© Wiener Staatsoper / AXEL ZEININGER
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© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
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Ist das schon ein Skandal?

Zu Beginn eine bewusst provokante Frage: Hat das  Publikum grundsätzlich recht?

Ich antworte genauso provokant: Sehen Sie sich doch die schier unendlich lange Reihe der kollektiven Fehlurteile an: Wie viele große Meisterwerke, wie viele interpretatorisch neue Wege, wie viele Inszenierungen, die später große Popularität erlangten, wurden zunächst vehement abgelehnt? Denken wir nur an die Pfeifkonzerte bei der Uraufführung von Verdis Traviata in Venedig 1853 oder an das hämische Gelächter bei der Uraufführung von Rossinis Il barbiere di Siviglia in Rom 1816 – heute zählen beide Opern zu den populärsten in den internationalen Spielplänen. Davon abgesehen: Wer ist schon »das Publikum«? Wenn dreihundert applaudieren und drei »Buh« rufen, hört man vor allem die Buhrufer und nicht die Majorität derer, die zustimmen. Außerdem verunsichern die Buhrufer so manche andere im Zuschauerraum, womöglich solche, die zum ersten Mal gekommen sind und sich noch kein eigenes Bild machen konnten. Wir spielen aber für das gesamte Publikum, das noch dazu dafür bezahlt, um uns zu sehen. Nebenbei angemerkt sei noch, dass man in Italien heute noch, so wie früher auch bei uns, auspfeift – und nicht ausbuht.

Wobei es einen großen Unterschied macht, ob die Buhs – oder Pfiffe – am Ende der Vorstellung fallen oder mittendrin, in einer Szene, nach einer Arie, zwischen den Akten...

...oder, bevor überhaupt ein Ton erklungen ist! Das Buhen während der Vorstellung ist auf jeden Fall unverantwortlich, verunsichert die Sängerinnen und Sänger und mindert daher nachhaltig die Qualität der Darbietung. Bei der immer wieder thematisierten Faust-Produktion von Ken Russell begannen beispielsweise die Missfallenskundgebungen schon, als der Méphistophélès vor einem Aktschluss so tat, als ob er in das Weihwasserbecken urinieren würde. Am Ende der Vorstellung kann hingegen jeder seine Meinung kundtun, das gehört zum Wesen des Theaters, seit dessen Entstehung. Wobei ich ein bewusstes Nicht-Applaudieren und die daraus resultierende Stille als demütigender empfände als einen Buhorkan. Seitens des Theaters kann man allerdings nur wenig gegen vereinzelte notorische, störende Zwischendurch-Buhschreier unternehmen. Und in diesem Zusammenhang kann ich an einen wirklich großen Skandal erinnern, und zwar an die Premiere von Verdis Aida am 4. Februar 1973: Ich war anwesend, weil ich Plácido Domingo, den Interpreten des Radames, als Bühnenvermittler vertreten hatte – es handelte sich nach einigen Einzelvorstellungen, die zunächst keine Folgeengagements nach sich zogen, um seine erste Premiere an diesem Haus. Im Zuschauerraum saß übrigens unter anderem auch Bundeskanzler Bruno Kreisky – damals gingen Bundeskanzler noch in Opernpremieren. Riccardo Muti debütierte an diesem Abend mit großem Erfolg am Pult der Wiener Staatsoper, und auch Domingo und Bonaldo Giaiotti als Ramfis wurden gefeiert. Schon viel weniger Gwyneth Jones als Aida oder Viorica Cortez als Amneris. Doch gegen die Inszenierung Nathaniel Merrills entlud sich spätestens im Triumphakt ein ungeheurer Sturm der Entrüstung, endlose, bis in die Pause hineinreichende Schreiduelle im Publikum, die nach dem damaligen Direktor riefen – der seine Loge jedoch schon längst verlassen hatte und nicht wieder auftauchte. Im Nilakt kamen schließlich Kriminalbeamte ins Stehparterre und führten die am lautesten Protestierenden ab. Daraufhin kam es zum Gipfel dieses Skandals: KS Eberhard Waechter erhob sich in der Künstlerloge, zeigte auf das Stehparterre und rief mit lauter Stimme: »Der Bundeskanzler sieht zu, wie in diesem Haus die freie Meinung unterdrückt wird.« Tosender Applaus war die Antwort.

