IM SIEBTEN HIMMEL
Wie »Feuer und Wasser« beschreibt Marco Goecke das Programm, das am 14. November in der Wiener Staatsoper Premiere feiert. Verschiedene Handschriften und Atmosphären hat Martin Schläpfer hier zu einem Triptychon vereint: zwei opulente Tanzfeste – Martin Schläpfers »Wien-Ballett« Marsch, Walzer, Polka im neuen Kostümdesign von Susanne Bisovsky und George Balanchines festliche Symphony in C – rahmen eine Uraufführung des jüngst zum »Choreographen des Jahres« gekürten Marco Goecke. Am Pult des Wiener Staatsopernorchesters gibt Patrick Lange sein Debüt beim Wiener Staatsballett mit Werken der Strauß-Familie, von Gustav Mahler und Georges Bizet.
WALZERTRAUM UND TANZEKSTASE – MARTIN SCHLÄPFER UND SUSANNE BISOVSKY
Eine Tänzerin schreibt mit einer fließenden Gelöstheit eine Sehnsucht in den Raum. Andere entdecken die lauernde Verzögerung des Tangos für den Walzer und den Spitzenschuh als gefährliche Waffe. Sie wiegen sich im Spagat, lauschen versonnen, wenn die Geigen des Orchesters am schönsten »schluchzen«, begegnen sich wie sommernachtstrunkene Schlafwandler voll unerwarteter Zartheit, verlieren die Nerven, kreiseln mit imaginären Partnern, wanken nach Hause wie eine überdrehte Ballgesellschaft weit nach Mitternacht oder bekommen schlotternde Knie, statt stramm, strahlend und siegesgewiss vor einer imaginären k. & k.-Armee zu defilieren.
Mit den Walzern An der schönen blauen Donau und Sphärenklänge, der Annenpolka sowie dem Radetzky-Marsch hat sich Martin Schläpfer nicht einfach einige der bekanntesten Werke der Strauß-Familie für sein Ballett Marsch, Walzer, Polka gewählt, sondern sich bewusst dieser so oft gehörten, viel gespielten und mit Bildern besetzten Musik von Johann Strauß Vater, Johann Strauß Sohn und Josef Strauß ausgesetzt. Musik, die für all das steht, was man gemeinhin mit dem so »sehnsuchtsvoll-scheel angesehenen Begriff ›Wien‹« verbindet – so Otto Brusatti: »Ironie und sehr tiefe Bedeutung, Schubert und Dreimäderlhaus in einem, Hanswurst und Eroica, (...) Hysterien und Totenkult.« Entstanden ist ein Ballett, das weder Neujahrskonzert, noch Opernball und doch beides auch ist: eine hinreißende Hommage an Walzertraum und Tanzekstase mit dem liebevoll-distanzierten Blick aus der Ferne, eine feinsinnige Ausbalancierung des Zwiespalts zwischen Euphorie und Melancholie, großem Gefühl und Komik.
»Für mich ist Marsch, Walzer, Polka auch heute noch eines meiner besten Stücke und ich habe immer wieder heimlich davon geträumt, es auch dort zeigen zu dürfen, wo es durch seine Musik natürlich hingehört: nach Wien«, bekennt Martin Schläpfer über die 2006 für seine damalige Compagnie, das ballettmainz, choreographierte Tanzfolge. Verlassen hat ihn das Stück seither nicht. Auch mit dem Ballett am Rhein war dieser »Geniestreich« – so Nicole Strecker im Magazin tanz – in deutlich vergrößerter Tänzer-Besetzung zu sehen, und mit der Premiere Im siebten Himmel erfüllt sich nun Martin Schläpfers Traum: Marsch, Walzer, Polka kommt auf die Bühne der Wiener Staatsoper – allerdings in einer um die Neue Pizzicato-Polka von Johann Strauß Sohn, deren Choreographie Martin Schläpfer in Wien nun zur Uraufführung bringt, erweiterten Fassung und in neuem Design. »Ursprünglich waren die Kostüme sehr schlicht gehalten, viel Haut zeigende, Unterwäsche-artige Schnitte. Für Wien schien mir dieser Entwurf jedoch nicht mehr passend. Kurz vor Weihnachten 2018 fiel mir dann eine Reportage über die Designerin Susanne Bisovsky in die Hände. Ich war völlig elektrisiert von ihrer Kunst und habe ihr sofort geschrieben. Als ich sie dann wenige Wochen später in ihrem wunderbaren Atelier am Brillantengrund im 7. Bezirk besuchen durfte, war mir schnell klar, dass ich mit ihr als Partnerin an dieses vor 15 Jahren entstandene Ballett noch einmal neu herangehen möchte. Die Intensität, der Reichtum, die Modernität, aber auch die Archaik im Integrieren all dessen, was man unter Tracht versteht, fesseln mich sehr an ihren Entwürfen», so Martin Schläpfer.
