« sind die Szenen nicht direkt enthalten – und doch finden sich dort ihre Ursprünge.
»Eine derart wilde, verzückte Leidenschaft trieb mir die Tränen in die Augen. Diese aufwühlenden Szenen, diese fesselnden Bilder – Was musste das alles hergeben! Das war Werther! Das war mein 3. Akt.« Jules Massenet war sichtlich außer sich nach der Lektüre der französischen Übersetzung von Johann Wolfgang von Goethes Die Leiden des jungen Werthers, die ihm sein Librettist Georges Hartmann gegeben hatte. Der erst fünfundzwanzigjährige Goethe hatte in seinem Briefroman das Lebensgefühl der jungen Autorengeneration des Sturm und Drang auf den Punkt und ins Bild gebracht: Impulsive Emotionen, leidenschaftliche Kompromisslosigkeit in der Liebe wie in der Suche nach dem wahren, dem unmittelbaren künstlerischen Ausdruck. Die Geniefigur und ihr unausweichliches tragisches Ende – ein idealer Opernstoff.
Goethes Jugendwerk vermittelte aber nicht nur das atemlos getriebene Lebensgefühl des Sturm und Drang, es verbreitete auch dessen Programmatik. Was Goethe in angeblich knapp sechs Wochen niederschrieb war dabei das, was ihn selbst unmittelbar beschäftigte, emotional wie künstlerisch. Die unglücklichen Lieben zu Charlotte Buff und Maximiliane von LaRoche und der Selbstmord von Goethes
Bekanntem Karl Wilhelm Jerusalem haben unmittelbaren Eingang in das Werk gefunden; aber auch die Begeisterung für die Natur und die Faszination für das Leben der »einfachen Leute«, die Werther mit so viel Nachdruck bespricht, waren Themen, die den jungen Goethe besonders beschäftigten und deren Schilderung ihm wohl auch deshalb so wunderbar gelang. Es sind typische Themen der Stürmer und Dränger, die sich, unter anderem von Jean-Jacques Rousseaus Schriften beeinflusst, auf die Suche nach dem Ungekünstelten, »Unverdorbenen« in der menschlichen Existenz begaben.
Im Werther findet Goethe für diesen programmatischen Themenkomplex atmosphärisch starke Bilder, die zugleich eine wichtige Funktion in der Dramaturgie des Romans übernehmen. Wie Goethes eigene
Angebetete Charlotte Buff hat die Lotte im Roman zahlreiche Geschwister, um die sie sich kümmert. An ihnen und an den Kindern des Dorfes erzählt Goethe ein Ideal der Unschuld. In verschiedenen Stadien des Romans verwendet er es, um die Figur der Lotte mit mütterlichen Zügen zu versehen, um das schwere Leben einfacher Leute noch deutlicher zu illustrieren, um grundlegende Plädoyers für das Kindliche
zu formulieren.
Jules Massenet und seine Librettisten Edouard Blau, Paul Milliet und Georges Hartmann gestalten diese atmosphärisch wie programmatisch wichtigen Szenen aus Goethes Werk dramatisch weiter und kommen so zu einem bemerkenswerten Element in der Dramaturgie der Oper Werther. »Lottes Kinder«, wie Werther sie im Roman wiederholt nennt, bilden den Kinderchor, der schon im Sommer das Lied von der Geburt Jesu Christi einstudiert. Das Sujet des nahenden Weihnachtsabends, das auch in Goethes Briefroman bedeutsam ist, wird dadurch stark aufgewertet, die Kinder werden unmittelbar mit dem neugeborenen Christuskind in Zusammenhang gesetzt. Am Schluss der Oper liegt ihr Lied über der Szene, in der Werther in Lottes Armen stirbt.
Die wirksame Weiterentwicklung und auch die inhaltliche Entscheidung für Kinderchor und Weihnachtslied ist Massenet und seinen Librettisten zuzuschreiben. Die gedankliche Anlage findet sich in den Kinderszenen in Die Leiden des jungen Werthers.