Die nächste Aida-Premiere – 1984 – war kaum erfolgreicher…

Der damalige Sturm der Entrüstung richtete sich gegen den dirigierenden Direktor Lorin Maazel, der für einzelne Fehlbesetzungen ebenso verantwortlich gemacht wurde wie für die Regie von Nicolas Joel und für grundsätzliche Fehlentscheidungen in seiner Amtszeit. Als Maazel nach der Pause wieder in den Graben kam, empfing ihn ein Orkan der Ablehnung. Zu verantworten hatte Maazel aber schon vorher einen weiteren, zumindest halben Skandal, der durch mein Einschreiten davor bewahrt wurde, sich zu einem vollständigen Skandal zu entwickeln: 1982 leitete er einen neuen Tannhäuser in der Inszenierung von Otto Schenk. Der von mir vermittelte, aus der DDR stammende Tenor Reiner Goldberg war mit der Titelpartie besetzt. Schon während der Probenzeit, in der Goldberg kein einziges Mal aussang, kamen größte Bedenken, ob er, offenbar psychisch belastet, der Rolle überhaupt gewachsen sei. Ich selbst besuchte die Generalprobe, bei der Goldberg nur markierte und nicht einen einzigen hohen Ton aussang. Da ich davon ausging, dass sich ein Fiasko anbahnte, kaufte ich, ohne jemanden darüber zu informieren, dem Tenor Spas Wenkoff eine Eintrittskarte für die Premiere, um ein Cover zur Verfügung zu haben. Der Rest ist Geschichte: Reiner Goldberg musste noch im ersten Akt, bereits nach der zweiten Strophe des Preislieds an Venus, abbrechen und verließ die Bühne. Der Vorhang fiel. Und tatsächlich gelang es mir, Spas Wenkoff Zutritt zum Bühnenbereich zu verschaffen, sodass er die Premiere schlussendlich retten konnte. Der ungeliebte Direktor Maazel räumte jedenfalls nach nicht einmal zwei Jahren seinen Stuhl. Der aber wohl nachhaltigste Entrüstungssturm gegen einen Direktor war sicher jener gegen Karl Böhm, bei einer Fidelio-Vorstellung 1956. Böhm – der letzte Direktor des Hauses in der NS-Zeit und erster Direktor nach der Wiedereröffnung – hatte bekanntlich nach einer Reise in den USA am Flughafen in Schwechat dem Journalisten Karl Löbl ins Mikrofon gesagt, dass er nicht daran denke, seine internationale Karriere für die Wiener Staatsoper zu opfern. Das war dem Publikum zu viel. Das Haus war nach langer Bauzeit gerade erst feierlich wiedereröffnet worden, gewissermaßen als Zeichen des wiedererstandenen unabhängigen Österreichs – und dann diese Aussage. Als Böhm bei besagtem Fidelio das Pult betrat, wurde er mit einem ungeheuren Pfeif- und Pfui-Geschrei empfangen, was Böhm wiederum zur Aussage veranlasste, dass der Pöbel in der Staatsoper Einzug gehalten hätte. Das Ergebnis war, dass Karajan bereits wenige Monate später Böhm als Staatsoperndirektor nachfolgte.

Sie nannten den legendären Otto Schenk. Aber auch er musste, was heute viele nicht mehr wissen, immer wieder mit Ablehnungen aus dem Publikum leben. Auch sein Don Carlo von 1970 stieß beispielsweise nicht auf ungeteilten Zuspruch.

