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© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

La Sonnambula – Die Oper mit angehaltenem Atem

Wer in die Oper geht, um einen Bellini zu hören, freut sich meist auf schöne Melodien, bravouröse Koloraturen, einige rührende Momente – und den guten Rotwein beim Italiener danach: So lang dauert das Stück ja nicht. Doch wenn der Mantel abgegeben, Bekannte gegrüßt und der Platz gefunden ist, einem während der Ouvertüre noch durch den Kopf schießt, ob man das Auto auch wirklich abgeschlossen hat, dann macht sich unvermutet bei den ersten gesungenen Tönen ein Ernst, eine Eindringlichkeit breit, die so gar nicht zu den circensischen Erwartungen passt, die man gemeinhin an eine Belcanto-Oper heranträgt. Und wenn dann, in La sonnambula, Amina auftritt und wie neben sich stehend ihre ersten Worte an die erwartungsvolle Dorfgemeinschaft richtet, dann scheint ein Geheimnis aufzublühen, eine neue Dimension sich aufzutun, und man fragt sich: Wie macht der das? Was macht Bellini hier mit uns? Mit diesen paar Noten? Und in dieser noch völlig undramatischen Situation?

Dem Autor dieser Zeilen geht es jedenfalls so, jedes Mal, wenn er Norma, I Capuleti e i Montecchi oder eben La sonnambula hört. Im Verlauf der Stücke, wenn sich die Handlung zuspitzt und die Emotionen der Figuren sich intensivieren, verstärkt sich dieser Eindruck, und neue Fragen drängen sich auf, denn oft nutzt der Komponist gerade in den berührendsten Momenten erstaunlich heitere Melodien, dezent schwungvolle Phrasen, die einen, wenn man sie auf der Straße pfeift, unweigerlich als einen besonders gut gelaunten Zeitgenossen erscheinen lassen. Hier aber, im Theater, ist man bei denselben Tönen zu Tränen gerührt. Bellini entlässt einen nie, auch bei den Koloraturen, in ein simples »Ach, das hat Frau X ja jetzt besonders hübsch gesungen«; nein, man ist immer emotional unmittelbar angesprochen, »berührt« im wörtlichen Sinne, und dieses Berührtsein scheint sich fast unabhängig vom Charakter der gerade erklingenden Musik einzustellen. Nun geht es ja in der Oper grundsätzlich darum, durch Text, Musik und Bühne eine hohe emotionale Ansprache zu erreichen. Sei es um der Emotion selbst willen, sei es, um mit ihrer Hilfe dem Zuschauer eine weitergehende Bedeutungsebene nahezubringen. Gerade das 19. Jahrhundert lässt sich darüber definieren, dass immer neue, ausgefeiltere (allerdings nicht immer subtilere) Mittel ersonnen werden, dieses Ziel zu erreichen. Puccini ist in Italien sicher ein eindrucksvoller Schlussstein dieser Entwicklung.

Doch während bei Puccini – und auch vor ihm, bei Verdi – Handlung, Text, Orchester und vokale Linie in eins gesetzt werden, um in höchster gemeinsamer Intensität den emotionalen Impakt herzustellen, verfährt Bellini grundsätzlich anders. Das Orchester ist ganz auf rhythmisch-harmonische Impulsgebung reduziert, gerade noch, dass es die Incipits der Gesangsnummern intoniert und im Tutti die Hauptstimme verdoppelt. Keine hervortretende Nebenstimme, die unausgesprochene Gefühle der Figur auf der Bühne verraten würde. Keine raffinierten Klanggewebe um atmosphärische Suggestivität zu erreichen. Nur das nackte Gerüst, das Koordinatensystem, in dem die weitschwingenden Melodiebögen der Sänger ihren Bezugspunkt finden.

Und die vokale Linie? Unzweifelhaft der Mittelpunkt der Ästhetik Bellinis, unbestritten meisterhaft in ihrer Balance zwischen delicatezza und Eindringlichkeit, zwischen klarer Gliederung und mäanderndem Melisma. Doch was macht sie aus? Was hebt sie heraus aus der belcantistischen Meterware vieler seiner Zeitgenossen?