Den 17. Mai
Noch gar einen braven Mann habe ich kennen lernen, den fürstlichen Amtmann, einen offenen, treuherzigen Menschen. Man sagt, es soll eine Seelenfreude sein, ihn unter seinen Kindern zu sehen, deren er neun hat; besonders macht man viel Wesens von seiner ältesten Tochter. Er hat mich zu sich gebeten, und ich will ihn ehster Tage besuchen. Er wohnt auf einem fürstlichen Jagdhofe anderthalb Stunden von hier, wohin er nach dem Tode seiner Frau zu ziehen die Erlaubnis erhielt, da ihm der Aufenthalt hier in der Stadt und im Amtshause zu weh tat.
Am 27. Mai
Ich bin, wie ich sehe, in Verzückung, Gleichnisse und Deklamation verfallen und habe darüber vergessen, dir auszuerzählen, was mit den Kindern weiter geworden ist. Ich saß, ganz in malerische Empfindung vertieft, die dir mein gestriges Blatt sehr zerstückt darlegt, auf meinem Pfluge wohl zwei Stunden. Da kommt gegen Abend eine junge Frau auf die Kinder los, die sich indes nicht gerührt hatten, mit einem Körbchen am Arm, und ruft von weitem: »Philipps, du bist recht brav.« Sie grüßte mich, ich dankte ihr, stand auf, trat näher hin und fragte sie, ob sie die Mutter von den Kindern wäre. Sie bejahte es, und indem sie dem ältesten einen halben Weck gab, nahm sie das kleine auf und küßte es mit aller mütterlichen Liebe. »Ich habe«, sagte sie, »meinem Philipps das Kleine zu halten gegeben und bin mit meinem Ältesten in die Stadt gegangen, um Weißbrot zu holen und Zucker und ein irden Breipfännchen.« [...]
Ich sage dir, mein Schatz, wenn meine Sinne gar nicht mehr halten wollen, so lindert all den Tumult der Anblick eines solchen Geschöpfs, das in glücklicher Gelassenheit den engen Kreis seines Daseins hingeht, von einem Tage zum andern sich durchhilft, die Blätter abfallen sieht und nichts dabei denkt, als daß der Winter kommt.
Seit der Zeit bin ich oft draußen. Die Kinder sind ganz an mich gewöhnt, sie kriegen Zucker, wenn ich Kaffee trinke, und teilen das Butterbrot und die saure Milch mit mir des Abends. Sonntags fehlt ihnen der Kreuzer nie, und wenn ich nicht nach der Betstunde da bin, so hat die Wirtin Ordre, ihn auszuzahlen.
Sie sind vertraut, erzählen mir allerhand, und besonders ergetze ich mich an ihren Leidenschaften und simpeln Ausbrüchen des Begehrens, wenn mehr Kinder aus dem Dorfe sich versammeln.
Viel Mühe hat michs gekostet, der Mutter ihre Besorgnis zu nehmen, sie möchten den Herrn inkommodieren.
Am 16. Junius
[…] Ich war ausgestiegen, und eine Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen Augenblick zu verziehen, Mamsell Lottchen würde gleich kommen. Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich
die vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei Jahren um
ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid mit blaßroten Schleifen an Arm und Brust anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem
sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gabs jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein: »Danke!« indem es mit den kleinen Händchen lange in die Höhe gereicht hatte, ehe es noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrote vergnügt entweder wegsprang oder nach seinem stillern Charakter gelassen davonging nach dem Hoftore zu, um die Fremden und die Kutsche zu sehen, darin ihre Lotte wegfahren sollte. »Ich bitte um Vergebung«, sagte sie, »daß ich Sie hereinbemühe und die Frauenzimmer warten lasse. Über dem Anziehen und allerlei Bestellungen fürs Haus in meiner Abwesenheit habe ich vergessen, meinen Kindern ihr Vesperbrot zu geben, und sie wollen von niemanden Brot geschnitten haben als von mir.« […]
Am 29. Junius
Vorgestern kam der Medikus hier aus der Stadt hinaus zum Amtmann und fand mich auf der Erde unter Lottens Kindern, wie einige auf mir herumkrabbelten, andere mich neckten, und wie ich sie kitzelte und ein
großes Geschrei mit ihnen erregte. Der Doktor, der eine sehr dogmatische Drahtpuppe ist, unterm Reden seine Manschetten in Falten legt und einen Kräusel ohne Ende herauszupft, fand dieses unter der Würde eines gescheiten Menschen, das merkte ich an seiner Nase. Ich ließ mich aber in nichts stören, ließ ihn sehr vernünftige Sachen abhandeln und baute den Kindern ihre Kartenhäuser wieder, die sie zerschlagen hatten. Auch ging er darauf in der Stadt herum und beklagte, des Amtmanns Kinder wären so schon ungezogen genug, der Werther verderbe sie nun völlig.
