Im Bann des Absurden
Beide gehören zu den großen Charakterdarstellernder Staatsoper, loten Extreme aus, zeigen Menschen, nicht Schablonen auf der Bühne: Georg Nigl und Philippe Sly. In der Fin de partie-Premiere stehen sie gemeinsam als Clov und Hamm auf der Bühne, zeigen Abhängigkeiten, Tragikomödie, Abgründe. Ein Gespräch über Sterben und Lachen, Angst und Hoffnung, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und die Kraft des Absurden.
Fangen wir ganz einfach an. Wer sind die beiden Figuren, die Sie darstellen, also Clov und Hamm?
GN Als ich das Stück und viel Literatur zu Beckett las, fragte ich mich natürlich bald: Wer ist Clov eigentlich? Wen stelle ich dar? Ist er vielleicht nur eine Idee, ein Gedankenspiel von Hamm? Womöglich findet das Ganze nur in Hamms Kopf statt? Dann aber habe ich das Ganze schnell für mich heruntergebrochen und mir gesagt: Clov ist einfach nur ein Diener. Allerdings kein Butler wie aus Downton Abbey, sondern er ist im Widerstand. Sein Problem ist nur, dass er nichts über die Welt jenseits seiner unmittelbaren Umgebung weiß.
PS Hamm ist einer, der nicht aufgibt. Er hält sich für sehr intelligent und für einen Künstler, der edel für sein Werk leidet. Ich hatte ursprünglich einen sehr existentialistischen Zuschnitt der Figur im Kopf und war in der Arbeit mit Herbert Fritsch sehr überrascht, als dieser eine deutlich komödiantischere Perspektive ins Spiel brachte. Sie gab mir eine neue Leichtigkeit, eine Farbe, die ich am Anfang nicht hatte. Es hat der Sache sehr geholfen!
Sie sprechen von der komödiantischen Dimension im Werk. Was ist das für ein Humor?
PS In dem Stück hat man das Gefühl, dass wir nur darauf warten, dass alles aufhört zu existieren. In Hamms erstem Monolog kommt die Frage auf: Warum bestehen wir weiter? Warum kann es nicht einfach enden? Und die Antwort scheint wirklich in der Komik zu liegen. Wenn man das Leben nicht mit Humor betrachten kann, macht es einen wahnsinnig. Es ist verrückter, nicht zu lachen als zu lachen!
GN Wenn man heute Zeitungen aufschlägt, ist das, was einem entgegenspringt, furchtbar. Und was in Fin de partie geredet wird, ist auch furchtbar. Die Frage lautet nun, wie man mit all dem Schrecklichen umgeht. Ich kann die Nachrichten lesen und sofort zu weinen anfangen, oder aber ich lache. Eines ist aber ganz wichtig: Clov und Hamm empfinden sich selbst nicht als lustig. Und damit sprechen wir eines der Geheimnisse dieses Stücks an – und auch ein großes Theatergeheimnis an sich. Nämlich: Die unterhalten werden sollen, sind nicht die auf der Bühne, sondern die im Zuschauerraum. Wenn das Publikum über uns und all die Schrecklichkeiten, die wir sagen, lachen kann, bekommt das Stück plötzlich die vorhin angesprochene Leichtigkeit.
Das Publikum soll also lachen? Oder auch nachdenken?
GN Das ist deren Sache. Wir reden in den Proben nicht einmal darüber, was unser Ziel in dieser Hinsicht wäre.
Aber dennoch: Was wollen Sie im Innersten? Etwas vermitteln? Eine moralische Lehrstube sein, wie bei Schiller?
GN Fin de partie ist einfach eine große Irritation. Die Musiksprache, die wir hier erleben, ist schwieriger zu verstehen als jene des 18. und 19. Jahrhunderts, es ist nicht die Klangwelt eines Haydn oder Mozart. Dieses »anders« irritiert. Und dazu kommt Text, der noch mehr irritiert, weil er absurd ist. Wobei ich persönlich keine Probleme mit absurden Stücken habe, denn wenn man an das Leben außerhalb des Theaters denkt, ist es ja auch absurd! Ich komme jetzt noch einmal zu den Nachrichten, die wir alle konsumieren: Wenn man mitbekommt, was heute in der Welt alles passiert, ist ein surrealistisches Werk doch nichts dagegen!
PS Wir zeigen etwas auf der Bühne und Menschen erkennen darin Aspekte ihres eigenen Verhaltens – und das bringt sie zum Nachdenken. Denn wenn wir ehrlich sind: Wir alle wählen im Leben unsere eigenen Käfige, auch wenn wir so tun, als ob das nicht wahr wäre. Und genau darum geht es in dieser Oper! Das Stück handelt von den Käfigen und von dem Leid, das wir uns selbst schaffen. Viele Menschen identifizieren sich irgendwann so sehr mit ihrem Leiden, dass sie glauben, ohne es nicht leben zu können. Sie halten daran fest, weil es das Einzige ist, das sie kennen.