Susanne Bisovsky arbeitete nach ihrem Studium bei u.a. Vivienne Westwood an der Hochschule für angewandte Kunst Wien zunächst mit Jean-Charles de Castelbajac in Paris, später für Helmut Lang und das Label Kathleen Madden. Die aus allen Designtrends fallende Faszination für Tracht ließ sie aber nicht los und 1999 gründete sie schließlich ihr eigenes Label. Bereits mehrfach schuf sie auch Kostüme für die Theaterbühne, darunter an der Scala di Milano sowie bei den Salzburger Festspielen. Mit ihrem Entwurf für Marsch, Walzer, Polka entstand nun ihr erstes Design für den Tanz – Kostüme für 50 Tänzerinnen und Tänzer, alle von Hand in ihrem eigenen Atelier angefertigt und inspiriert von imaginären Bildern, die sich in Martin Schläpfers Notizen zu seinen Tänzen fanden.
ATEMBERAUBENDES GLANZSTÜCK – GEORGE BALANCHINE UND GEORGES BIZET
Ein opulentes Tanzfest ganz anderer Art ist George Balanchines Symphony in C zu Georges Bizets Symphonie in C-Dur, welche den Abschluss des Programms bildet. Die Wurzeln dieses den imperialen Glanz der großen Sankt Petersburger Divertissements Marius Petipas verströmende Werk reichen in das Jahr 1947 zurück. Balanchine, der seine eigene Compagnie – das New York City Ballet – längst zu Weltruhm gebracht hatte, war damals als Ballettmeister beim Ballet de l’Opéra de Paris zu Gast. Von den Rangstufen des Ensembles fasziniert, übertrug er diese in seinem in nur zwei Wochen entstandenen Ballett Le Palais de cristal in einem raffinierten Wechselspiel zwischen Soli, Pas de deux und großen Gruppenformationen auf die Bewegungs-Architektur auf der Bühne. Ein Jahr später entschied er sich zu einer übernahme des Werkes in das New York City Ballet, für die er eine Reduktion der Kostüme vornahm – die Damen erscheinen nun in weißen Tutus, die Herren in Schwarz. Wie stets bei Balanchine ist der Tanz ganz aus der Musik abgeleitet. Aus ihr gewinnt er seine Energien, ihre Strukturen und Emotionen macht er im Raum sichtbar.
Für die Einstudierung der Symphony in C ist mit Patricia Neary eine Persönlichkeit zum Wiener Staatsballett zurückgekehrt, die zu den herausragenden Tanzkünstlerinnen der Ära Balanchine zählte und sich bis heute mit ihrem reichen Erfahrungsschatz für die Pflege und den Erhalt dieses choreographischen Erbes einsetzt. Was sie vor einigen Jahren als Gast Martin Schläpfers über die Einstudierung von The Four Temperaments sagte, gilt auch für Symphony in C: »Mr. B.s Ballette fördern Solisten und Corps de Ballet gleichermaßen. Es ist für jeden eine Herausforderung. Was Balanchines Stücke so geeignet für große Compagnien macht, ist die Art und Weise, wie er den Corps de Ballet nutzt: Er lässt ihn tanzen! Stehst du in Schwanensee in der letzten Reihe, hältst du eine Pose – bei Balanchine tanzt du! (…) Mit meinem Eintritt in das New York City Ballet wurde mir die Freude am Tanzen erst richtig bewusst«.