Auf Verdis Don Carlo scheint in Wien überhaupt ein Fluch zu liegen. Zunächst gab es ein jahrelanges Gezerre mit Verdi und dem Verlag Ricordi, das Werk im Haus am Ring aufführen zu dürfen, was vorerst peinlichst misslang – die Staatsopern-Erstaufführung fand erst 1932 statt. Und später erhielten überdurchschnittlich viele Neuproduktionen dieses Werks nicht auf Anhieb die Gunst des Publikums. Die von Ihnen erwähnte von 1970 richtete sich aber weniger gegen Otto Schenk als gegen die Direktion im Allgemeinen. Es gab zwei Stoßrichtungen des Publikums: Zunächst verübelte man, dass ein so geliebter Sänger wie Franco Corelli „nur“ einen Don Carlo bekam, in dem er nicht einmal eine echte Arie zu singen hatte. Und dann stieß man sich am vor allem im Deutschen Fach hoch geachteten Dirigenten Horst Stein. Der Vorwurf lautete: Dieser Deutsche kann unmöglich den Italiener Verdi dirigieren. In Wahrheit war man enttäuscht, dass nicht Karajan zum Zug kam und endlich an das Haus zurückkehrte. Die Buhs und Pfui-Rufe gegen Stein waren so intensiv, dass der damalige Direktor Heinrich Reif-Gintl und der Leiter der Bundestheaterverwaltung Gottfried Heindl zu einer Sitzung zusammenkamen, bei der die Einschaltung der Polizei diskutiert wurde und die Auflassung des Stehplatzes – letztlich wurde aber von beiden Schritten abgesehen. Noch turbulenter ging es 2004, in meiner Amtszeit, bei der Staatsopern-Erstaufführung des französischen Don Carlos zu. Peter Konwitschnys Inszenierung, insbesondere des Autodafés, das schon in der Pause davor gewissermaßen einen Prolog im Zuschauerraum bekam und das Publikum in das Geschehen einbezog, erhitzte die Gemüter in einem unfassbaren Ausmaß. Das Geschrei und Buhgebrülle ging soweit, dass Cosmin Ifrim, der Sänger des Herold, gar nicht erst einsetzen konnte. Er blickte verzweifelt zu meiner Loge und ich bedeutete ihm durch Zeichen, solange zu warten, bis der Tumult sich legen würde, was nach einigen Minuten – vorübergehend – auch geschah. Heute besitzt die Inszenierung Kultstatus und wird immer gerne gesehen. So viel zur eingangs gestellten Frage, ob das Publikum recht hätte.

Manchmal hat eine Inszenierung allerdings keine Chance, sich in die Herzen des Publikums einzunisten. Verdis Macbeth in der 2009 herausgekommenen Inszenierung von Vera Nemirova verschwand bereits nach insgesamt fünf Vorstellungen.

Die Premiere stand wahrlich unter keinem guten Stern. Der vorgesehene Regisseur Jürgen Gosch war wenige Monate vor der Premiere verstorben und der Dirigent und die vorgesehene Sängerin der Lady hatten kurzfristig abgesagt. Die daraufhin engagierte Regisseurin Vera Nemirova, die mit ihrer Pique Dame-Deutung an der Wiener Staatsoper durchaus Erfolg hatte, überforderte viele im Publikum mit ihrer Macbeth-Inszenierung. Das Ergebnis waren ein gewaltiger Buhorkan am Ende und Missfallenskundgebungen während der Vorstellung. Insbesondere eine Szene in einer Duschkabine, in der sich die Lady halbnackt und singend wusch, um sich vom Blut zu reinigen, erregte die Gemüter. Aber da die nachfolgende Direktion die Produktion sofort skartieren ließ, blieb es bei den von Ihnen angesprochenen fünf Aufführungen. Das Problem ist ja oft, dass ungewohnte und unerwartete Umsetzungen zunächst von Vornherein abgelehnt werden. Hat man sie dann aber öfter gesehen, gewinnt man sie manchmal sogar lieb. Zumindest hier in Wien.

Wenn wir von Skandalen sprechen, muss auch der Trovatore von 1993 genannt werden: Der früher beliebte Sänger KS Eberhard Waechter hatte als Direktor gemeinsam mit Ihnen als Generalsekretär der Staatsoper die Produktion geplant. Er starb und so kam es zu Ihrer ersten Premiere als alleiniger Direktor des Hauses…

… die fast auch mein Ende besiegelte. Ich hatte den preisgekrönten Film- und Theaterregisseur István Szabó mit der Inszenierung beauftragt. Und er machte etwas, was die Wiener unmöglich gutheißen konnten: Er zeigte den Niedergang der Staatsoper durch die Bombardierung im Zweiten Weltkrieg und wie sie durch Musik wieder zum Leben erweckt wurde. Dieses an sich schöne Konzept – das heute, 30 Jahre später, mit Sicherheit anders aufgenommen werden würde – bekam die geballte Opposition der allermeisten im Zuschauerraum zu spüren. Dazu kam, dass Cheryl Studer als Leonora schon während der Vorstellung ausgebuht wurde, und der an sich nicht üble Tenor Frederic Kalt als Manrico das hohe C in der Stretta aus lauter Freude, den Ton geschafft zu haben, solange aushielt, bis er abriss und damit ebenso den Unmut der Masse auf sich zog. Der allgemeine Aufruhr war jedenfalls so groß, dass bereits laut über meine Nachfolge sinniert wurde. Gerettet hat mich dann die nächste Premiere, Offenbachs Contes d’Hoffmann, die insbesondere durch die Leistungen der jungen, damals unbekannten Sängerriege Dessay-Terfel-Frittoli und dazu Domingo zu einem ebenso großen Triumph wurde, wie der Trovatore ein Misserfolg war.

