© Lukas Gansterer

LIEBE in Bewegung

Barrie Kosky im Gespräch über seine »Figaro«-Inszenierung

Du hast
Le nozze di Figaro schon zwei Mal inszeniert und auch während der Proben gelegentlich davon gesprochen, vor allem von deinem Figaro an der Komischen Oper Berlin im Jahr 2005. In welcher Weise greifst du auf deine Erfahrungen zurück?

BARRIE KOSKY Ich mache Figaro zum dritten Mal, weil es eine meiner Lieblingsopern ist. Ich glaube überhaupt, dass man alle zehn bis 15 Jahre einen Figaro machen sollte. Bei meinem ersten Versuch in Australien war ich sehr jung, 21. Das firmiert unter Juvenilia – was hatte ich mit 21 über die Welt der Liebe zu sagen? Bei meinem Figaro an der Komischen Oper 2005 war ich zur Mitte der Probenzeit unglücklich, aber ich wusste auch, dass ich von dem Punkt, an dem ich angekommen war, nicht mehr umkehren konnte. Als ich die Inszenierung fertig hatte, wusste ich: Ich will das noch einmal machen. Jetzt denke ich, ich weiß, wie man dieses Stück inszenieren kann. Ich mache in London auch den Ring zum zweiten Mal, das beginnt im September dieses Jahres. Es ist eine wunderbare Sache – man kennt das Stück vom ersten bis zum letzten Takt sehr, sehr gut. Es ist eigentlich, als würde man einen alten Freund treffen. Und man denkt: Ich kenne dich. Schön, dich wiederzusehen.

Manchmal triffst du viele alte und neue Freunde in kurzen Abständen: Du arbeitest als vielbeschäftigter Regisseur an vielen Projekten zugleich. Es kann vorkommen, dass du an einem Wochenende mit Kostümbildnern und Bühnenbildnerinnen an drei verschiedenen Stücken in unterschiedlichen Entwicklungsstadien arbeitest, und am Montag früh ist dann wieder Figaro-Probe. Kommen die verschiedenen Projekte einander dabei manchmal in die Quere?

BARRIE KOSKY Es ist etwas in meinem Gehirn oder in meiner Arbeitsweise, ich weiß nicht genau, was – aber ich habe seit Beginn meiner Karriere nie ein Problem gehabt, gleichzeitig unterschiedliche Inszenierungen zu entwickeln und daran zu arbeiten. Nicht gleichzeitig umzusetzen – man probt nicht gleichzeitig, das ist zu schwierig. Aber das Arbeiten an verschiedenen Projekten geht gut, weil auch die jeweiligen Arbeiten unterschiedlich sind. Ich vergleiche das immer mit einer Küche in einem Restaurant. Wenn man dort Koch ist, dann hat man verschiedene Töpfe auf dem Herd: Das eine kocht langsam, es braucht noch fünf Stunden; etwas anderes muss zwanzig Minuten köcheln, hier hat man vielleicht Eier, die muss man jetzt schnell und frisch kochen. Bei den unterschiedlichen Inszenierungen ist es genauso. Etwas steht ganz hinten auf dem Herd – das kommt in zwei, drei, vier Jahren. Dann gibt es Sachen, die nächstes Jahr kommen, die kochen schon. Und dann bereite ich etwas frisch zu, das ist die aktuelle Inszenierung. So funktioniert das. Und dazu kommt, dass ich mich in zwei Aspekten meiner Arbeit von vielen meiner Kollegen unterscheide. Erstens arbeite ich durch viele Genres hindurch – Oper, Operette, Musical. Momentan bereite ich eine große Neuinszenierung des Musicals Chicago für die Komische Oper in Berlin vor. Das ist so weit von Figaro entfernt, oder vom Rheingold, das ich für meine Ring-Inszenierung in London vorbereite.

Stellst du dir deinen Produktionskalender auch so zusammen, dass sich verschiedene Genres abwechseln?

BARRIE KOSKY Ja, darauf achte ich. Und dazu kommt der zweite Punkt, nämlich dass ich immer verschiedene Teams habe, also nicht immer mit den gleichen Leuten für Bühne, Kostüm und Licht zusammenarbeite. Es wäre unmöglich für mich, immer mit denselben Leuten zu arbeiten. Und ehrlich gesagt: Natürlich muss man vorbereiten, aber der Hauptteil meiner Arbeit liegt im Proberaum. Diese Prozesse sind sehr instinktiv, sie funktionieren in Reaktion auf den Raum und auf die Darsteller. Mein Konzept kommt in der Personenführung zum Ausdruck, und darum offenbart sich die Inszenierung tatsächlich erst im Proberaum. Wenn ich beginne und ich weiß: Das wird die Inszenierung – welchen Sinn hat es, zu proben? Das macht mir keinen Spaß.

Du hast in der Konzeptionsphase deiner Inszenierung einmal gesagt, in Le nozze di Figaro geht es zuallererst um zwei Fragen: Die nach der Zeit und die nach dem Raum. Das wirkt auf den ersten Blick wie eine formale Konzeption, ist aber das Gegenteil: Bei den Fragen nach Raum und Zeit geht es sofort darum, wer über beides in welcher Weise verfügen kann. Ein sehr aktuelles Werk?