Fin de partie arbeitet mit den kleinen, präzisen Mitteln des Theaters. Fehlt Ihnen etwas im Vergleich zu einem mächtigen Ausstattungstheater?
PS Die Tatsache, dass die Mittel dieser Oper und des Theaterstücks sehr bescheiden sind – zum Beispiel: drei der vier handelnden Figuren können sich kaum bewegen – trägt zur Intensität des Abends bei. Die kleinsten Gesten, die Feinheiten des Theaters sorgen für sehr starke Momente. Ich kann mich so mehr auf Charakterisierung und Farben konzentrieren. Herbert Fritsch und Simone Young geben mir, was den Einsatz meiner Stimme angeht, eine Menge Freiheiten. Und die besondere Orchestrierung erlaubt es mir, die Extreme meiner Stimme zu nutzen. Ich kann meiner Fantasie freien Lauf lassen – das ist sehr aufregend.
GN Manchmal würde ich gerne Philippes Rolle, also den Hamm spielen! Denn mit zunehmendem Alter mag ich die szenische Reduktion mehr und mehr. In jungen Jahren will man möglichst großflächig spielen, um auf der Bühne wahrgenommen zu werden. Man glaubt, dass man so mehr Aufmerksamkeit bekommt. Aber so ist es ja nicht... Auf der anderen Seite muss ich sagen, dass ich schon sehr froh bin, den Clov zu singen. Denn Hamm ist musikalisch unglaublich herausfordernd…
Ist es nicht schwierig, ein Werk zu spielen, bei dem sich der Autor des originalen Schauspiels bewusst jeder Interpretation entzog? Braucht es nicht irgendeinen Anker? Etwas Konkretes?
PS Die Lebensgeschichten der Figuren sind nicht wirklich bedeutsam. Es gibt ein paar grundsätzliche Dinge, die wichtig sind, wie das Verhältnis der Figuren zueinander: Herr und Diener, Eltern und so weiter. Aber ich habe das Gefühl, dass wir, wenn wir zu viele Entscheidungen treffen, uns daran hindern, das Ganze verständlich zu machen. Es ist wie beim Singen eines Liedes. Man kann sich eine Hintergrundgeschichte für seine Figur ausdenken – aber das macht ein Lied nicht besser. Denn es geht darum, die Verbindung zwischen Klang und Poesie zu finden, zu erfahren, wie die Musik und die Poesie mit- und manchmal gegeneinander arbeiten. Diese Spannung erzeugt eine bestimmte Farbe. Und hier in Fin de partie ist es ganz ähnlich.
Das der Oper zugrundeliegende Theaterstück von Beckett wurde 1957 uraufgeführt. Das war vor fast 70 Jahren. Das Dystopische scheint zeitlos zu sein…
GN Das Stück wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben, da ging die Angst vor Atomraketen um. Auch wenn heute eine Sorge um die Zukunft herrscht, ist die Situation doch eine ganz andere. 1957 gingen die Menschen noch in Kirchen. Das ist etwas, das viele heute nicht mehr machen. Religion hat vielerorts ihren Wert verloren, Weihnachten ist nur noch ein Geschenkefest. Und in den 1950er Jahren hatten viele Freunde und Bekannte, die im Weltkrieg ihr Leben verloren hatten. Würden wir heute das Stück in einer Kriegsregion spielen, wäre die Bedeutung für uns eine ganz andere.
Aber ist das Werk heute dunkler? Eben weil, wie Sie sagen, in den 1950er Jahren viele noch Hoffnung etwa durch eine Religion hatten?
GN Das hängt ganz von der jeweiligen Person ab. Für mich ist Fin de partie nicht sehr dunkel. Absurd ja, aber nicht dunkel. Aber wie ich vorhin sagte: Das Leben ist ja auch absurd. Oftmals denke ich im Flugzeug: Und was wäre, wenn der Flieger jetzt abstürzte? Ich bin zur Schule gegangen, habe Matura gemacht, geheiratet und viel gesungen – und dann dieses plötzliche Ende. Dabei wollte ich doch immer einen Tod haben, bei dem ich zurückblicke und endlich alles verstehe. (lacht) Aber das Leben ist nicht so. Wir müssen verstehen, dass das Einzige, das wir haben, das Jetzt ist.
PS Das Helle entsteht in der Erkenntnis, dass wir den gegenwärtigen Moment nutzen müssen. Wir können zwar an die Vergangenheit und die Zukunft gebunden sein, aber der einzige Moment, zu dem wir tatsächlich Zugang haben, dieser winzige Splitter, der ist das Jetzt. Und noch etwas: Das Stück heißt Endspiel, nicht Apokalypse. Man kann das Warten auf das Ende in ein Spiel verwandeln, und darin liegt auch der Humor des Lebens. Das Theater wiederum ermöglicht es uns, uns selbst zu betrachten. Hamm kann das, er distanziert sich von sich selbst und findet sich plötzlich urkomisch – und das ist sehr gesund. Denn die Menschen nehmen sich selbst zu ernst, fast krankhaft ernst. Fin de partie zeigt uns, dass wir wieder lernen müssen zu lachen.