Und manchmal bestand der Skandal darin, dass es überhaupt keine Vorstellung gab…

… unvergessen die Absage der Bohème-Premiere 1963. Da Karajan einen italienischen Maestro suggeritore installieren wollte – für die internationalen italienischen Stars war dieser mitdirigierende Souffleur Usus – hatte er es sich mit dem Betriebsrat verscherzt. Als besagter Maestro suggeritore am Premierenabend seinen Platz einnahm, verhinderte der Betriebsrat daraufhin die Vorstellung und das bereits erschienene Publikum des ausverkauften Hauses musste wieder heimgeschickt werden. Letztendlich war diese Premierenabsage mit ein Grund für Karajans Demission als Direktor der Wiener Staatsoper.

Zusammenfassend zeigt sich, dass das Publikum in erster Linie gegen Inszenierungen und manche Besetzungen zu Feld zieht. Nicht aber gegen Werke an sich.

Dazu hatte das hiesige Publikum auch wenig Gelegenheit. Die Wiener Staatsoper war nie ein Novitätenhaus und spielt meistens rauf und runter den althergebrachten Kanon. Und so manch schwierigeres Stück, etwa Bergs Lulu, ist von der Staatsoper zunächst nur in einer Dependance – in diesem Fall 1962 im Theater an der Wien – gezeigt worden. Insofern finde ich es eine schöne Entwicklung, dass aktuell innerhalb eines Jahres so wichtige zeitgenössische Werke wie Grand Macabre, Fin de partie, Animal Farm und Tempest gezeigt werden! Und es gab durchgehend Zustimmung! Die frühe Geschichte des Hauses kann aber auch hier mit gegenteiligen Details aufwarten: Etwa mit der Erstaufführung der Meistersinger 1870. Da sich Wagnerianer und Wagner-Gegner ab Beckmessers Ständchen massive Schreiduelle lieferten, blieb die Musik praktisch unhörbar. Das Getümmel dürfte so ausgiebig gewesen sein, dass sich die Kritiken in den darauffolgenden Tagen vor Schadenfreude regelrecht überschlugen. Etwas mehr als hundert Jahre später entlud sich der Zorn der Zuschauerinnen und Zuschauer gegen eine ganz andere Erstaufführung: Rossinis eher schwächeres Stück Viaggio a Reims war unter großem finanziellem Aufwand angesetzt worden. Doch trotz der Mitwirkung einer Reihe gefeierter und beliebter Sängerinnen und Sänger lehnte das Publikum das Werk vehement und lautstark ab, so vehement, dass zugleich sogar das Ende der damaligen Direktion Drese eingeläutet wurde. 

Aber auch die Proteste gegen die Zigeunerbaron-Premiere von 1975 müssen hier erwähnt werden: Man verstand einerseits nicht, wieso dieses Stück überhaupt in den Spielplan gelangt war, und stieß sich andererseits an der Inszenierung des bekannten Schauspielregisseurs Werner Düggelin, der leider keinen nachvollziehbaren Zugang zum Werk fand… da hat dann die hochkarätige Besetzung mit Franco Bonisolli, Hans Beirer, Hans Helm, Erich Kunz und Heinz Zednik ebenfalls nichts mehr ausrichten können. Apropos Bonisolli: In die Annalen des Hauses ist auch sein Abgang bei der öffentlichen Trovatore-Probe unter Karajan eingegangen, als er vor der Stretta sein Schwert wütend hinschleuderte und die Bühne verließ und Karajan bis zur Pause das Orchester – ohne Manrico – weiterdirigierte.

Alles in allem kann man sagen, dass das zahlende Publikum ein Recht darauf hat, zu applaudieren, wenn ihm etwas gefällt und Missfallen zu äußern, wenn ihm etwas nicht gefällt. Schlussendlich werden Operneinrichtungen durch Steuergelder und zusätzlich durch die Karten kaufenden Zuschauerinnen und Zuschauer erhalten. Aber sowohl Zustimmung wie Ablehnung haben am Ende der Vorstellung zu geschehen, wenn sich die einzelnen Mitwirkenden vor dem Vorhang verbeugen. Seien dies nun Sängerinnen, Sänger, Dirigentinnen oder Regisseure – letzterer ist jedoch oft schwer auszumachen, weil er meist mit einer Kompanie von Mitarbeitern erscheint.