BARRIE KOSKY Unbedingt, in verschiedener Hinsicht. Zeit und Raum sind unheimlich wichtige Aspekte von Le nozze di Figaro, auch im Unterschied zu den beiden anderen Zusammenarbeiten von Da Ponte und Mozart, Don Giovanni und Così fan tutte. In Don Giovanni gibt es Angaben über Innen und Außen, aber es hat nichts damit zu tun, wie das Stück verläuft. Così fan tutte ist eine Abstraktion und ein Laboratorium, der Raum hat nichts mit der Interaktion zwischen den sechs Figuren zu tun. Le nozze di Figaro kann man nicht inszenieren, ohne sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Was die Räume für eine Bedeutung haben, wird schon in den ersten paar Minuten klar: Der Raum, den Figaro und Susanna bewohnen sollen, dieser Zwischenraum, ist ein Geschenk des Grafen. Und es ist ein Raum, in den permanent eingedrungen wird – wie auch in den Raum der Gräfin, den wir im zweiten Akt sehen. Dieser Raum ist eigentlich ihr privater Ort, niemand außer Susanna hat dort etwas zu suchen. Aber alle dringen ständig in diesen Raum ein. Niemand respektiert ihre Grenzen.

Das heißt, die Verhältnisse zwischen den beteiligten Personen können wir an den Räumen schnell verstehen, und auch daran, wie von wem mit welchem Raum umgegangen wird.

BARRIE KOSKY Richtig, und genau deshalb ist so genial, was im vierten Akt geschieht. Dieser Akt spielt in einem Garten oder in einem Wald. Wir wissen von Shakespeare, aus dem Sommernachtstraum oder aus Wie es euch gefällt, und auch aus Märchen und aus der Mythologie, dass ein Garten oder ein Wald – vor allem am Abend – ein demokratischer Raum ist. Alles ist möglich, Status ist irrelevant. Man kann sich verkleiden, man kann Rollen einnehmen und tun, was man will. Alle Grenzen, die der Raum auferlegt, sind weg.

Die Zeit finden wir in Le nozze di Figaro schon im Untertitel: La Folle Journée, Der tolle Tag. Die Handlung lässt sich recht eindeutig auf 24 Stunden festlegen. Aber für die wichtigsten Figuren geht es auch über den Zugriff oder die Verfügbarkeit über Zeit. Figaro und Susanna können nicht frei über ihre eigene Zeit verfügen.

BARRIE KOSKY Daran sehen wir die hierarchische Struktur in dem Stück. Ich habe immer zu meinen Darstellern gesagt: Bitte denkt daran, dass Figaro und Susanna nicht mit dem Grafen und der Gräfin befreundet sind. Sie arbeiten für sie, sie müssen ihnen dienen. Vor allem im ersten Akt ist es wichtig, zu verstehen, dass alles, was passiert, an einem normalen Arbeitstag geschieht. Die Routinen und die Pflichten sind an ihrem Hochzeitstag nicht ausgesetzt. Status ist so wichtig in diesem Stück. Die Figuren bringen das ja auch ständig zum Ausdruck, auch die Gräfin: sie verteilt Aufgaben, gibt Befehle. Und das ist besonders wichtig, weil es in Mozarts und Da Pontes Zeit revolutionär war, dass sich eine Gräfin als ihre Dienerin verkleidet und eine Dienerin als Gräfin, und sie dann zusammen singen.

Die beiden befinden sich in einer Art Zwangsgemeinschaft. Dass es sich um keine Freundschaft handelt, wie du gesagt hast, wird auch explizit gemacht: Wir dürfen den Ausruf der Gräfin vor ihrer melancholischen Arie »Dove sono i bei momenti« nicht vergessen: Dass sie sich bei einer Dienerin Hilfe holen muss, ist eine unglaubliche Schmach für sie.

BARRIE KOSKY Und dabei müssen wir uns auch immer erinnern, in welcher Zeit Beaumarchais das Stück geschrieben hat: Das war der Anfang vom Ende für diese aristokratischen Figuren. Natürlich nicht für Leute, die Macht haben und sie missbrauchen. Die Aristokraten von heute sind Leute mit Geld.

Dass sich die Zeit ändert, zeigt sich aber auch in einem anderen Sinn an der Art, wie die Gräfin gezeichnet ist. Ihre Sentimentalität lässt schon die Epoche der Empfindsamkeit erkennen – eigentlich eine bürgerliche Frauengestalt.