GN Ich denke, der größte Fehler unserer Zeit ist, dass wir uns so viel mit uns selbst beschäftigen. Daher versuche ich, die meiste Zeit nicht an mich zu denken, sondern an die Gemeinschaft. Das ist auch einer der Gründe, warum ich Sänger geworden bin. Ich arbeite heute nicht mehr wie früher in einem Spital, sondern in der Oper, aber ich möchte als Künstler anderen durch meine Arbeit etwas Schönes schenken. Und ich schätze es, meine Zeit in einer Gemeinschaft zu verbringen. Etwa jetzt gerade, bei unserem Gespräch. Wenn ich das mache, habe ich auch weniger Angst vor dem Sterben, da ich dann nicht über meine Einsamkeit nachdenke. Auch das hat mit Fin de partie zu tun: Denn letztlich brauchen die Figuren einander und können ohne die jeweils anderen nicht existieren. Das darf man nicht vergessen: Es geht nicht um einen, sondern um vier.
PS Die Welt, in der wir leben, bietet eine Dualität an: Man kann als Individuum handeln, ist gleichzeitig aber auch Teil eines größeren Ganzen. Jeder einzelne Aspekt des Lebens funktioniert auf diese Weise: Ein Atom, ein Molekül, ja, auch unsere Organe haben eine Identität, aber sie gehören auch zu etwas Umfassenderem. Es wäre pathologisch, das eine oder das andere zu leugnen. Was ich bei Fin de partie auch interessant finde, ist, dass das Stück zu Beginn eines enormen Wohlstandsaufschwungs geschrieben worden ist: Von 1950 bis 1990 ging es hierzulande in vielen Dingen steil bergauf. Das waren die Babyboomer, die heute auf die Welt schauen und meinen, dass alles den Bach runtergeht. Mit anderen Worten: Fin de partie wurde zu Beginn des Aufschwungs geschrieben und wir spielen es am Ende dieser Periode. Wir befinden uns in einer Zeit der Dekadenz und des Exzesses und der überreifen Früchte, wie am Ende des Römischen Reiches.
GN Das ist eine mögliche Sicht auf das Stück. Aber es kann noch Hunderte andere geben. Beckett würde sich womöglich missverstanden fühlen, wenn wir ihm diese Deutung erzählen würden. Jedenfalls ist es ein sehr persönliches Werk, weil es von seiner eigenen Angst handelt.
Angst… haben Sie persönlich Angst vor dem Ende?
PS Es ist amüsant, denn viele Menschen haben Angst, dass der Tod das Ende sein könnte – und viele fürchten, dass er es eben nicht ist. Auf eine gewisse Art fasziniert er mich. Es macht uns Menschen jedenfalls zu etwas Besonderem, dass wir uns unseres Endes bewusst sind. Das hat auch eine aktivierende Kraft... Ich persönlich schwanke sehr. Manchmal erscheint mir der Tod als natürlich und ich kann mich auf den Gedanken an ihn einlassen, dann wiederum empfinde ich eine so große Freude an dem, was passiert, dass ich das Leben unbedingt festhalten möchte – und das lässt mich den Tod fürchten.
GN Ich blicke auf ein Jahr zurück, in dem ich viele Tote zu beklagen hatte und ich war auf vielen Friedhöfen, von denen ich teils gar nicht wusste, dass sie existieren. Da ich gelernt habe: Der Moment, in dem man mit dem Tod einer nahestehenden Person konfrontiert wird, ist ganz anders, als man es erwartet. Man kann sich darauf nicht vorbereiten. Bei der Einsegnung eines meiner besten Freunde blickte ich in der Kirche erstmals auf die alten, steinernen Grabplatten nicht wie auf historische Kunstwerke, sondern dachte: Auch ich werde einmal unter einem solchen Stein liegen und ein anderer wird die Inschrift lesen. Ein seltsames Gefühl! Der Tod ist eine Frage, die so gewaltig ist, dass wir einfach keine Antwort auf sie finden.
Joachim Fest sprach einmal davon, dass die meisten Menschen entweder in der Vergangenheit oder der Zukunft leben. Wo leben Sie?
GN Nur in der Gegenwart und in der Zukunft. Was vorbei ist, ist vorbei und interessiert mich nicht mehr. Natürlich bin ich durch meine Vergangenheit das, was ich heute bin, aber ich blicke dennoch nicht zurück.
PS Ich stelle fest, dass ich ein sehr nostalgischer Mensch bin. Ich bin also mehr in der Vergangenheit und der Gegenwart als in der Zukunft. Natürlich habe ich als Vater gewisse Verpflichtungen, was die Zukunft anbelangt. Aber je älter ich werde, desto mehr mag ich Geschichten, und deshalb ist mein Blick zurück jetzt viel stärker als in meiner Jugend, als es nur um die Zukunft ging.