»ES GEHT UM DAS, WAS HEUTE IST.« MARCO GOECKE UND GUSTAV MAHLER
Marco Goecke zählt zu den bedeutendsten Choreographen unserer Zeit. Seine Werke gehen unter die Haut. Mit ihrer dunklen Magie und oft eigensinnigem Humor erschaffen sie die Welt neu. Wie kaum einem anderen Choreographen ist es dem in Wuppertal geborenen, lange dem Stuttgarter Ballett als Hauschoreograph verbundenen, heute als Direktor das Ballett der Staatsoper Hannover leitenden, aber auch eng mit dem Nederlands Dans Theater und Gauthier Dance zusammenarbeitenden Künstler gelungen, eine unverwechselbare Bewegungssprache zu entwickeln. Bereits nach seinen ersten Werken sprach Horst Koegler in der Zeitschrift tanz von einem »Système Goeckien«, das diese »surreal vibrierenden Wunderwerke – der Zeit, des Raums, des Körpers – kennzeichnet«. Über den Ursprung seiner von einem Zittern, Reißen, Flackern und Vibrieren geprägten Bewegungssprache bekannte Marco Goecke: »Ich empfinde den Körper als Gefängnis, nicht aus dem Körper heraustreten zu können – darin liegt die Verzweiflung in meinen Bewegungen begründet«.
Dass der von vielen Compagnien in der ganzen Welt gezeigte Künstler nun endlich auch in Wien zu sehen ist, ist überfällig. Dass er für das Wiener Staatsballett eine eigene Kreation schafft, ein besonderes Highlight der Spielzeit 2021/22.
Für die musikalische Ebene wählte Marco Goecke zwei Sätze aus der Symphonie Nr. 5 Gustav Mahlers: das »Stürmisch Bewegt. Mit Gr..ter Vehemenz« sowie das berühmte Adagietto. Letzteres zählt – ähnlich wie die von Martin Schläpfer choreographierten Strauß- Kompositionen – zu den »Hits« der Konzertliteratur und ist nicht zuletzt durch Viscontis Tod in Venedig-Verfilmung bildmächtig aufgeladen. »Ich muss gestehen, dass es für mich immer schwierig ist, Orchestermusik zu finden, weil ich in meiner Arbeit gerne nah am Kommerziellen bin, an Pop oder Jazz … Aber ihr habt in Wien dieses großartige Orchester!«, bekennt Marco Goecke in einem Gespräch über sein Wien-Debüt. Für ihn ist das Adagietto mit Vivaldis Jahreszeiten vergleichbar: »Musik, die schon derart in die Mangel genommen wurde, dass man ihre Schönheit gar nicht mehr erlebt, interessiert mich sehr. Wenn es mir gelingt, mit meinen eigenen Bildern solche Werke neu zu besetzen, kann man sie auch wieder neu hören – und neu sehen«. Anders als Martin Schläpfer und George Balanchine bezieht Marco Goecke seine Energien jedoch nicht von Beginn an aus der Musik, sondern arbeitet zunächst in der Stille an seinen flatterhaft zitternden, rasend schnellen Bewegungen, mit denen er die Körper der Tänzerinnen und Tänzer in Ausnahmezustände versetzt: »Ihr müsst eine solche Intensität entwickeln, dass ihr euch eigentlich für die nächsten Jahre krankschreiben müsstet«, lautet eine seiner Regieanweisungen während einer Probe für seine Wiener Uraufführung. Darf man Einblick in seine Kreationsproben nehmen, so verblüfft das Zusammenspiel eines Prozesses mit offenem Ausgang mit der absoluten Genauigkeit in der Arbeit, die jedes choreographische Detail exakt festlegt. Den Ansatz für seine Choreographie beschreibt Marco Goecke als eher abstrakt: »Das Abstrakte enthält bei mir aber immer auch Mini-Geschichten, die jedoch von einer konkreten Handlung weit weg sind: Es geht um die Zeit, in der ein Werk entsteht, um das, was heute ist«.