Im Ausnahmezustand

Musizieren ist nicht nur Noten korrekt spielen. Musizieren, echtes Musizieren, umfasst einen ganzen Kosmos an Zugängen, Reflexionen, Auseinandersetzungen, Empfindungen und Hintergründen. Sich als Geiger einfach in eine Vorstellung zu setzen und drauflos zu spielen – das ist für mich ein Ding der Unmöglichkeit. Einer Aufführung muss stets eine intensive Beschäftigung mit einem Werk und seinen Aussagen vorangehen, erst dann kann man zum Wesenskern vordringen und ihn künstlerisch entsprechend ausformen. Nur über eine solche Vorbereitung kann die Interpretation zu einer sinnhaften und für alle gewinnbringenden Aussage werden: und das ist gleichermaßen für mich als Künstler wichtig wie auch für das Publikum, das nur berührt werden kann, wenn hinter dem, was wir machen, auch eine Wahrhaftigkeit und intensive Auseinandersetzung steht. Besonders, wenn es sich um eine Oper wie Die Frau ohne Schatten handelt, ein Werk, das tatsächlich alle Ebenen des Menschlichen berührt, sei es in intellektueller, emotionaler oder philosophischer Hinsicht: Als Prüfungsoper, die Frau ohne Schatten (neben der Zauberflöte, Parsifal und Oberon) ja ist, stellt sie an uns besondere Fragen, die ans Zentrum des Mensch-Seins rühren. Stellt man sich diesen, so durchlaufen auch wir Ausübende einen Weg der inneren Reifung, sodass auch wir gerade- zu geläutert eine Vorstellung verlassen.

Mit der Frau ohne Schatten hat Strauss ein Gipfelwerk geschaffen. Von den Meisterwerken Salome und Elektra kommend, hat er mit dem Rosenkavalier eine Art Mozart-Oper aus seiner Sicht entworfen, dann die Ariadne, die Kammermusikalisches wie auch die große Form bietet. Frau ohne Schatten übertifft das alles noch einmal: Kein Wunder, dass Hofmannsthal und Strauss gerade diese Oper über alles schätzten und sich schon während der gemeinsamen Arbeit bewusst waren, hier etwas Exemplarisches gefunden zu haben: wir erleben die Kontrapunkttechnik von Bach kombiniert mit der Gesanglichkeit von Mozart und der Leitmotivik von Wagner. Alles in einem Werk! Entsprechend weiträumig muss unser Zugang beim Einstudieren sein. Zunächst einmal musikalisch: Ich ziehe nicht nur meine Violinstimme heran – und diese verlangt von uns schon allein technisch das Höchste ab, Strauss hat für alle Beteiligten komplexe und anspruchsvolle Partien und Stimmen geschrieben –, sondern auch die Partitur. Denn nur eine Stimme, ein Blickwinkel kann das vielschichtige Gefüge, das Strauss und Hofmannsthal geschaffen haben, nicht ausreichend ausleuchten. Ich muss stets auch wissen, was meine Kolleginnen und Kollegen spielen, wie die Gegenstimmen verlaufen, wie sich meine Stimme im Verhältnis zu den anderen verhält. Natürlich gehört es zu einer solchen Vorbereitung dazu, die großen Aufnahmen der Vergangenheit zu studieren: Was ein Karajan, ein Böhm oder ein Sinopoli zu dieser Oper zu sagen hatten, ist nicht nur Teil der Staatsopern-Geschichte, sondern hat seinen Platz in der Musikgeschichte. Denn nur von der Tradition ausgehend kann man zu einer heute gültigen Aussage finden! Neben dieser musikalischen Annäherung versuche ich mich den Autoren und der Oper aus unterschiedlichster Richtung zu nähern. Das fängt bei den Quellen an, dem Briefverkehr und reicht bis zu Reflexionen Dritter zu dieser Oper.
Was ich immer wieder spannend finde, ist, welche wechselnden Aspekte eines Werkes mich berühren. Den Rosenkavalier etwa spiele ich seit meinem 17. Lebensjahr, meine ersten Aufführungen durfte ich im Orchestergraben noch unter Karajan erleben – und zunächst war meine Identifikationsfigur der Octavian; im Laufe der Jahre jedoch ist die Marschallin ins Zentrum meiner Zuneigung gerückt, mehr und mehr verstehe ich ihre Monologe und ihre klugen Aussagen zur Zeit und der Vergänglichkeit – es geht inzwischen so weit, dass ich Kollegen im Orchester – die heutigen Octaviane gewissermaßen – darauf hinweise, was für ein einzigartiges und wertvolles Geschenk die Zeit für uns Menschen ist.
Wenn ich nun bei den Proben zur Premiere der Frau ohne Schatten den Orchestergraben betrete, merke ich die Ausnahmesituation schon alleine an der Aufstellung der Instrumente: Nichts ist wie sonst! Glasharmonika, Windmaschine, Tamtams, chinesische Gongs, Donnermaschine, alles Instrumente, die man nur selten in Opern verwendet, stehen dicht nebeneinander. Dass Christian Thielemann die Premiere mit uns einstudiert, ist darüber hinaus eine besondere Freude! Gerade bei einer solchen Oper, die in ihrer Tiefe so weit in unsere Seele reicht, versteht er es, Unvergleichliches aus dem Werk hervorzuholen: als außerordentlich guter Kapellmeister – und das ist ein Ehrentitel – hält er Orchester und Bühne perfekt zusammen und bewegt sich in der Oper mit einer Sicherheit, die man sonst nur selten erlebt. Stets ist unsere Arbeit mit ihm eine Ausnahmesituation – und ein großes Glück für alle Beteiligten.

Über Richard Strauss und die Wiener Philharmoniker bzw. das Wiener Staatsopernorchester ist schon viel gesagt worden. Die besondere wechselseitige Zuneigung, die unser Orchester mit diesem großen Komponisten und Dirigenten (und Direktor) verbunden hat, hat die Klangkultur und -sprache – ich würde sogar sagen: beider Seiten – geprägt. Ich denke nur an die Südamerika-Tournee 1923, die uns zusammengeschweißt hat, aber auch die langen gemeinsamen Jahre (1906 bis 1944!): das war ein Geben und Nehmen voll von gegenseitigem Respekt. Er war ein Komponist, der mit unserem Ton besonders gut umgehen konnte und auch für diesen Klang geschrieben hat – nicht nur die Frau ohne Schatten. So ist es unsere Verantwortung, dieses Erbe auch weiterzutragen: Wenn wir also junge Mitglieder aufnehmen, dann suchen wir bewusst nach Leuten, die ein Ohr für diesen besonderen Ton haben und sich in unseren Klang einbetten können. So wie wir von der Generation vor uns gelernt haben, so versuchen auch wir – bei aller Offenheit für Neues – das Besondere weiterzugeben und es für die kommenden Generationen zu bewahren. Da braucht es gar nicht viele Worte, ja sogar: Müsste man lange erklären, was dieses „besondere Etwas“ ist, dann wäre bereits Feuer am Dach. Denn naturgemäß ist das Unaussprechliche nicht genau zu beschreiben und kann mehr erfühlt, als definiert werden. Und gerade da ist ein in seiner Aussage so faszinierendes und reichhaltiges Werk wie die Frau ohne Schatten ein Musterbeispiel!

Daniel Froschauer


Die Frau ohne Schatten | Richard Strauss
Premiere: 25. Mai 2019
Reprisen: 30. Mai 2019, 2., 6., 10. Juni 2019

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