Die scheinbare Inadäquatheit vieler Melodiecharaktere Bellinis zur aktuellen emotionalen Situation ist auffällig. Zwar ist sie einfach erklärbar aus Usancen der italienischen Oper seiner Zeit, doch bei der Wahrhaftigkeit und Treue, mit der er den Gefühlen seiner Personen nachgeht, sollte man meinen, gerade dieses Erbe zu überwinden sei ein wichtiges Anliegen Bellinis. Doch abgesehen vom bewussteren Umgang mit Koloraturen und harmonischen Schattierungen schafft er den zeittypischen Melodietypus nicht ab, sondern horcht nur noch genauer in ihn hinein. Und gerade dieses Hineinhorchen, das Immer-Genauer-Werden im Umgang mit dem Melos scheint mir einen Erklärungsversuch des »Phänomens Bellini« zu ermöglichen. Bellini hört nämlich nicht einfach darauf, wie eine Melodie beschaffen ist, sondern darauf, was sie mit der Stimme macht. Der an typisierte Muster angelehnte Beginn der Melodie schafft eine Vertrautheit, die das Ohr sofort weg von den Noten auf das Wie des Gesungenwerdens lenkt, und wenn der Hörer erst einmal dort ist, quasi direkt an den Stimmbändern der Sängerin und nicht bei den Noten, die gerade interpretiert werden, dann ist ein nahezu physischer Kontakt hergestellt, bei dem sich die Emotionen unterhalb der Schwelle des Intellekts fast osmotisch übertragen.

Diesen Kontakt lässt Bellini nie abreißen, zur Aufrechterhaltung dient ihm die wiederholungsarme, aber variantenreiche Fortspinnungstechnik seines Melodiebaus. Wo die Zielpunkte liegen, wie sie umspielt, verzögert und verschoben werden und damit auch den Schwerpunkt des Hörers zum Schweben bringen, welche psycho-physische Spannung eine bestimmte Höhenlage erzeugt, indem der Hörer die Energie mitempfindet, die der Sänger dafür aufwendet: das sind viel eher die entscheidenden Parameter als die Überschaubarkeit und Geschlossenheit der Melodie an sich, und an diesem Punkt wird es auch fast unerheblich, um welche Melodie es sich handelt.

Diesem Gedankengang scheinen zum Beispiel die Skizzen Bellinis zu seinen Opern zu widersprechen, in denen er ja gerade diese Melodien entwirft. Aber ich glaube, dass bei aller Schönheit und Eleganz seiner Linien das eigentliche Ziel seiner Bemühungen die hier umschriebene osmotische Qualität des Gesanges selber darstellt.

An das Horchen, das Wahrnehmen der Entstehung des Gesanges, schließt sich eine interessante Beobachtung bezüglich La sonnambula an. Fast alle Umschwünge des Handlungsverlaufs werden in diesem Werk dadurch eingeleitet, dass die Personen, die sich bereits auf der Szene befinden, die Geräusche der erst im Ankommen Begriffenen hören. Das Horchen ist also elementarer dramaturgischer Faktor in diesem Werk, und vielleicht macht es gerade den besonderen Nimbus der Nachtwandlerin aus, dass sich das erspürende Horchen des Zuschauers mit dem Horchen der Figuren auf der Szene unterschwellig kurzschließt. Die einzige Figur, die immer ungehört auf der Szene erscheint, ist Amina. Sie ist einfach da, wie eine Erscheinung, und es ist kein Zufall, dass ihr Schlafwandel von den Dorfbewohnern für das Auftauchen eines Gespenstes gehalten wird, denn »normale« Menschen kündigen sich in diesem Stück akustisch an. Amina hingegen hält geräuschlos die Zeit an. Bei ihren Auftritten nimmt Bellini jegliches Tempo aus Musik und Szene, jeder einzelne Ton wird Ereignis, es ist als würde die Welt den Atem anhalten...



BELLINI
LA SONNAMBULA

6. 9. 13. SEPTEMBER 2023

Musikalische Leitung GIACOMO SAGRIPANTI
Inszenierung, Bühne & Licht MARCO ARTURO MARELLI

Amina PRETTY YENDE
Elvino JAVIER CAMARENA
Graf Rodolfo ROBERTO TAGLIAVINI
Lisa MARIA NAZAROVA
Teresa SZILVIA VÖRÖS
Alessio JACK LEE

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