Ja, lieber Wilhelm, meinem Herzen sind die Kinder am nächsten auf der Erde. Wenn ich ihnen zusehe und in dem kleinen Dinge die Keime aller Tugenden, aller Kräfte sehe, die sie einmal so nötig brauchen werden, wenn ich in dem Eigensinne künftige Standhaftigkeit und Festigkeit des Charakters, in dem Mutwillen guten Humor und Leichtigkeit, über die Gefahren der Welt hinzuschlüpfen, erblicke, alles so unverdorben, so ganz! – immer, immer wiederhole ich dann die goldenen Worte des Lehrers der Menschen: Wenn ihr nicht werdet wie eines von diesen! Und nun, mein Bester, sie, die unseresgleichen sind, die wir als unsere Muster ansehen sollten, behandeln wir als Untertanen. Sie sollen keinen Willen haben! – Haben wir denn keinen? und wo liegt das Vorrecht? – Weil wir älter sind und gescheiter! – Guter Gott von deinem Himmel, alte Kinder siehst du und junge Kinder und nichts weiter; und an welchen du mehr Freude hast, das hat dein Sohn schon lange verkündigt. Aber sie glauben an ihn und hören ihn nicht, – das ist auch was Altes! – und bilden ihre Kinder nach sich und – Adieu, Wilhelm! Ich mag darüber nicht weiter radotieren.
[Der Herausgeber an den Leser]
Gegen zehn Uhr rief Werther seinem Bedienten, und unter dem Anziehen sagte er ihm, wie er in einigen Tagen verreisen würde, er solle daher die Kleider auskehren und alles zum Einpacken zurechtmachen; auch gab er ihm Befehl, überall Kontos zu fordern, einige ausgeliehene Bücher abzuholen und einigen Armen, denen er wöchentlich etwas zu geben gewohnt war, ihr Zugeteiltes auf zwei Monate vorauszubezahlen. Er ließ sich das Essen auf die Stube bringen, und nach Tische ritt er hinaus zum Amtmanne, den er nicht zu Hause antraf. Er ging tiefsinnig im Garten auf und ab und schien noch zuletzt alle Schwermut der Erinnerung auf sich häufen zu wollen. Die Kleinen ließen ihn nicht lange in Ruhe, sie verfolgten ihn, sprangen an ihm hinauf, erzählten ihm, daß, wenn morgen und wieder morgen und noch ein Tag wäre, sie die Christgeschenke bei Lotten holten, und erzählten ihm Wunder, die sich ihre kleine Einbildungskraft versprach. »Morgen!« rief er aus, »und wieder morgen! und noch ein Tag!« – und küßte sie alle herzlich und wollte sie verlassen, als ihm der kleine noch etwas in das Ohr sagen wollte. Der verriet ihm, die großen Brüder hätten schöne Neujahrswünsche geschrieben, so groß! und einen für den
Papa, für Albert und Lotten einen und auch einen für Herrn Werther; die wollten sie am Neujahrstage früh überreichen. Das übermannte ihn, er schenkte jedem etwas, setzte sich zu Pferde, ließ den Alten grüßen und ritt mit Tränen in den Augen davon.
WERTHER
19. / 22. / 25. / 29. November 2022
Musikalische Leitung Alejo Pérez
Inszenierung Andrei Şerban
Mit Dmitry Korchak / Julie Boulianne / Attila Mokus / Maria Nazarova / KS Hans Peter Kammerer / Andrea Giovannini / Jack Lee