BARRIE KOSKY Die Gräfin hat vor allem eine Reihe von First-World-Problems, aber es stimmt, ihre Melancholie hängt mit dieser Idee von Liebe zusammen. Im dritten Teil von Beaumarchais’ Figaro-Trilogie, La mère coupable, hat dann ja alles noch einmal eine andere Entwicklung genommen: Dort hatten der Graf und die Gräfin beide Geliebte, die Gräfin hatte eine Beziehung mit Cherubino, der inzwischen gestorben ist – sie haben dort gewissermaßen eine offene Ehe in bester aristokratischer Tradition. Aber das hilft uns für Le nozze di Figaro nicht, und wir brauchen es auch nicht. Denn Da Pontes besondere Fähigkeit ist hier, dass es ihm gelingt, einen geschlossenen Kosmos zu entwerfen: Eine ganz besondere Welt mit Regeln, Status und Hierarchie, die eine Metapher auf die ganze Welt ist. Diese Fähigkeit verbindet ihn mit Shakespeare und Tschechow, etwa im Sommernachtstraum und im Kirschgarten. Diese Stücke entwerfen in so unglaublicher Weise eine Metaphorik für die Welt. All die Beziehungen zwischen den Figuren – dieser Mikrokosmos in seiner detaillierten Alltäglichkeit hat mehr über die Welt zu sagen als große Abstraktionen.

Der Graf ist eine Figur, die nicht einfach zu inszenieren ist. Als egoistische, triebgesteuerte Männerfigur kann er leicht eindimensional werden. Wie denkst du über die Figur?

BARRIE KOSKY Der Graf ist der Grund, warum wir uns in der Geschichte überhaupt in dem Dilemma befinden, aus dem sie besteht. Und wir befinden uns damit auch wieder in unserer Welt. Wenn man sich eine toxische weiße Maskulinität vorstellen will, die sagt: Ich will etwas, also nehme ich es mir, darauf habe ich ein Recht – man muss kein Ritual aus dem 18. Jahrhundert bemühen, um das zu erzählen. Aber der Graf ist nicht Jeffrey Epstein oder Harvey Weinstein.

Wer ist der Graf?

BARRIE KOSKY Was der Graf in dem Stück will und macht, ist unerträglich. Aber es ist unerträglich innerhalb der Struktur einer Komödie. Das bedeutet: Jeder weiß es. Und jeder arbeitet daran, ihn zu erniedrigen – mit Erfolg. Der »trial of humiliation« für den Grafen ist ja das, was das ganze Stück hindurch vorbereitet wird und worauf es hinausläuft. Und darüber lachen wir ja auch: Wir freuen uns an der Rache, die die anderen Figuren bekommen. Was uns in dem Stück an dem Grafen interessiert, sind die Gefühle, die er bei anderen auslöst – der Schmerz der Gräfin, Susannas Angst, Figaros Wut.

Was ist dein Resümee zum Stück? Gibt es eine Pointe über die Liebe, die uns heute noch betrifft?

BARRIE KOSKY Was Figaro so stark macht, ist, dass Liebe nicht beschrieben, sondern praktiziert wird: Liebe als Verb. Die Charaktere singen nicht so viel über Liebe, außer Cherubino. Figaro und Susanna zeigen ihre Liebe eher, als dass sie sie reflektieren würden. Bei der Gräfin sieht man nur den Schmerz, den die Liebe zu ihrem Mann jeden Tag verursacht. Was wir sehen, ist, dass Liebe nicht statisch ist, sondern in Bewegung bleibt, sich vielleicht auch völlig verändert. Marcellina ist dafür das allerbeste Beispiel: Sie will Figaro als Liebhaber. Dann kommt es im dritten Akt zur Enthüllung, plötzlich sind wir wie in einer Ödipus-Geschichte, und dann muss sie innerhalb von ein paar Takten ihre Liebe transformieren, von »Das ist mein zukünftiger Mann« zu »Das ist mein verlorenes Kind«. Das perfekte Beispiel für Liebe in Bewegung.

Wie steht es um Liebe und Verzeihen? Die Gräfin vergibt dem Grafen am Ende – auch musikalisch. Ist das ein absoluter Liebesbeweis oder die völlige Kapitulation?

BARRIE KOSKY Ich habe einmal gelesen, dass der Halbtonschritt, den wir beim Grafen hören – hier ist es Ais auf H – bei Mozart immer ein Zeichen für Untreue ist. Der Graf bittet in einem Augenblick von Scham und Schock um Verzeihung. Er wünscht sich in dem Moment aufrichtig, dass die Gräfin ihm vergibt. Aber zumindest sein Unbewusstes weiß, dass er nicht treu bleiben wird. Vielleicht ist die Musik hier so zu verstehen. Die Musik der Gräfin hat keine solchen Momente, ihre Vergebung ist ehrlich. Aber ich denke nicht, dass hier wirklich Vergebung als vollkommene Lösung geschieht. Ich denke, sie vergibt ihm im Moment, aber sie sagt: »Ich vergebe dir noch einmal.« Ihr ganzes Leben ist eine Serie von Vergebungen gewesen.

Ist das die letzte Vergebung, die sie gewährt?

BARRIE KOSKY Wer weiß? Wer weiß, was sie am nächsten Morgen beim Aufwachen denkt. Für mich ist sie in einer unendlichen Krise gefangen. Die Ehe ist eine Katastrophe. Das macht es auch sehr echt und sehr modern: Sie kommt nicht aus dieser Schleife heraus. Und dieser Schmerz, die Melancholie, wenn ihre Vergebung vom Ensemble leise wiederholt wird. Das fröhliche Ende folgt darauf wie eine Coda. Aber nicht alle sind glücklich.